Donnerstag, 26. Februar 2009

"Eine Reise durch mein Zimmer" oder "Geographisches "

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Das ist mein Zimmer. Eigentlich habe ich es gern, nur der Straßenlärm ist extrem störend. Auf dem Bild sieht man links die Südwand meines Zimmers, auf der auch die Karte Lateinamerikas zu sehen ist. Hier soll die geographische Reise, sie sich vom großen ins kleine bewegt, beginnen.

Lateinamerika


Einwohner/innen: rund 500 Mio (wie EU)
Fläche: ca. 20 Mio km² (immer noch kleiner als ehem. UdSSR mit 22,4 (!!!), aber doppelt so groß wie das geografische Europa)
Bevölkerungsdichte: 25/km² (Kanada: 3, Österreich: 100, Deutschland: 360, Bangladesch: 1100)
Vier Megametropolen über 10 Mio: Mexiko (23 Mio.), Sao Paulo (20 Mio.), Buenos Aires (14 Mio.), Rio (12 Mio.). Bogota und Lima sind mit acht bzw. sieben Mio ante portas.

Die sechs größten Staaten Lateinamerikas sind:

Brasilien (190 Mio. EW / 8,5 Mio. km²)
Mexiko (100 Mio. EW / 2 Mio. km²)
Kolumbien (46 Mio. EW / 1,1 Mio. km²)
Argentinien (40 Mio. EW / 2,8 Mio. km²)
Peru (28 Mio. EW / 1,3 Mio. km²)
Venezuela (27 Mio. / 0,91 Mio. km²)

Wieso hängt hier Lateinamerika und nicht Südamerika? Nun, es handelt sich um eine politische Karte und nicht um eine topographische. Natürlich sind auch politische Karten nicht wertfrei, insofern kann man eigene Einstellungen durch die Wahl der Karte zum Ausdruck bringen. Ich habe mich am Kiosk entschieden die acht Euro in eine Lateinamerikakarte zu investieren, weil ich überzeugt bin, dass ein in ferner Zukunft ein ökonomisches potentes und politisch selbstständiges Lateinamerika nur geeint existieren kann. Alleine sind die Staaten zu schwach und die Wirtschaftsräume zu klein, um in der Weltwirtschaft souveräne Player zu werden. Gleichzeitig wünsche ich Mexiko, das mit 100 Mio. Einwohner/innen zweitgrößte Land von LA, natürlich zu LA und nicht zu Nordamerika. Auch wenn es unrealistisch ist hoffe ich, dass sich dieser Staat eines Tages aus der Umklammerung der USA befreit und sich in ein politisches geeintes Lateinamerika einreiht. Nicht wenig von dem bisher geschriebenen erinnert an die europäische Einigung, Mexiko ist bei diesem Vergleich ein bisschen das Vereinigte Königreich Lateinamerikas.

Einen gemeinsamen Wirtschaftsraum der laut Vertragstext auch zur politischen Integration beitragen soll gibt es bereits seit 1991, es handelt sich um den „Mercado Común del Sur“ kurz Mercosur. Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela sind die bisherigen Vollmitglieder. Die meisten anderen Staaten Südamerikas sind assoziierte Mitglieder. Mit Mexiko laufen derzeit Verhandlungen über eine Assoziierung. Mexiko ist gemeinsam mit den USA und Kanada seit 1994 Mitglied der North American Free Trade Agreement (NFTA).

Argentinien


Gegenüber der Südwand meines Zimmers befindet sich nahe liegender weise die Nordwand. Auf dieser ist das Schmuckstück meiner Kartensammlung zu finden: Eine Argentinienkarte aus den 1950er-Jahren, die ich auf einem Trödlermarkt in San Telmo erstanden habe. Im Fordergrund lugt meine Mitbewohnerin, die Geographiestudentin Anastasia interessiert auf das Prachtstück. Anastasia ist Russlanddeutsche, die in der UdSSR und in Kasachstan gelebt hat und schließlich mit ihrer Familie nach Rheinland Pfalz (!) ausgewandert ist. Sie ist 174 cm groß und damit wird klar, wie riesig die Karte ist.

Über die Eckdaten zu Argentinien habe ich in diesem Artikel und in jenem vom 2. Februar schon einiges geschrieben. Interessant ist vielleicht nochmals auf den Kontrast der gewaltigen Fläche von 2,8 Mio. km² bei nur 40 Mio. Einwohner/innen hinzuweisen. Zum Vergleich, in der EU leben auf einer Fläche in einer ähnlichen Liga (4,3 Mio. km²) eine halbe Milliarde Menschen. Argentinien grenzt an Chile, Bolivien, Paraguay, Brasilien sowie Uruguay und hat wegen Chiles etwas exzentrischer Form keinen Zugang zum Pazifik. Etwas trotzig ist das offizielle Argentinien nach wie vor der Auffassung, die „Islas Malvinas“ seien argentinisches Territorium. Den uns bekannten Begriff „Falkland Islands“ verwenden sie nicht.

Von den zehn größten Städten Argentiniens gehören nicht weniger als fünf zu Gran Buenos Aires. Darüber hinaus befinden sich noch zwei weitere in der Provinz Buenos Aires. Mit Vororten eingerechnet gibt es zwei weitere Millionenstädte in anderen Provinzen, das sind Cordoba (1,4 Mio.) und Rosario (1,2 Mio.).

Zwischen der Südwand und der Nordwand befindet sich die Westwand. Auf dieser ist einerseits folgendes zu sehen:



Diese Maschine heißt Ventilator. In Ländern in denen es wirklich einen Sommer gibt (und er nicht nur in verzweifelten deutschen „Gute-Laune Liedern“ besungen wird), braucht man so was manchmal. Neben dem Ventilator hängt an der Westwand eine Karte von der Provinz Buenos Aires. Zur Erinnerung an die Wenigen, die aus dem Artikel vom 2. Feber nicht mehr stehgreif rezitieren können: Die Capital Federal, als die eigentliche Stadt Buenos Aires (rund 3 Mio. Einwohner/innen) ist nicht Teil der Provinz Buenos Aires.

Provinz Buenos Aires


Hauptstadt: La Plata (ca. 730.000 Einwohner/innen. La Plata gehört nicht zu Gran Buenos Aires, ist aber nur rund 60 km. von der Capital Federal entfernt. Es ist somit ein bissl das St. Pölten Argentiniens)
Einwohner/innen: rund 14 Mio. (eindeutig größte von 24 Provinzen, umfasst rund 1/3 der Bevölkerung Argentiniens)
Fläche: 300.000 km² (knapp größte von 24 Provinzen, das entspricht übrigens ziemlich genau der Fläche von Polen)
Bevölkerungsdichte: 45/km²

Letztes Wochenende hatte ich das Vergnügen nach vier Wochen erstmals aus der Stadt hinaus zu kommen und nach „Mar del Sur“ zu fahren, einem Dorf in der Provinz Buenos Aires, rund eine Autostunde von Mar del Plata entfernt. Mar del Plata ist wiederum das Bibione Argentiniens, und Perons umgesetztes Ziel, einen Urlaubsort für die Arbeiterschaft zu kreieren. Da Buenos Aires nicht am Meer sondern 300 km. entfernt am verschmutzen Rio de la Plata liegt, war die Schaffung einer Tourismusmetropole an der unweiten Atlantikküste ein nahe liegendes Vorhaben. Vor allem im Jänner dürfte in dieser relativ großen Stadt (630.000 Einwohner/innen) tagsüber am Strand und nachts in den Bars und Diskotheken die Hölle los sein.




Aber zurück zu Mar del Sur, wo weniger die Hölle los ist sondern vielmehr die ewige Ruhe beheimatet scheint. Diese kleine Siedlung für Großstadtmenschen liegt 500 km von Buenos Aires entfernt an der Atlantikküste. Die Busreise dauert 6,5 Stunden und während einer Nachtfahrt kann man recht bequem schlafen. Auf diesen 500 km gibt es nur flaches Land und Kühe, Kühe und Kühe. Es erinnert ein bissl an Holland, nur x Mal größer. Mit 30 Mio. Kühen gibt es auch für fast jede/n Argentinier/in eine eigene Kuh und da die Mensche hier doppelt so viel Fleisch essen wie die US-Bürger/innen, werden auch viele Kühe benötigt. Ein paar Abbildungen von dem schönen und ruhigen Strand sind auf den Fotos zu sehen. Allerdings ist der offene Atlantik ein anderes Kaliber als das Mittelmeer und am zweiten Tag als ich dort war ist ein Fischer von einer großen Welle mitgerissen worden und ertrunken. Meine Begeisterung für die tollen Wellen ist nach diesem Schock in ziemliche Vorsicht umgekippt.




Hier, tausende km. von Europa und hunderte km. von meinem Exil-Wohnsitz, konnte meine wahre, zutiefst infantile Persönlichkeit ohne jeden Genierer an die Oberfläche kommen. Daher habe ich mir auch Freund/innen gesucht, die dem Niveau meiner bisher kaschierten wahrhaftigen emotionalen Entwicklung entsprechen. Wir teilen in der Tat ähnliche Interessen (auf Felsen klettern, Fangen spielen, Süßigkeiten essen, über Disneyfilme reden), folglich konnten wir uns so manche nachmittägliche Stunde lang wunderbar unterhalten. Meine beiden Altergnoss/innen der geistigen Reife werden heuer sieben und sind Zwillinge. Sie heißen Jasmin bzw. Bauti und sind auf den obigen Fotos abgebildet.

Gran Buenos Aires


Springt man von der Westwand meines Zimmers zurück an die Südwand, sticht einen Meter neben der bereits bekannten LA-Karte die Karte von Gran Buenos Aires ins Auge. Diese ist nicht genordet, oben ist Westen, Norden ist rechts. Über Gran Buenos Aires habe ich, wie die/der aufmerksame Leser/in natürlich weiß, am 2. Feber ausführlich berichtet und bitte etwas gedächtnisschwache Freunde dieses BLOGS bei Interesse den entsprechenden Artikel anzusehen.

Capital Federal


Auf der benachbarten Ostseite des Zimmers befindet sich eine Stadtkarte der Capital Federal, also der eigentlichen Stadt Buenos Aires. Von dieser habe ich nach fast fünf Wochen noch immer nur einen relativ kleinen Teil gesehen. Wie jede/r Einwohner/in einer Großstadt kenne ich die meisten Touristenattraktionen gar nicht. Da ich aber einige ambitionierte Portenos in meinem Alter (Portenos nennen sich die Einwohner/innen von BA) kennen gelernt habe, die mir schon einiges gezeigt haben und noch mehr zeigen wollen, wird sich irgendwann ein Stadtviertelreport nicht vermeiden lassen.

Gegenüber der Ostseite kann man nochmals die Westseite erspähen, die auf einen kleinen Balkon führt. Der Blick von demselben ist sehr nett und wäre unten eine ruhige Fußgängerzone statt der Avenida Urquiza, ich würde nie wieder wegziehen.

Mittwoch, 18. Februar 2009

Die Arbeit im CAINA (Teil 1)

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Der folgende Text ist eine Zusammenstückelung von eigenen Erfahrungen, sowie von Hintergrundinformationen aus der Fachliteratur. Die Bücher von Jürgen Sand: „Soziale Arbeit mit Straßenkindern“ (Frankfurt 2001) und von Reiner Engelmann: „Straßenkinder im Dschungel der Großstädte“ (München 2002) beantworten viele offene Fragen und ermöglichen eine Kontextualisieurng meines Projekts. Die Passagen die nicht auf eigene Erfahrungen zurückzuführen sind, werden explizit als solche gekennzeichnet.

Der Eingang ins Caina

Am Montag den 2. Februar 2009 begann mein Auslandszivildienst im Centro de Atención Integral de la Niñez y Adolescencia (kurz CAINA: http://www.chicosdelacalle.org). Das CAINA ist ein Tagesheim für Straßenkinder, auf Spanisch „chicos de la calle“. Abends leben die Kinder auf der Straße oder bei Freund/innen. Natürlich gibt es auch rund um den Begriff Straßenkinder eine Debatte, wie Jürgen Sand in seinem Buch beschreibt. Die Diktion Straßenkinder wird in der Literatur als abwertend betrachtet, Unicef bevorzugt eine Unterscheidung in „Kinder der Straße“ (Kids leben auf Straße, Kontakt mit Eltern ist weitgehend abgebrochen) und „Kinder auf der Straße“ (Kids leben größtenteils auf der Straße, haben noch Kontakt mit Eltern). Im CAINA bezeichnen sich die Kinder jedenfalls selbst als „chicos de la calle,“ weshalb ich auch keinen anderen Begriff verwende.

Reiner Engelmann führt eine Unicef-Schätzung an, der gemäß 70 Prozent aller Straßenkinder „Kinder der Straße“ seien, also noch regelmäßig Kontakt zu den Eltern hätten. Unicef geht überdies von 100 Mio. Straßenkindern weltweit aus, in Lateinamerika seien es rund 40 Millionen. Für die Capital Federal Buenos Aires (rund 3 Mio. Einwohner/innen) führt Engelmann Schätzungen von Hilfsorganisationen an, den gemäß sich die Anzahl der Straßenkinder auf rund 5.000 beläuft.

Das CAINA befindet sich am Rande des Stadtzentrums, noch im teilweise künstlerisch und touristisch geprägten Bezirk San Telmo aber unmittelbar an der Grenze zum sehr armen Bezirk La Boca. Der wichtigste Fußballclub Argentiniens „Boca Juniors“, ist im armen La Boca beheimatet. Ihr größter Rivale ist „River Plate“, ein Club aus dem eher wohlhabenden Stadtteil Nunez. Gemäß dem damaligen Dialekt der hauptsächlich aus dem Hafen Genua kommenden Einwohner/innen von La Boca nennen sich die Fans heute noch "Xeneizes", was schlicht Genuesen bedeutet. Mir wurde gesagt, die Stadtteile in der Westzone von Gran Buenos Aires (also außerhalb der Capital Federal) seien Orte wo massenhafte Armut wesentlich konzentrierter anzutreffen sei als in La Boca. Nichtsdestotrotz sind die Blocks entlang der Avendia Paseo Colon an der sich auch das CAINA befindet sehr heruntergekommen und haben teilweise Slumcharakter. Es gibt aber auch einen winzigen touristisch völlig überlaufenen Altstadtkern in La Boca. Er ist wirklich entzückend. Auf den folgenden Fotos kann erahnt werden, wie sie Gegend aussieht. Die Errichtung der unten abgebildeten eigentlich recht bunten „Muro de la Boca“ wurde von Stadtverwaltung explizit unterstützt, um die dahinter liegende Armut zu verbergen.

Slums (Grenze San Telmo/La Boca)


Erwachsener Obdachloser in La Boca

Muro de La Boca

La Boca für Touristen

Das CAINA ist eine Einrichtung der Stadt Buenos Aires. Seit ich hier bin kamen zwischen 22 und 64 Kinder pro Tag, insgesamt waren sicher weit über 100 verschiedene Kinder hier. Niemand weiß, wovon die Regelmäßigkeit ihres Erscheinens abhängt, klar ist nur, dass im Winter wesentlich mehr Kids kommen als um diese Jahreszeit. Da viele Teenagermütter das CAINA mit ihren Kindern besuchen, sind die „Klient/innen“ zwischen Null und 18 Jahre alt. Ab 18 dürfen sie nicht mehr kommen. Einige Baby sind wirklich erst ganz wenige Wochen alt.

Ins CAINA kommen wesentlich mehr Burschen als Mädchen, heute waren von 38 Kindern nur 7 Mädchen, ich schätze die Anzahl der Burschen auf mindestens 85 Prozent. Auch Jürgen Sand bestätigt, dass auf der Straße viel mehr Burschen als Mädchen leben und vor allem viel mehr kleine Buben. Mädchen hätten eine wesentliche höhere Frustrationstoleranz und akzeptierten gewaltsame Familienverhältnisse viel länger. Sie kämen erst mit 11-13 auf die Straße, so Sand.

Die Kinder haben im CAINA die Möglichkeit sich zu duschen und ihre aktuelle Kleidung gegen sauberes Gewand einzutauschen. Darum zirkuliert das Gewand ständig unter den Kindern, was ihre Wiedererkennung nicht gerade vereinfacht. Des weiteren gibt es von 9:00 bis 10:30 Frühstück, danach einen Freizeitblock, gegen 12:00 ein Mittagessen und nachmittags Workshops. Das CAINA verfügt über einen Indoorfußballplatz, wo nach Belieben auch Basketball oder Volleyball gespielt werden kann, sowie über zwei Wuzler, einen Tischtennistisch und jede Menge Gesellschaftsspiele. Außerdem gibt es einen kleinen Raum der Dank Beamer als Kino verwendet wird, sowie Schulräume für die Workshops.

Im CAINA arbeiten zu meiner großen Überraschung rund 30 Leute. Etwa 15 Sozialarbeiter/innen, vier Leute im Büro, drei Leute in der Gewandausgabe und der Reinigung, ein Hausmeister, vier Damen in der Küche, mein Zivildienstkollege Paul Gründorfer und ich. Das Verhältnis von Angestellten und Kindern hat mir als chronischem Optimierer des Ressourceneinsatzes erst einmal einen ordentlichen Schock verpasst. Allerdings habe ich in den ersten Wochen die Vorbereitungsliteratur noch mal gelesen, was mir in vielen Situationen weiterhilft. So beschreibt Jürgen Sand den Personalschlüssel in vier bolivianischen Sozialprojekten. Das Betreuungsverhältnis lag bei Projekten wo nur mit Frauen gearbeitet wird bei 1:2 (!), bei Projekten mit männlichen Kids bei 1:4. Das bedeutet in einem bolivianischen Projekt für Burschen, in dem täglich im Schnitt 28 Kids kommen gibt es 7 Betreuer. Diese Zahlen bezogen sich aber nur auf das Verhältnis von Sozialarbeiter/innen zu Kindern. Unsere Sozialarbeiter/innen sind für jeweils fünf bis zehn Kids verantwortlich, die mehr oder weniger regelmäßig kommen. Neben der Beschäftigung mit den Kindern im CAINA machen sie noch Behördenwege (Gericht, Polizei, Gefängnis, Meldebehörde etc.), kümmern sich um die Gesundheitsversorgung und stehen in Kontakt mit den Familien. Faktum ist, dass Sozialarbeit extrem personalintensiv ist zur Versorgung und Beschäftigung der Kinder (Sozialarbeiter plus Küche, Administration etc.) offenbar beinahe ein Verhältnis von 2:1 bis 3:1 üblich ist.

Aufgaben eines Auslandsdieners

Für einen Auslandszivildiener beginnt der Dienst um 8:00. Wenn man um diese Zeit ins CAINA kommt schlafen einige Kids noch vor der Türe. Einige wählen den Gehsteig vor dem CAINA als Schlafplatz, unmittelbar neben der sechsspurigen Avenida Paseo Colon. Andere wohnen im nahe gelegenen Parque Lezama.

Parque Lezama

Quartier im Parque Lezama, wahrscheinlich von unseren Kids

Die Haupttätigkeiten der Auslandszivildiener sind das Frühstück und die Mithilfe bei der Vorbereitung des Mittagessens. Ab 8:00 müssen die Tische zurecht gestellt werden und massenhaft Kakao, Tee und ähnliches am Fließband produziert werden. Da die Kids keine Messer verwenden dürfen müssen Butter und Käse in kleine Portionen zerteilt in Schüsselchen gelegt werden. Die Plastiksackerl in denen das Jogurt geliefert wird müssen stets zerschnitten werden, damit die Kinder diese danach nicht als Behälter für Klebstoff verwenden können.



Die Kinder essen süß, viel, süß, fett und ähhh süß! In einen Becher Tee passen leicht drei gehäufte Esslöffel Zucker, Kakaopulver und Milch werden schon fast im Verhältnis 1:1 abgemischt. Die Kids kommen zu den zwei Fenstern und brüllen ihre Wünsche im Befehlston in den Raum, manche sind etwas höflicher. Ist man nicht schnell genug, beginnen sie selbst zu fuhrwerken, sofern sie groß genug sind um mit den Armen über das Küchenfenster hereinlangen zu können. Ob es am Tisch noch Butter gibt interessiert nicht, die Kids wollen hier und jetzt am Fenster welche.



Nicht nur bei den Köchinnen, auch bei den Kids heißt mein Liebling Maria

Paul und ich, stets höflich, freundlich und guter Laune bei der Essensausgabe

In Österreich staunt man immer über meinen Butterverzehr, hier staune ich über den Butterverzehr der Zehnjährigen. Weniger erstaunlich ist hingegen die Hyperaktivität die dieses Frühstück bei seinen Konsument/innen auslöst. Zum Glück gibt es den Fußballplatz, wo spätestens nach der zweiten Dosis Kakaokonzentrat die Post abgeht. Ab 10:30 gibt es kein Frühstück mehr. Es gibt aber Ausnahmen. Jedes Kind das nach 10:30 kommt, ist eine Ausnahme. Diese Kids werden insofern „bestraft“, als sie nicht mit den anderen ein großes Frühstück teilen müssen, sondern ein eigen zubereitetes Mal bekommen.

Die Köchinnen

Neo-Chefköchin Maria wetzt die Messer. Kürzlich kam die etwas mürrische Ex-Chefköchin Carmen unter selbiges, sie wurde nach 12 Jahren Küche in die Gewandabteilung versetzt.

Abwasch

Paul und ich haben noch mehr Spaß bei der Arbeit als die fröhlichen werktätigen Genoss/innen in Kuba

Insofern fällt nach 10:30 auch noch jede Menge Geschirr an, das Paul und ich mit Eifer, Liebe und Fröhlichkeit abräumen und abwaschen. Die Köchinnen feuern uns dabei an oder reißen ihre Witzchen. Die Auslandszivildiener, die eher unter chronischem Schlafmangel leiden sind weniger hyperaktiv als die Kids (zu Abend gegessen wird in diesem Land um 23:00, Eingeschlafen wird gegen 2:00, wir müssen aber gegen 7:00 aufstehen). Je nach Tempo und Geschirrmenge brauchen wir bis zu einer Stunde, ab ca. 11:00 können wir uns mit den Kindern auf spielerische Weise beschäftigen, zwischendurch sind wir aber für deren Versorgung mit kaltem Wasser zuständig. Das ist zur Verdüngung der zuvor konsumierten Zuckerrohrplantagen auch dringend notwendig, auch wenn in der Hitze des Fußballgefechts bereits etliches an Energie verbrannt wurde.

Tischfußball ist fast so beliebt wir Fußball

Am Nachmittag finden für alle interessierten Kinder Workshops statt, deren Ziel das spielerische Lernen ist. Mit stark verbesserten Spanischkenntnissen sollte es für mich in einigen Monaten möglich sein die Workshops die ich derzeit nur als Musterteilnehmer besuche auch selbst zu halten.

Fußball

Es gibt verschiedene Möglichkeiten die Kinder zu unterhalten, ich habe bis jetzt meist Fußball ausgewählt. Am ersten Tag hatte nach kürzester Zeit einen halben Zusammenbruch, der sich in Form eines 30-minütigen Schweißausbruches äußerte. Mir wurde klar, dass die Kondition der Kleinen die meine etwa um das dreifache übertrifft. Außerdem konnte nur ein 120-prozentiger Körpereinsatz meine extremen technischen Defizite zumindest behelfsmäßig verdecken und eine absolute Blamage beim Debüt teilweise verhindern. Die technische Überlegenheit der Kids spielt sich im Bereich 1:7 bis 1:8 ab. Als ich in den Folgetagen bei meinen weiteren Gehversuchen in der beinharten Fußballhalle etwas weniger Körpereinsatz zeigte, sank meine Verwendbarkeit auf den vorletzten Platz ab. Die Teamwahlen gegeben regelmäßig die ungewollte Gewissheit, wo man in der Fußballhierarchie gerade steht. Unter mir war zuletzt nur noch Paul, mein Auslandsdienstkollege aus Wien. Er spielt eigentlich etwas besser als ich, aber die Neugier auf den Neuen hat mir glaube ich einen Platz gerettet. Erst in den allerletzten Tagen habe ich minimale technische Verbesserungen festgestellt. Ein Fußballmatch bedeutet, jetzt wo es täglich stattfindet, auch nicht mehr automatisch Muskelkater. Trotzdem spielen mich die Elfjährigen immer wieder mit einer besonderen Eleganz aus. Manche sind wirklich verdammt gut. Die Pausengespräche zwischen mir und noch zierlicheren verschwitzen „Männerkörpern“ sind sehr vertrauensvoll und die Kinder zeigen ihre Narben, erzählen mir wo sie geschlafen haben oder welche Drogen die gestern konsumiert haben.

Beim Fußball wird diese kollektivistisch-familiäre Gesellschaft zu einer Ansammlung egomanischer Einzelgänger. Tolle Kombinationen werden nur selten mit Applaus belohnt, für wirkliche Begeisterung sorgen nur spektakuläre Solos. Diese werden von beiden Mannschaften fair beklascht. Ein Pass ist etwas für eine Notsituation (Rücken zur Wand und drei Gegner). Meine Hinweise, dass wir ja eigentlich zusammen spielen könnten, werden völlig ignoriert. Hinweise sollte man wahrscheinlich nur geben wann man selbst etwas kann. Verteidigung gibt es keine, braucht es aber auch nicht wirklich, weil ohnehin ununterbrochen alle versuchen anzugreifen und Angriff somit die beste Verteidigung ist. Ein Schuss aufs Tor wird von allen Distanzen gewagt, so lange es sich irgendwie rechtfertigen lässt. Es lässt sich aber erstaunlicherweise alles rechtfertigen. Ein völlig verpatzter Versuch des Tormanns den Ausschuss zu einem Torschuss zu machen, stört niemanden. Die Rolle des Tormanns wird nur widerwillig und kurzfristig übernommen. Am liebsten wird sie den Österreichern zugewiesen.

Mein Eindruck von der Arbeit

Drei Dinge haben mich zu Beginn etwas erschreckt. Die große Anzahl an Mitarbeiter/innen für relativ wenige Kinder. Die totale Disziplinlosigkeit der Kinder. Die enormen Mengen an nicht gegessenen Lebensmitteln, die dann einfach weggeschmissen werden. Die Mitarbeitermenge kann ich mir mit Hilfe der Literatur irgendwie erklären, bin aber noch kritisch ob das vor Ort nicht doch eine Überbesetzung ist. An die Disziplinlosigkeit der Kinder habe ich mich schon fast gewöhnt. Kids die zu forsch sind sanktioniere ich mit Langsamkeit. Die Lebensmittelverschwendung hat sich schon verbessert, nachdem ich in der ersten Woche bei einem Gespräch vorgeschlagen hatte, dass die Kids nur noch jene Dinge bekommen die am Tisch bereits ausgegangen sind.

Mit meiner Arbeit und meiner Rolle bin ich zufrieden. Sehr angenehm ist der Umstand, dass Paul und ich als Küchenhilfspersonal eine Tageshälfte klar zugeteilte Aufgaben haben, die Gestaltung der anderen Tageshälfte aber frei wählen können. Außerdem sind wir als Nicht-Sozialarbeiter auch nicht direkt für die Kids verantwortlich, wodurch wir uns das Schulmeistern ersparen. Grenzen müssen wir nur ziehen, wenn die unseren verletzt werden. Da wir eben zwischen Küchenpersonal und Sozialarbeiter/innen stehen, haben die Kids ein freundschaftliches Verhältnis zu uns und erzählen uns auch Dinge, über die die Sozialarbeiter/innen nicht Bescheid wissen. Das betrifft vor allem Paul, der schon länger da ist und weiß welche Kinder ihr Alter nach untern schummeln, um noch länger das CAINA besuchen zu können.

Anarquistas amables

Wie alle Menschen in Argentinien ist auch der Großteil der Straßenkinder meistens liebenswürdig und interessiert. Alle wollen natürlich wissen von wo ich komme und wie lange ich bleibe. Jede Bitte langsamer oder klarer zu sprechen wird ignoriert. Die Kinder sind extrem witzig, auch wenn ich nur jeden fünften Witz verstehe, ihre Schlagfertigkeit und ihr Humor sind erstaunlich. Auch Sand und Engelmann bestätigen, dass Straßenkinder immer einen Witz parat haben. Sie sind unhöflich aber freundlich, laut aber nicht ungut unaufmerksam aber interessiert. Die Burschen flirteln durch das Küchenfenster mit einer in Österreich undenkbar unverschämten Sicherheit die Köchinnen an. Soweit ich das beurteilen kann, bleiben sie dabei charmant. Sie sind sehr undiszipliniert und manchmal werden sie aggressiv. Andererseits sind sie wieder sehr solidarisch und einfühlsam. Die Solidarität zwischen Straßenkindern wird von allen Interviewpartnern von Jürgen Sand explizit hervorgehoben, auch in Engelmanns Bericht über Einzelschicksale werden die enge Freundschaft und die daraus resultierende gegenseitige Hilfsbereitschaft betont. Ich würde das Sozialverhalten der Kids als freundlich-anrachistisch bezeichnen. Sie sind „Anarquistas amables“.

Sonntag, 8. Februar 2009

Die Menschen





„Ethnien“

Buenos Aires ist weiß. Die Menschen schauen so europäisch aus wie keiner Stadt Westeuropas. Wien ist dagegen Multikulti, von London ganz zu schweigen. Natürlich spreche ich von meinem Buenos Aires, das sich eher in den zentralen Bezirken abspielt. Ich wäre mit meiner Behauptung natürlich vorsichtiger, wenn ich nicht jeden Tag an meinem Arbeitsplatz 30 bis 60 Straßenkinder aus verschiedensten Teilen der Stadt sehen würde, die großteils weiß sind. Einge haben einen entfernten Indioeinschlag, kaum eines dieser Kids würde aber in Andalusien auffallen. Außer vielleicht wegen der Narben und den verschmutzten Händen. Auch alle 15 Sozialarbeiter/innen sind europäischer Abstammung. Im CAINA (meinem Straßenkindertagesheim) gibt es beim Personal nur eine – im übrigen UNFASSABAR sympathische – Person mit einem Indio-Einschlag. Es ist Maria, eine von drei Damen die in der Küche arbeitet und vor 20 Jahren aus Paraguay zugewandert ist. Sie schaut aus, wie man sich eine Lateinamerikanerin eigentlich vorstellt. Nach offiziellen Statistiken bezeichnen sich 90% der Argentinier/innen als Weiße, wobei angenommen wird, dass sich viele Mestizen wegen des verbreiten Rassismus den Weißen zuordnen. Carmen, die blonde Kollegen von Maria ist beispielsweise der Meinung, die Argentinier/innen seien schon ganz verunreinigten Blutes und nur in Europa würde man noch echte Weiße treffen. Nun, Carmen dürfte in London und Paris wohl eines besseren belehrt werden.

Für Buenos Aires kann ich sagen, dass die Menschen 1:1 aussehen wie in einer südeuropäischen Stadt mit dem einzigen Unterschied, dass die Anzahl an Migrant/innen kleiner ist als in Europa. Es gibt in den weniger zentralen Bezirken Zugewanderte aus den umliegenden Staaten sowie kleine asiatische Viertel in manchen Stadtteilen. In einem U-Bahn Abteil das gesteckt voll ist, sieht man jedoch vielleicht zwei bis drei Mestizen und nur ganz selten Schwarze. Daher kursiert auch folgender Witz in Lateinamerika:

Los mexicanos descienden de los aztecas, los peruanos de los incas, y los argentinos....de los barcos.

Die Mexikaner stammen von den Azteken, die Peruaner von den Inka und die Argentinier ….von den Schiffen.

Vor allem im Gegensatz zu Rio de Janero fällt auf, dass es fast keine Schwarzen gibt, obwohl etliche schwarze Sklaven auch in Argentinien eingesetzt wurden. Zwei Theorien sind mir dazu bis dato bekannt: Die Schwarzen wären im „Tripel Allianz Krieg“ (1864-1870), als Argentinien, Brasilien und Uruguay gegen die damalige regionale Großmacht Paraguay (!) kämpften umgekommen. Als Soldaten der niedrigsten Ränge seien sie in diesem laut Wikipedia blutigsten Gemetzel in der lateinamerikanischen Geschichte (zwei Millionen Tote) als Kanonenfutter verheizt worden. Das ist nicht ganz unplausibel. Eine andere Theorie besagt, die Schwarzen seien fast geschlossen ausgewandert und hätten sich in Uruguay angesiedelt. Faktum ist, dass die Mehrheit der Schwarzen die man heute auf der Straße sieht erst in den letzten Jahren aus Westafrika zugewandert ist.

Hingegen gibt es Massen an Menschen mit südeuropäischen Vorfahren. Laut Wikipedia 36% mit italienischen und 29% mit spanischen Wurzeln. Natürlich frage ich jede Person wo die Großeltern herkommen, vorher rate ich aber für mich. Da die Mehrheit der Menschen die ich bis jetzt getroffen habe vier Großeltern aus einem Land hat (auch ein interessantes Detail), entscheide ich immer zwischen Italien und Spanien. Meistens liege ich richtig, manchmal kommt aber eine Seite aus Italien und eine aus Spanien, ganz selten sind Großeltern aus anderen europäischen Ländern dabei und überhaupt erst bei einer Person wurden alle vier Großeltern in Argentinien geboren. Ein kurzer Überblick über die Entwicklung der Bevölkerung macht klar was ich meine. Vor dem 1. Weltkrieg lebte nur rund ein Viertel der heutigen Bevölkerung in Argentinien:

1869: 1,9 Millionen
1914: 8 Millionen
1947: 16 Millionen
1970: 23 Millionen
2001: 36 Millionen
Heute: rund 40 Millionen

Besonders witzig ist der Umstand, dass mir de facto alle Leute die ich nach der Herkunft ihrer Vorfahren frage, den Namen eines italienischen Dorfes oder spanischen Kleinstadt nennen. Irgendwie schaffen wir es aber gemeinsam die Region zu rekonstruieren. Was ich aus meiner kleinen und nicht-repräsentativen Studie selbst nicht ableiten könnte, weiß ich dafür von meinem Lehrer aus der Spanischschule: Die Menschen aus Spanien werden als „Gallegos“ bezeichnet, weil besonders viele aus der Provinz Galizien kamen. Die Menschen aus Italien werden als „Tanos“ bezeichnet, was sich von „Napolitanos“ ableitet. Noch heute leben etliche Spanier/innen und Italien/innen in Argentinien was z.b. derzeit dazu führt, dass im Zentrum riesige Wahlplakate der Sozialistischen Partei Galiziens hängen. Dort finden offenbar gerade Regionalwahlen statt und die in Buenos Aires ansässige galizische Bevölkerung wird aufgefordert bei der Botschaft zu wählen. Mir wurde gesagt dass bei den letzten italienischen Wahlen Berlusconi plakatiert wurde.

Die Bevölkerungsdichte

Es ist angeblich sogar für Menschen aus Afrika relativ leicht die Staatsbürgerschaft Argentiniens zu erhalten, weil es offenbar ein erklärtes Ziel der Regierung ist, die Einwohnerzahl zu steigern. Dieses Land hat einfach auch Platz für eine viel größere Bevölkerung. Ein kurzer Vergleich der Einwohnerzahl, der Fläche und der Bevölkerungsdichte macht klar wieso:

EU: 500 mio / 4,3 mio km² / 113 pro km²
USA: 300 mio / 9,8 mio km² / 31 pro km²
Arg: 40 mio / 2,8 mio km² / 14 pro km²

Hätte Argentinien die Bevölkerungsdichte der USA, würden statt 40 Millionen 87 Millionen Menschen hier leben. Hätte es die Bevölkerungsdichte der EU, würden statt 40 Millionen 316 (!) Millionen Menschen hier beheimatet sein. Obwohl ich den „Campo“ (das Land) noch nicht kenne, kann ich mir schon eine Vorstellung über die Distanzen machen. Offenbar hat der amerikanische Kontinent insgesamt noch Platz für hunderte Millionen Menschen.

Mentalität, Identität, Kultur etc.

Es wurde viel Schundluder mit dem Wort Mentalität getrieben, in rassistischen Diskursen oder auf Stammtischen werden vermeintliche Mentalitäten entdeckt, verallgemeinert, gesteigert und verzerrt. Faktum ist, die Menschen hier verhalten sich anders als in Ottakring. Mit welchem Vokabel dieser Unterschied nun bezeichnet wird ist im Prinzip wurscht, jede Flucht in ein neues Wort hat bis jetzt bei keinem Begriff zu einer befriedigenden Lösung geführt. Ein paar Beispiele:

Neger – Schwarze – Farbige – Afroamerikaner – kürzlich wieder Schwarze
Krüppel – Behinderte – Menschen mit Behinderung – Menschen mit besonderen Bedürfnissen
schwer erziehbar – verhaltensauffällig – verhaltensoriginell

Da ich als Kind selbst Teil letzter Gruppe war behaupte ich einmal, dass sich eher die Palette von subtilen und weniger subtilen Beschimpfungsmöglichkeit erhöht hat, als dass die Akzeptanz der betroffenen Gruppe in der Gesellschaft verbessert wurde. Ich glaube man sollte einfach vermeiden die Menschen so zu nennen wie sie es selbst nicht wollen. Alles andere ist dann eher der Versuch einer akademischen Kaschierung eines Umstandes, der gar nicht kaschiert werden müsste. Ich werde den Begriff Mentalität als Synonym für folgenden zu beschreibenden Untersuchungsgegenstand verwenden: Ein Überbegriff für die Summe von Persönlichkeitsmerkmalen und Verhaltensnormen, die eine erkennbare Tendenz in einer spezifischen Gesellschaft bildet. Im Folgenden versuche ich aus meinen bisherigen Eindrücken so etwas wie die Mentalität der Menschen in Argentinien zu beschreiben:

Zu meiner großen Freude hatte ich bis dato ich mit Persönlichkeiten aus allen großen sozialen Schichte zu tun. Mit Leuten aus dem Bürgertum, aus der Arbeiterschicht, aus der verarmten Unterschicht und mit Intellektuellen. Das ist natürlich nur mein Eindruck und es gilt nicht für alle, aber was diesen Menschen tendenziell gemeinsam ist sind Herzlichkeit, Temperament und Interesse am Gegenüber. Freundlichkeit, Liebenswürdigkeit und Charme fallen stärker auf als die Unfreundlichkeit mancher Busfahrer. Die meisten Leute sind im persönlichen Kontakt einfach nett. Besonders auffällig sind eine unkomplizierte Lockerheit und ein im Gegensatz zu Europa extrem unprätentiöses und unaffektiertes Verhalten. Es hat den Anschein als wären die Menschen hier für unsere ganzen kleinen Eitelkeiten einfach zu natürlich und selbstsicher. Emotionen werden gezeigt, man betäschelt sich, ist laut, kindlich, offen und verspielt. Es wird unfassbar viel gescherzt und gelacht, dabei scheint es aber nie ein Opfer zu geben auf dessen Kosten der Humor geht sondern die Person die Zielscheibe der Schmähs ist lacht am meisten.

Mit meinen ohnedies nur rudimentär ausgeprägten Höflichkeitsformen gegenüber „Erwachsenen“ sorge ich eher für Irritation und Heiterkeit. Aufstehen zur Begrüßung, Warten bis alle am Teller haben oder gar bis jemand das Essen eröffnet, die Annahme einer eventuellen Sitzordnung oder Menschen per „Usted“ (Sie) anzusprechen...alles nicht üblich. Gäste sich melden meist nicht an sondern werden freudig empfangen. Jegliche nicht angemeldete Begleitung von angemeldeten Gästen wird als das Selbstverständlichste auf der Welt betrachtet. Egal ob bekannt oder unbekannt. Eine Etikette die die Verhaltensformen zwischen den Menschen ordnet ist gar nicht Teil der Vorstellungswelt. Man wird bereits beim ersten Mal so behandelt, als hätte man immer schon dazugehört.

Natürlich bedeutet das alles weniger Individualität als in Europa. Die Privatsphäre wird sowohl physisch als auch punkto Informationsfluss weniger strickt gehandhabt. Zu Begrüßung werden alle Männer und Frauen per Kuss auf die rechte Wange begrüßt. Man ist sich nicht nur physisch näher (und trotzdem viel lauter!!!), man erzählt sämtlichen Personen was man wann wo wie getrieben hat. Man zeigt seine Gefühle stärker und ist als Individuum viel stärker öffentlich als bei uns. Es gibt Bier fast nur in 1-Liter Flaschen, die entweder weitergereicht oder mit Gläsern wie Wein gemeinsam getrunken werden. Man lebt mehr mit der Familie und spricht mehr über die Familie. Man lädt auch unter Jungen neue Bekannte recht schnell ein die Familie kennen zu lernen (Die Fotos zu diesem Eintrag stammen von einem Samstag mit einer besonders netten Familie). Vor allem ist man laut und hat Spaß.

Was noch auffällt: Es gibt in dieser Gesellschaft viele Kinder. Diese sind um 0:30 in der Nacht genauso selbstverständlich auf der Straße wie um 15:00 Nachmittags. Während die Eltern nachts ein Bier mit Freunden im Straßencafé trinken laufen sie zwischen den Tischen herum. Am Sonntag Abend um 23:30 ist der Schenllzug von den nördlichen Vororten ins Zentrum gesteckt voll mit Familien und unfassbar vielen Kindern. Kinder werden einfach mitgenommen, egal ob man Abends Freunde besucht (gegessen wird ja frühestens um 22:00), oder ob man ausgeht. Auch auf den Straßen und in den Parks gibt es viele Kinder aller Altergruppen. Das hängt natürlich nicht nur mit der Anzahl von Kindern zusammen, sondern auch mit der Temperatur und dem geringeren Wohlstand. Das Bild des öffentlichen Raums wird wesentlich lebhafter durch die große Anzahl an Kindern. Vor allem im Vergleich mit unseren Pensionistenparks.

Die Gastfreundlichkeit, die Hilfsbereitschaft und die Offenheit haben meiner Einschätzung nach noch eine andere Ursache. Da die öffentliche Verwaltung nur zum Teil funktioniert und das Vertrauen in die Institutionen extrem gering ist, sind die Menschen glaube ich stärker auf gegenseitige Kooperation angewiesen. Das soll kein Argument für Kohls Bürgergesellschaft sein, aber die Selbstorganisation der Menschen abseits staatlicher Angebote hat ja in jedem Fall einen emanzipatorischen Kern. Der Hass auf den Staat und seine politische Klasse ist übrigens eine weitere Gemeinsamkeit aller sozialen Schichten. Dazu aber mehr in einem irgendwann folgenden Politikeintrag.

Für diskrete Individualisten die gerne viel alleine sind ist dieses Land und seine Gesellschaft mit Sicherheit eine große Herausforderung. Aber die Liebenswürdigkeit der Menschen versüßt einem in jedem Fall den Einstieg. Bis jetzt hatte ich auf meinen Reisen in keiner europäischen Gesellschaft den Eindruck so herzlich empfangen worden zu sein. Das ist schon beeindruckend.

Zur Begrüßung von Buenos Aires habe ich einen Super-Schlager gefunden: Buenos dias Argentina Der noch recht junge Udo Jürgens heißt Argentinien 1978 willkommen.

Dienstag, 3. Februar 2009

What is Austria?





Ihr internationales Gegenüber kann mit dem Begriff „Austria“ genau Null anfangen? Obwohl sie kein großer Patriot sind ist ihr Nationalbewusstsein, von dessen Existenz sie bis vor kurzem gar nichts wussten, schwer angeschlagen? Die Bedeutungslosigkeit ihrer Herkunft droht auf sie selbst abzufärben? Um schleunigst Abhilfe zu schaffen muss alles was mit Österreich assozierbar ist aus dem Hut gezaubert werden. Mit Zeitgenossen zu punkten sollte man sich aber eher aus dem Kopf schlagen! Hier ein paar Tipps, was den nicht österreichischen Menschen auf dieser Welt eventuell bekannt sein könnte:


1. „Der Einstieg mit den Highlights“ oder „Assoziationen für nicht-intellektuelle ausländische Bekannte“


- Mozart, Strauss, Schubert, Haydn, Bruckner, Mahler erwähnen (in exakt DIESER Reihenfolge!) Zumindest ersterer hat noch immer gezogen
- Auch eine todsichere Bank ist Sigmund Freud. (das anerkennende Nicken des Gegenübers führt zu einer ersten dezenten Erleichterung).
- Vorsummen des Donauwalzers (unbeschwerte Heiterkeit über die vertrauen Töne beim Gegenüber)
- Wenns wirklich sein muss: „Arnold Schwarzenegger“ erwähnen (Achtung, in Muttersprache des Gegenübers aussprechen, sonst unbekannt)
- Ganz raffiniert: Heinrich Harrer: Nie gehört? Aber Sieben Jahe in Tibet haben alle gesehen
- Auf Sissi ist oft Verlass, v.a. bei Damen. Auch Romy Schneider ist älteren Semestern noch ein Begriff.
- Sound of Music ist bei Amis eine sichere Bank, bei anderen Nationen muss man tendenziell schwitzen, eventuell den Begriff „Trapp-Familie“ verwenden.
- Für Leute mit Selbstironie: Natascha Kampusch und Josef Fritzl kennt man fast überall. Sogar auf den Phillipinen…




2. „Die Literaturschiene“ oder „Weltliteratur die die Welt einfach nicht kennen möchte“


- Franz Kafka ist der einzige 100% Treffer bei Menschen mit einem Mindestmaß an literarischem Interesse. Bei eventuellem Widerstand bestehen sie selbstsicher darauf, dass er Prager und Österreicher ist. Im Notfall Konstrukt der Monarchie in drei Sätzen erklären. Argumente die helfen: Böhmen gehörte zur österreichischen Hälfte, Kafka schrieb auf Deutsch und außerdem ist er ja bei Klosterneuburg gestorben…
- Zweig, Roth, Werfel, Schnitzler, Musil, Hofmannsthal etc. sind leider nur expliziten Kennern der deutschsprachigen Literatur bekannt. Auch Karl Kraus ist heute kein Liebling des internationalen Massenpublikums.
- Nestroy und Raimund kennen meist nicht einmal Nachbarn aus der Bundesrepublik. Diesen kann man dafür den Tiroler Walther von der Vogelweise brühwarm servieren, nicht ohne ein wehmütiges Wort über Südtirol zu verlieren versteht sich.
- Canetti können wir zumindest mit Wien assozieren, aber Vorsicht bei Spezialisten die Canettis wechselvollen Lebensweg nachzeichnen können. Faktum ist, die Gedanken zu Masse und Macht kamen Canetti beim Justizpalastbrand im Jahre 1927
- Thomas Bernhard kann manchmal ein Glückstreffer ins Blaue sein (Heldenplatz wird derzeit z.b. in Buenos Aires gespielt), Elfriede Jelinek ist trotz Nobelpreis völlig unbekannt.


3. "Musik und Tanz" traditionell aber verlässlich



- Die Weltstars unter den Komponisten wurden anfangs angeführt. Aber auch Dirigenten bringen es zu Weltruhm, Herbert von Karajan begeistert all jene, die zumindest minimales Interesse an klassicher Musik haben.
- Nicht nur der bereits erwähnte Donauwalzer erfreut das Gegenüber. Auch das Vorsummen der kleinen Nachtmuik, der Geschichten aus dem Wienerwald oder der Königin der Nacht (Achten sie bei der Immitation derselben auf die Grenze der Lächerlichkeit) sind sehr hilfreich.
- Es gibt nur wenige Länder die so etwas wie einen „Nationaltanz“ haben. Tango in Argentinien, Samba in Brasilien, Flamenco in Andalusien und zweifelsfrei Walzer in Österreich. Der Wiener Walzer ist doch sehr vielen Menschen ein Begriff und vor allem in der Tanzwelt ein anerkannter Fixstern am Tanzfirmament. Wer die Schritte ein bissl beherrscht, kann ihn mit musikalischer Unterstützung von Strauss via Youtube und einem/r Freiwilligen sogar vortanzen. Gekonnt oder gestolpert, bleibender Eindruck garantiert.
- Der Tanzball ist international recht bekannt. Leider weiß niemand, dass dieses gesellschaftliche Event an der Donau erfunden wurde und Wien heute noch als Ballhauptstadt gilt. Der Opernball ist - es tut mir leid lieber Baumeister - eine international bedeutungslose Provinzposse. Auch der Life Ball ist außerhalb Österreichs unbekannt.
- "Stille Nacht, heilige Nacht" ist das bekannteste Weihnachtslied der Welt. Posen sie mit Detailwissen: Es wurde 1818 in Oberndorf bei Salzburg komponiert.
- Das Neujahrskonzert kennen doch ein paar, die Philharmoniker zumindest einige wenige. Die Sängerknaben kennen nur Menschen die bereits als Touristen im Land waren und von Österreich dessen Klischees ausfgedrängt bekamen.
- Ob wir auch was Modernes haben? Tja, vorstammeln von „Life is life“ geht recht gut. Falco’s „Rock me Amadeus“ ist hingegen vom Titel her unbekannt und für einen durchschnittlich musikalisch unbegabten Banausen de facto nicht vorsingbar. Wem es nicht zu peinlich ist kann DJ Ötzis "Hey Baby-Cover" vorsingen. Die Nummer war in den UK Charts Nummer 1 und ist sehr bekannt.
- Kenner der elektronischen Musik werden mit Kruder & Dorfmeister etwas anfangen, die waren in den 90ern echte internationale Szenestars.
- Udo Jürgens ist zumindest für Menschen mit deutscher Muttersprache immer noch eine Schlagerikone!




4. „Die Bösewichte“ oder „die Büchse der Pandora“


Wer den österreichischen Opfermythos auch im Ausland zerstören will (kaum jemand ist sich über die Rolle Österreichs im 3. Reich bewusst), der findest leicht Anknüpfungspunkte:

- Vor allem Hitler nicht verschweigen (erstauntes Entsetzen, für Menschen aus OÖ vielleicht besonders unangenehm)
- Wer Interesse verspürt das Entsetzen zu steigern, oder das Bedürfnis hat die österreichische Mitschuld zu personalisieren, möge Amon Göth, den KZ-Herrn aus Schindlers Liste erwähnen. Diesen haben manche in schauriger Erinnerung. Danach wird niemand mehr an Österreichs Mittäterschaft in Wehrmacht und SS zweifeln.
- Wer Österreich überhaupt als das Übel des 20. Jh. darstellen möchte, kann noch auf die Kriegserklärung an Serbien und den 1. Weltkrieg verweisen. ...Wir haben den ersten begonnen, den zweiten hat ein Österreicher... vielleicht sind wir wirklich das Übel des 20. Jh.??? Also Vorsicht mit diesen Gedankenspielen, denn eigentlich sollten die angeführten Hilfestellungen dazu dienen unser Selbstbewusst zu steigern
- Viel gscheiter ist daher in alter österreichischer Manier von Hitler und Co. schnell abzulenken und als Ausgleich für diese vorangegangene Ehrlichkeit Beethoven zu vereinnahmen: Zur Erinnerung: Er lebte seit seinem 22. Lebensjahr in Wien und gehört eigentlich zur Wiener Klassik...


5. „Historische Persönlichkeiten“, die Massen sind es nicht...


- Marie Antoinette: sichere Abhilfe v.a. gegenüber Menschen aus Frankreich
- Theodor Herzl: kann bei Menschen denen seine historische Bedeutung klar ist großen Eindruck hinterlassen
- Bei historisch interessierten können Maria Theresia, Fürst Metternich und der Wiener Kongress helfen. Kaiser Franz Joseph hat hingegen im Ausland wenig Eindruck hinterlassen.
- Die Fahne der „Bertha von Suttner“ kann man stolz aber leider nur vergebens hochhalten.


6. „Kunst, Wissenschaft und Weltanschauung“, ein solider Fundus


- Gegenüber Kunstinteressierten: Schiele & Klimt erwähnen (Reaktion: helle Freude), bei weniger traditionellen Kunstinteressierten kann man mit dem Wiener Aktionsmus beeindrucken
- Gegenüber Studierenden von Geisteswissenschaften oder gar der Philosophie: Wiener Kreis, Wittgenstein und Popper (große Ehrfurcht)
- Gestandene Marxisten können selbstverständlich mit der Austro-Erscheinung desselben etwas anfangen. Politisch interessierte ohne starke marxistische Affinität ist hingegen selbst das 34er-Jahr meist unbekannt.
- Ökonomen die noch nicht total vermathematisiert sind, kann man leicht beeindrucken: Schumpeter, Hayek, Menger, Mieses, Böhm-Bawerk. Nicht-Ökonomen können mit diesen Namen mit Sicherheit nichts anfangen.
- Erwin Schrödinger und Ernst Mach können bei Naturwissenschaftern zum Erfolg führen, auch den fast echten Linzer Johannes Keppler darf man von den Schwaben ausborgen.
- Menschen die mit Mathematik zu tun haben kann Kurt Gödel ein Begriff sein.
- Nicht nur bei Biologen können Konrad Lorenz und Gregor Mendel behilflich sein.
- Billy Wilder ist Filmkennern ein Begriff
- Die Romanze "Before Sunrise" (1995) ist ein amerikanischer Film der in Wien spielt und nicht zuletzt wegen seiner etwas verklärenden Darstellung der Stadt bei einigen Menschen sehr positive Assoziation zu Wien hinterlassen hat.


7. "Unternehmen" - der Tipp für Menschen aus Osteuropa


- In Osteuropa sind fast alle größeren österreichischen Unternehmen ein Begriff, im Rest der Welt kennt man - außer Red Bull und Swarovski - kein einziges. Wer in den letzten Jahren durch Mittel- und Süosteuropa gereist ist wird festgestellt haben, dass zumindest ökonomisch die Rekonstruktion der Donaumonarchie voll im Gange ist. In Slowenien, Kroatien, Ungarn, Tschechien, Rumänien braucht man sich bezüglich der Bekanntheit der Alpenrepublik keine Sorgen machen. Dort kennt man Österreich nicht für seinen kürzlich patentierten (!) Charme, sondern für seinen konsequenten wirtschaftlichen Regional-Imperialismus. OMV, Strabag, Raiffeisen, Erste Bank, Wiener Städtische, BauMax oder Humanic sind in vielen Staaten sogar Marktführer.
- Red Bull kann weltweit wirklich helfen
- Wer hätte gedacht, dass einem die Existenz von Swarovski einmal nicht wurscht sein wird? Der Kristallladen ist wirklich sehr bekannt.
- Waffennarren ist die Firma "Glock" mit Sitz in NÖ mit Sicherheit ein Begriff. Der steinreiche Österreicher Glock verkauft weltweit erfolgreich seine Pistolen. 2/3 der US-Polizei verwenden das Ding genauso wie etliche Terroristen...
- Ferdinand Porsche ist zumindest indirekt jeder/jedem ein Begriff!


8. „Sport“ oder „das schwächste Glied der Kette“


- Bei älteren Semestern mit Sportinteresse kann Jochen Rind noch aus der Patsche helfen
- Warum wir im Fußball Null sind? Naja weil 2/3 des Landes Berge sind und wir nur Skifahren. Hermann Maier nie gehört? Also ein Blick in Google wird bestätigen, dass wir diesen Sport seit 10 Jahren und länger dominieren…. Stöhn!
- Cordoba ist natürlich außer deutschen Fußballkennern niemandem ein Begriff, die berühmte Heldengeschichte zu erzählen hinterlässt leider gar keinen Eindruck


9. "Küche": Bekanntheit geht durch den Magen



- Apfelstrudel, bzw. überhaupt Strudel, ist v.a. im englischen Sprachraum als "(apple) strudel" bekannt
- Manche Regionen Osteuropas nennen die Cremeschnitte z.b. "Cremschnitt"
- Mozartkugeln kennt man zumindest noch in Deutschland
- Die Sachertorte kann ein Glückstreffer sein ("sacher cake")
- Wer Franzosen belehren möchte: Das Croissant kommt als Abwandlung der Kipferls ursprünglich aus Wien.
- Das Wiener Schnitzel wird in manchen spanischsprachigen Ländern boshafter weise Mailand zugeordnet und als "Milanesa" bezeichnet. Zumindest in Frankreich ist es aber explizit als "escalope viennoise bekannt".
- In Frankreich, aber auch in anderen "lateinischen" Ländern kann man auf eine Viennoiserie stoßen, darunter wird meist eine Feinbäckerei verstanden. In Argentinien kann es dort aber einfach Sandwiches geben, die eher an Subway erinnern.

Alles in allem muss man sagen, dass es fast unmöglich ist keine Assoziation beim Gegenüber zu Österreich herzustellen. Mit dem Bildungsgrad des Gegenübers steigt das was aus Österreich bekannt ist auch exponentiell an. Es ist eben nicht nur Einbildung, was von den Menschen in diesem Land alles an geistigen und künstlerischen Schätzen geschaffen wurde. Ordnet man die Persönlichkeiten historischen Epochen zu wird aber schnell klar, dass weniger mit dem Ende der Monarchie, als viel mehr mit den Nazis, dem Krieg und dem Holocaust das allermeiste an weltbedeutender kultureller Schaffenskraft verloren ging.

Montag, 2. Februar 2009

Zur Stadt Buenos Aires





Achtung: Der heutige BLOG-Eintrag ist eher was für Volkswirt/innen, Geograph/innen, Statistiker/innen und sonstige Nerds. Wer nicht zu diesen Gruppen gehört und sich trotzdem durchbeißt ist danach erstens gebildeter (naja…) und zweitens weiß er/sie wo ich wohne und wo meine Arbeit liegt. Nächstens schreibe ich dafür über die Menschen.

Die Stadt Buenos Aires, die so genannte „Capital Federal“ verfügt nur eine Bevölkerung von rund drei Millionen Menschen (siehe Bild 1). Der Agglomarationsraum „Gran Buenos Aires“ umfasst je nach Berechnung 11 bis 15 Millionen Menschen (siehe Bild 2, der kleine weiße Fleck ist übrigens die Capital Federal von Bild 1). Gran Buenos Aires ist neben Mexico City, Sao Paulo und Rio de Janero eine von vier Megametropolen (über 10 Mio Einwohner/innen) Lateinamerikas und eine von sechs des gesamten amerikanischen Kontinents, inklusive New York (18) und Los Angeles (14). Die Provinz Buenos Aires zu der die Capital Federal nicht gezählt wird, umfasst rund 14 Millionen Menschen. Gran Buenos liegt ausschließlich in der Provinz Buneos Aires liegt, die sich wiederum um die Capital Federal erstreckt. Das ist anfangs etwas verwirrend, aber in Wirklichkeit das gleiche wie die Stadt New York mit ihren 8 Millionen, der State New York mir seinen 19 Millionen, sowie der Agglomarationsraum New York mit seinen 18 Millionen. Nur dass die Stadt nicht zur Provinz gehört. Faktum ist, im Raum Buenos Aires leben über 30 Prozent der gesamten argentinischen Bevölkerung.

Provinz Buenos Aires (ohne Capital Federal): rund 14 Millionen
Gran Buenos Aires (mit Capital Federal): 11 – 15 Millionen
Capital Federal Buenos Aires: rund 3 Millionen

Die Capital Federal Buenos Aires ist mit ihren 200 km² strukturell vielleicht ist recht gut mit Paris vergleichbar, dessen eigentliches Stadtgebiet mit 100 km² ebenfalls sehr klein ist und wo auch nur rund zwei Millionen Menschen leben. Damit ist jetzt nur die Stadt Paris (Kennzeichen 75) gemeint. So wie in Paris ist das Stadtgebiet der Capital Federal bis auf einige Parks völlig verbaut, Tatsächlich ist die Bevölkerungsdichte mit 13.500 wesentlich niedriger als in Paris mit 20.500. Was in Buenos Aires sofort auffällt, ist die Großzügigkeit im Umgang mit der Verkehrsfläche und den Plätzen. Die „Avenida 9. Juli“ im Zentrum der Stadt hat teilweise mehr als 20 (!) Spuren, die kleine Avenida vor meiner Haustüre kommt „nur“ auf fünf. Prinzipiell sind die Straßen und Plätze so riesig, dass es de facto keine Staus gibt.

Die Capital Federal ist punkto Bevölkerungsdichte mit Wien nicht seriös vergleichbar, weil dort 1,7 Millionen auf einer Fläche von 414 km² leben. Bei Wien sind ja große Wald- und Weinbergflächen eingerechnet. Ohne Grünflächen (also minus 56% Fläche) kommt Wien auf eine Dichte von ca. 9.000 Personen. Die Capital Federal erreicht also wegen der Großzügigkeit der Anlage bei weitem nicht die Bevölkerungsdichte von Paris, obwohl sich 10-30 stöckige Gebäude über ganze Bezirke erstrecken. Folglich sind die Distanzen innerhalb der Stadt auch enorm, was wiederum an Berlin erinnert. Gleichzeitig sind die Gebäude so riesig, dass die Bevölkerungsdichte des bebauten Wiens deutlich übertroffen wird. Die gewaltigen Hochhausbezirke und die großzügigen Verkehrsflächen sind mir in dieser Form in keiner Stadt Europas untergekommen. Buenos Aires ist eine echte megaurbane amerikanische Metropole.

Bevölkerungsdichte Paris (75): 20.500
Bevölkerungsdichte Capital Federal: 13.500
Bevölkerungsdichte verbautes Wien: 9.000

Die Capital Federal unterteilt sich in 48 Bezirke (Barrios). Mein Barrio nennt sich San Cristóbal, er liegt im Südosten der Stadt und seine Lage ist auf dem dritten Bild eingezeichnet. Mit der U-Bahn sind es bei einmal umsteigen sechs Stationen in Zentrum, zu Fuß geht man aber schon rund 40 Minuten. Auf dem zweiten Bild sieht man St. Nicholas und Monserrat, das ist das absolute Zentrum mit Hauptplatz, Kongress und der Kreuzung mit dem Obelisquen. Puerto Madero ist das Businessviertel mit der Skyline, Palermo und Recoleta sind eher wohlhabendere megaurbane Viertel mit viel Nachtleben und San Telmo ist der zierliche Künstler/innenbezirk der gerade von Europäern invasiert wird. Ebenfalls zierlich aber dafür auch gefährlich ist Boca, wo der hier sehr verehrte Fußballklub Boca Juniors beheimatet ist. Meine Arbeit befindet sich genau an der Grenze von San Telmo und Boca. Boca war übrigens der Auffangplatz für Norditaliener/innen, die aus Genua abgereist sind. Süditaliener/innen die von Neapel aus aufgebrochen sind, haben sich eher in den nördlichen Viertel niederließen.

Gran Buenos Aires wird (ohne Capital Federal) in einer Nord-, eine Süd- und eine Westzone unterteilt. Teilweise leben Arm und Reich unmittelbar nebeneinander, prinzipiell kann man aber sagen, dass die Nordzone von Gran Buenos Aires (1,4 Millionen) von Wohlhabenden besiedelt ist, die teilweise wie in LA Einfamilienhaus an Einfamilienhaus wohnen. Mit Garten, Swimmingpool und viel Wachpersonal. Die wesentlich bevölkerungsstärkere Südzone (3,4 Millionen) ist eher industriell geprägt, dort leben die Mittelschichten. Die Unterschichten und die Zugewanderten leben in der ebenfalls bevölkerungsreichen Westzone (3,9 Millionen).

Das Wetter in Buenos Aires ist jetzt prinzipiell subtropisch und im Sommer heiß, es gibt aber starke Temperaturschwankungen, viel Feuchtigkeiten und plötzliche Wetterstürze. Während man in einer Nach im Freien problemlos in Badehose übernachten könnte, kühlt es in der nächsten Nacht auf unter 15 Grad ab. Strahlende Sonne am Vormittag und starke Bewölkung am Nachmittag, oder umgekehrt, sind nichts Ungewöhnliches. Der Wind sorgt zum Glück dafür, dass die Abgase des umwelttechnisch nicht ganz freundlichen Fuhrparks in alle Welt verteilt werden. Die Sonne ist wegen eines Ozonslochs über Feuerland extrem stark.