Samstag, 28. März 2009

Eine Psychohygiene

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Ich hasse Orlando. Obwohl er mein Handy, das ich ganz stolz 24 Stunden nach meiner Ankunft (Mitte Jänner) bereits mein Eigen nannte und das ich ihm am 4. März in meinem Straßenkinderheim zum spielen borgte einfach mit zu Tür hinaus nahm und beide nie wieder kamen, war mir dieser 14-Jährige Scheißer ursprünglich egal. Er würde das Ding verkaufen und das Geld in Drogen zu investieren, ich hätte es ihm beim Mittagessen im CAINA nicht überlassen sollen, bzw. dabei wenigstens aufmerksam beobachten was er anstellt. Irgendwie sah ich die Schuld in meiner Naivität und nahm es nicht persönlich.

Mein altes Handy

Natürlich wusste ich damals noch nicht, was Orlando mir mit dem Diebstahl angetan hatte. Entschlossen die Sache schnell abzuhaken marschierte ich schnurstracks in den nächsten Shop der Firma „Claro“ und kaufte das exakt selbe Modell noch einmal. Neues Handy, neue SIM-Karte, neuer Preis. Statt 149 jetzt 155 Pesos. Eine Preissteigerung um stolze vier Prozent in sechs Wochen, aufs Jahr gerechnet ergäbe dies eine Inflation von 35 Prozent, genau das dreifache der normalen argentinischen Preissteigerung. Aber weil der Peso schneller fällt als die Inflation vorantrabt und ich statt 4,2 mittlerweile 4,8 Peso für einen Euro bekomme, macht mir das nichts aus. An den Umstand, dass ein Kartell blutsaugender Banken mir nicht nur den handelsüblicheren schlechteren Ankaufskurs verrechnet – was ja noch gerechtfertigt wäre – sondern mir für jedes abheben mit Bankomatkarte 2,3 Euro (!) Spesen in Rechnung stellt darf ich allerdings nicht denken. Möchte ich meinen Blutdruck endgültig überfordern dann rufe ich mir ins Gedächtnis, dass ich maximal 65 Euro abheben kann (das aber mehrmals hintereinander) und für JEDES MAL abheben 2,3 Euro Spesen zahle. Kommt mir dann noch in den Sinn dass das angeblich unbegrenzte Abheben mit meiner Kreditkarte nicht funktioniert, braucht es nur noch das Wörtchen BAWAG als Draufgabe und mir zerfetzts bald die Hauptschlagader.

Mein neues Handy

Erster Anlauf: Zurück zum kleinen Shop von Claro in der Nähe des berühmten Obelisken, wo ich mein neues Handy kaufte. Die freundliche Dame mit 80er-Jahre Haarschnitt kassierte das Geld und flirtete so ungeniert mit mir, dass ich an die Grenzen meiner österreichischen Vorstellungen von Form und Distanz stieß und des Öfteren an den Rand der Verlegenheit schlitterte. Immerhin ist sie 45. Ich weiß auch dass sie 174 groß ist, aus Paraguay kommt, seit 20 Jahren in Argentinien lebt und ihr Sohn ausschließlich… Na egal, wir haben uns jedenfalls ausgiebig unterhalten. Zum Schluss hatte ich das fertige Handy in der Hand und wurde mit einem letzten Kompliment bezüglich meiner Augen entlassen. So weit so schön, scheinbar unbeschwerter Alltag in Argentinien.


Der Obelisk, das Wahrzeichen von Buenos Aires. Im Vordergrund Konst und Sarah, die derzeit in Uruguay unterwegs sind.

Zweiter Anlauf: In den folgenden Tagen wurde mir leider klar, dass sich mein eben erworbenes Schmuckstück wie ein Computer regelmäßig aufhängt. In Telefonaten nach spätestens drei Minuten und auch zwischendurch regelmäßig. Das bedeute überdies jedes Mal SIM und Batterie hinaus nehmen und hinein geben, Datum und Uhrzeit Ächz…. Mit der Sicherheit einen Stein im Brett bei meiner Freundin aus Paraguay zu haben, ging ich den der folgenden Woche in den Claroshop um das Ding auszutauschen. Leider waren die fünf Tage Garantie (von denen ich natürlich nie eine Ahnung haben wollte) bereits vorbei. Meine freundliche Freundin verwies mich freundlich an einen Claro Technikshop.

Dritter Anlauf: Immer noch entschlossen Orlando nicht zu verabscheuen und die Sache im Handumdrehen zu erledigen, stapfte ich am folgenden Tag in den technischen Serviceshop in der Av. Corrientes. Die Nummernmaschine zum Ziehen der Nummer war momentan kaputt, 10 Minuten Wartezeit bis zur Nummer. Der Umstand das meine Zivi-Kollege Paul mit war, ließ die weiteren 40 Minuten Wartezeit mit Nummer einigermaßen schnell vergehen. Die klimananlagebedingten 6 Grad Celsius konnten mir ob meines Pullovers, den ich aus solchen Gründen immer mitschleife, nichts anhaben. Geduldig wartete ich mit 50 anderen Gepeinigten im Raum mit den vielen Nummern und Schaltern, bis endlich jemand für mich frei wurde. Die freundliche Dame (Blanca) war diesmal jünger als ich und sprach überraschend so gut Englisch, das wir auf mein spanisches Gestottere verzichteten. Ich verhielt mich sehr charmant und als sie mir sagte dass das Handy bis morgen 13:00 hier bleiben müsse, versicherte sie mir mich am Folgetag sofort nach meinem Erscheinen dran zu nehmen. Paul fragte mich danach ob das Liebe oder Korruption sei, mir wars egal, Hauptsache es gab eine Person bei der ich einen Stein im Brett hatte, meine neue Freundin würde mir mit Sicherheit durch diese stürmischen Zeiten meiner privaten Telekommunikationskrise helfen.


Die Avenida Corrientes, der "Times Square" von Buenos Aires

Vierter Anlauf: Meine Gewissheit bezüglich Blancas loyaler Liebe bekam jedoch schon am Folgetag um 13:00 erste Risse, als sie mich auf 14:00 verwies (Die Belegschaft des CAINA streikte, was meine frühe Anwesenheit überhaupt möglich machte).

Fünfter Anlauf: Nach einer Stunde in den Abgasen eines Megacityschanigartens (hohe Häuser, schlechte Luft, schmaler Gehsteig) an der gewaltigen Av. Corrientes, schleifte ich mich durch die Mittagshitze zurück und bekam mein Handy zurück. Angeblich gab es ein Problem mit dem gerät selbst, das nun behoben sei. Schon mit einem Schuss Skepsis verabschiedete ich mich von Blanca und spürte am Abend erstmals eine gröbere Verärgerung, als das Ding genauso abstürzte wie an den Tagen zuvor. Meine bisherige Gelassenheit wandelte sich eher in das Gefühl der Verlassenheit und das wollte ich gerne irgendjemanden physisch spüren lassen. Erstmals begegneten sich Orlando und ich in einer Gewaltphantasie.

Am Montag der folgenden Woche begann das, was sich als Privatkundenhorrorwoche in meinem Gedächtnis einbrennen wird. Wenn ich eines regnenden Novembertages als alter, verwirrter, verzagter und verhärmter Zyniker am Sterbebett vor mich hinröchle, werde ich aus meinem sappernden zahnlosen Maul statt der Geschichten über die schönsten Momente mit von mir einst geliebten Menschen, nur gallige Wortfetzen husten, aus denen die geschockten und angewiderten Nachfahren, wenn sie Interesse daran hätten, eine hasserfüllte Chronologie jener Scheißdreckswoche zusammenstückeln könnten, die ich im folgenden schildern werden:

Sechster Anlauf: Montag Nachmittags ging ich zum mittlerweile vierten Mal in den Technik-Laden in der Av. Corrientes. Ein kurzer Rundgang macht mir klar, Blanca war heute nicht da. Ich musste also ganz regulär eine Nummer ziehen und starrte 45 Minuten in die Fernsehröhre, die ganz lustige „Gags“ aus Kanada zeigte, um die Laune der Kund/innen bei der Stange zu halten. Das Band dauert aber nur 15 Minuten und wird dann wiederholt. Die Gags werden deshalb nicht lustiger…. Ich hatte mir selbst eingeredet, dass wenn das Handy wirklich repariert wurde, wahrscheinlich die SIM-Karte kaputt sein müsse. Davon überzeugte ich den etwas gelangweilten Herren an dessen Schalter ich nun beordert wurde auch und prompt wechselte er meine SIM-Karte aus. In einer halben Stunde würde alles funktionieren, versicherte er. Zu Hause stellte ich fest, dass auch nach zwei Stunden gar nichts funktionierte. Null, Nada. Ein Anruf meiner französischen Mitbewohnerin Anna (die wesentlich besser Spanisch spricht als ich) bei der Hotline ergab die Information, dass die neue SIM-Karte innerhalb von 24 Stunden freigeschalten würde.

Dienstag. Artig wartete ich jene Nachmittagsstunde ab, zu der mein Gerät eigentlich wieder funktionieren sollte. Das tat es auch, es konnte nur plötzlich keine SMS senden und empfangen. Diesmal bat ich Lukas, einen argentinischen Mitbewohner die Hotline anzurufen. Der Typ antwortete, alles was er mit dem System sehen kann deutet darauf hin dass es funktionieren müsste, es gibt aber einen Teil des Systems auf den er nicht zugreifen kann. Man solle es später versuchen. Später war die Hotline schon nach Hause gegangen und hatte es sich gemütlich gemacht. Dafür stürzte aber mein Handy ab. Das alte Problem war also noch da, und ein neues, der Ausfall der SMS-Funktion, hinzugekommen. Meine Schrecken wandelte sich in Ärger. Die Wut im Bauch begann zu kochen, Fontainen stiegen auf in Rachen und Kiefer wo sie sich zu einem bald heiligen Zorn steigerten. Orlando tat gut daran nicht hier zu sein. Mein Vorstrafenregister auch.

Siebter Anlauf, Mittwoch: Etwas angespannt marschierte am Nachmittag nach der Arbeit im preußischen Stechschritt zum fünften Mal den wohlbekannten Weg auf die Avenida Corrientes. Blanca war wieder da und schien über meine Anwesenheit nicht euphorisch. Aus alter Liebe nahm sie mich trotzdem gleich dran. Sie sei am Montag krank gewesen, aber man zahle hier keine krankheitsbedingten Ausfälle, darum habe sie sich heute wieder hergeschleppt. Dieser treffsichere Pfeil in mein Gewerkschaftsherz milderte meine Stimmung vorerst erheblich. Erst als Blanca nach einer Beratung mit der Technikabteilung erklärte, es sei alles in Ordnung, man könne das Problem nicht beheben und ich sollte die (spanische) Gebrauchsanleitung lesen, wurde ich etwas unwirsch. Krankheit hin oder her, das war für mich das endgültige Ende unserer kurzen aber turbulenten Liebensbeziehung. In dem ich verlangte den Chef zu sprechen, sprach ich die Scheidung aus. Das war ihr dann doch zuviel, sie behielt das Ding wieder da und sagte ich solle morgen wieder kommen, man werde es noch einmal ansehen. Ich wünschte ihr gute Besserung und trottete verstört nach Hause.

Ich hätte viel Kommunikationsbedarf ins Internet verlagern können. Aber nur wenn es nicht ausgerechnet in dieser Woche noch viel öfter ausgefallen wäre als sonst. Stundenlange Onlinewüste und Handymangel ließen mich endgültig zum isolierten Geschöpf im Okzident im 21. Jahrhundert werden. Ich hätte die Gelegenheit zum Lesen nützen können, verwende die Zeit jedoch lieber um mich vortrefflich über Claro und Orlando zu giften.

Achter Anlauf, Donnerstag: Blanca war nicht da. Also 45 Minuten Wartezeit vor den „Gags“ aus Kanada. Um meine Aggressionen in Langweile zu ersticken, hatte ich das „Argentinische Tagblatt“ mit, eine etwas dilettantische aber bemühte deutschsprachige Zeitung in Argentinien. Leider hatte ich den Politikteil zuvor im Bus verschlungen. Schon musste ich beginnen die Sportberichterstattung zu lesen, nachdem ich bereits alle Bewegungen auf den für Argentinien wichtigen Märkten für Soja, Mais und Weizen auswendig konnte. Ganz zum Schluss meiner Prioritätenliste stand allerdings das, was das Argentinische Tagblatt für die „Seite der Frau“ hält. Den dort befindlichen Artikel „Armer Ritter und Hoppelpoppel. Aus Essensresten lässt sich viel machen“ würde ich aber wahrscheinlich noch „Heidis Ecke. Zum Abschluss der Kräuterserie“ vorziehen. So weit kam es nicht, die Nummer 1000 (!) die ich diesmal gezogen hatte wurde endlich aufgerufen. Der Zufall verschaffte mir eine neue Betreuerin. Die Reserviertheit dieser Antonella passte mir gut ins Konzept, nach zwei gescheiterten Lieben wollte ich das ganze lästige Prozedere gar nicht mehr von vorne beginnen und begegnete ihr mit erfrorener Mine. Sie gab mir mein Handy dort befindliches mit der Versicherung zurück es sei nur ein Problem mit der „linea“, nicht mit dem Telefon selbst und in einer halben Stunde würde alles einwandfrei funktionieren. Meinem zweimaliges extrem skeptisches Nachfragen, was ich in einer halben Stunde tun sollte falls es nicht ginge, begegnete sie mit einer verbindlichen Sicherheit, die jede weitere Handlung meinerseits als unangebracht bis unhöflich hätte erscheinen lassen.


Das argentinische Tagblatt, besteht auf seine antinationalsozialistische Tradition zur Mitte des letzten Jahrhunderts. Gegenüber den Proponenten der Militärdiktatur wird aber auffällig viel Milde gefordert...

Es funktionierte auch nach fünf Stunden keine SMS-Funtion. Überdies konnte ich so nebenbei niemanden mehr anrufen und keine Anrufe empfangen, was mein Handy auf die Nützlichkeit einer etwas fett geratenen Uhr reduzierte. Aus meinem heiligen Zorn wurde ein biblischer Hass, Orlando zu dem Feind, an dem man im alttestamentarischen Sinne zehn Mal so hart rächen müsse, wie sein Verbrechen wiegt. Weil Hass aber ein solideres Fundament braucht, wich letzterer bald der resignativen Verzweiflung. Auf eine andere Marke umsteigen? Ohne Handy leben? Nach Österreich zurückgehen? Zu A1-Rundumservice und Arbeitkammer-Konsumentenschutzstelle?

Manchmal wäre man gerne Hulk

Neunter Anlauf, Freitag: Ich quälte mich wie ein Kind mit Schulangst in die Av. Corrientes. Leichte Panik befiehl mich als der riesige Claro-Technikshop vor mir auftauchte. Kein gutes Omen dachte ich. Ich zog zur Sicherheit eine Nummer (124) und zerstörte durch zu festes Anziehen die Nummernmaschine. Hinter mir die Sinnflut, dachte ich. Die Nummer war nur eine Prophylaxe, in Wirklichkeit wartete ich zehn Minuten bis der kommunikationsfreudige Herr vor Antonellas Schalter verschwunden war, um direkt auf sie loszustürmen. Sie musste mich und mein Problem ja noch unmittelbar von gestern kennen. Antonella reagierte äußerst unentspannt auf den Umstand, dass ich nicht formell aufgerufen war. Meine seit dem Vortag strikt angewandte „Charme-Ohne-Strategie“ führte überdies völlig ins Leere. Sie war äußerst unkooperativ. Antonella wollte das Gerät dabehalten und der technischen Abteilung geben, ich bestand darauf nicht mehr warten zu können. Sie gab mir dann die Adresse vom Nokia-Service (!!!), ich verlangte den Chef. Jetzt spielte sie ihr bestes Trumpf aus: Ohne formelle Nummer kann ich nicht einmal den Chef verlangen. Ich sah blitzartig ein, diese Dame würde mir nicht aus meinem Dilemma helfen. Ein Blick auf die Anzeigetafel verriet mir, dass dort 128 stand und meine 124 nichts mehr wert ist. Ich hatte also nichts, weder Nummer noch Antonella.

Jetzt stand die Kugel auf der Pyramide, ich musste entscheiden: Entweder das Scheißgerät wutentbrannt auf den Boden schmeißen, einige spanische und englische Bösartigkeiten durch den Raum schreien, zu „Movistar“ wechseln und einen erzürnten Leserbrief im Argentinischen Tagblatt veröffentlichen (Reichweite minimal), oder darauf spekulieren mit einer neuen Nummer noch auf eine vernünftige Person zu treffen (damit meinte ich nicht Blanca, die fünf Schalter weiter in erster Linie bemüht war, unserer Blicke nicht zu kreuzen. Frische Wunden schmerzen am meisten). Die 40 Minuten Wartezeit würde ich jedoch nervlich nicht überleben, das war klar.

In den letzten Minuten hatte sich eine lange Schlange vor dem Nummernautomaten gebildet, dieser wurde eben wieder repariert. Geistesgegenwärtig verließ ich Antonelle für immer (wir hatten uns eigentlich nie geliebt) und stürmte zu dem Automaten. Gegen jede argentinische Etikette drängte ich mich auf den ersten Platz und zog sofort nach der Reparatur die erste Nummer. Zu fest, der Automat war wieder kaputt und die 12-Leute-Schlange über mein unheilvolles Erscheinen nicht sonderlich glücklich. Aber ich hatte die goldene 129 in den Händen. Eine Minute später wurde sie aufgerufen und erstmals hatte ich Glück. Mein zuständiger Herr saß genau neben jenem gelangweilten Bürschchen, das am Montag meine SIM-Karte ausgetauscht hatte. Außerdem begriff mein neuer Freund an Hand des Protokolls im Computer, dass ich diese Woche außer Dienstags jeden Tag hier gewesen war, so wie drei Mal in der Woche zuvor. Die zwei nahmen sich gemeinsam meines Problems ernsthaft an und stellten fest, dass meine „linea“ völlig defekt sei. Ich begann Partikelchen von Glück zu riechen, ein Silberstreif am Horizont. Sie gaben mir einfach eine neue Nummer. Nun meine dritte in Argentinien, mit Nummer 1 erfreut Orlando wohl seit drei Wochen das heimische Onlinesex-Gewerbe. Ich verließ den Ort des Schreckens, erstand eine Wertkarte und bemerkte mit unfassbarer Erleichterung, dass das Gerät normal funktionierte.

Die Argentinier/innen sagen mir es sei zermürbend hier zu leben, ich glaube es ihnen aufs Wort. Vor allem mit meinen europäischen Erwartungen an Funktionalität und Effektivität. Es ist ein bisschen wie ich es bei den Fußballgewohnheiten der Straßenkids erzählt habe. Als Individuen sind sie brilliant, als Team funktioniert es überhaupt nicht. Ebenso scheint mir die argentinische Gesellschaft. Auch die Belegschaft von Claro besteht aus freundlichen Individuen. Die Firma ist offenbar ein Desaster. Ich glaube ich habe mich in Österreich oft unheimlich über private Firmen geärgert. Aber das Ausmaß an Zorres das mir hier widerfährt, ist dann schon eine argentinische Kategorie von Unternehmensversagen (der hiesige Staat würde es bestimmt noch schlechter machen). Der Berliner Kabarettist und Liedermacher (sowie ich Baujahr 1982) hat zu diesem Thema ein wunderbares Lied gedichtet, dem es nichts mehr hinzuzufügen gibt:

Link: Scheißverein

Sonntag, 22. März 2009

Die Kapitalsünde



In einem BLOG-Eintrag habe ich vor einigen Wochen eine lange Liste von mit Österreich assoziierbarem detailliert angeführt. Nun gibt es aber Situationen, in denen die Aufzählung dieser Liste weder zweckdienlich noch notwendig erscheint. Die große Neugier der Argentinier/innen führt dazu, dass die Frage „De donde sos?“ (Von wo bist?), beim Konsum von Kioskprodukten, Taxifahrt, Caféhausatmosphäre oder sämtlicher anderer Gegenstände von der Handywertkarte bis zum neuen Leiberl mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gestellt wird. In diesen kleinen Alltagssituationen, aus denen sich in der Regel selten Lebensfreundschaften ergeben, ist es angenehm nicht lange herumerklären zu müssen wo Austria im Gegensatz zu Australia liegt (auf Spanisch besteht diese Verwechslungsgefahr leider auch, viel angenehmer ist es mit französisch, dessen „Autriche“ sich vom „Australie“ deutlich abgrenzt). Dass unsere Muttersprache nicht „austriaco“ sondern „alemán“ ist führt zu weiterer Verwirrung. Um mir all diese Umständlichkeiten zu ersparen, habe ich mir kürzlich aus Bequemlichkeit eine Vereinfachung angewöhnt, auf die in Österreich die moralische Todesstrafe steht. Zur Herstellung von Klarheit antworte ich neulich mit:

„Yo ähhh (undeutlicher Zwischenlaut) alemán“

Der Zwischenlaut, so beruhige ich mein Gewissen“ könnte auch als „hablo“ (spreche) interpretiert werden, was ja keine Lüge ist. Natürlich geht das Gegenüber davon aus, ich hätte „soy“ (sein) gesagt. Mit „alemán“ kann der gesamte Okzident etwas anfangen und mein/e Gesprächspartner/in zwischen Tür und Angel ist zufrieden einen bekannten Brocken Antwort abgekommen zu haben und fragt nicht weiter nach. So schlecht ist das Gegenüber damit auch nicht informiert, es weiß einen deutschsprachigen Europäer vor sich zu haben. Ich biege mir meine kleine Lüge hingegen als Ausdruck eines Protests gegen die mir absolut zuwideren antideutschen Ressentiments in Österreich zurecht….

Dienstag, 10. März 2009

Die Arbeit im CAINA (Teil 2)

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Dieser Text ist eine Zusammenstückelung von eigenen Erfahrungen, sowie von Hintergrundinformationen aus der Fachliteratur. Die Bücher von Jürgen Sand: „Soziale Arbeit mit Straßenkindern“ (Frankfurt 2001) und von Reiner Engelmann: „Straßenkinder im Dschungel der Großstädte“ (München 2002) beantworten viele offene Fragen und ermöglichen eine Kontextualisieurng meines Projekts. Die Passagen die nicht auf eigene Erfahrungen zurückzuführen sind, werden explizit bezeichnet.

Wieso sind die Kinder auf der Straße?

Eine klassischer Vorgeschichte wie Kinder auf der Straße landen beschreibt Engelmann folgendermaßen: Junge Erwachsene ziehen mit ihrer Familie vom Land in eine lateinamerikanische Metropole, die alte ländliche großfamiliäre Struktur ist damit aufgelöst, In der Regel ist die Destination ein Elendsviertel, in solchen leben gemäß UNICEF bis zu zehn Familienmitglieder in einem Raum. In Bolivien gelten laut Sand 63% der Bevölkerung als arm (in Argentinien knapp über 50%) Das Einkommen der Erwachsenen reicht nicht aus um die Familie zu ernähren. In der Stadt verdienen die Mütter dann mit ihren Kindern auf der Straße oft mehr als der Vater mit seinen Gelegenheitsarbeiten. Letzterer schlittert in eine Identitätskrise, der er mit Gewalt, Missbrauch und Alkohol begegnet. In Bolivien arbeiten die meisten Kinder zunächst auf der Straße. Kommen sie aus gewaltsamen Familien und sehen sie keine andere Perspektive der Unterdrückung zu entfliehen, flüchten sie oft endgültig dorthin. Armut muss nicht dazu führen dass Kinder und Jugendliche auf der Straße leben, sie ist aber die Hauptursache.

In den lateinamerikanischen MEGA-Citys hoffen die Armen vom Land auf den sozialen Aufstieg

Die von Sand befragten Sozialarbeiter/innen in Bolivien sind sich einig, dass extreme Armut und innerfamiliäre (sexuelle) Gewalt die wesentliche unmittelbare Ursache für die Flucht der Kinder auf die Straße ist. Drei von vier Sozialarbeiter/innen geben an, dass es Alkoholprobleme in den betroffenen Familien gäbe. Oft sind die Stiefväter besonders gewalttätig (70%-90% der Straßenkids kommen aus Patchworkfamilien). Engelmann gibt in einer offenbar stark domestizierten Übersetzung folgende Eindrücke eines Straßenkindes einer nordargentinischen Stadt wieder:

„Als mein Vater mich entdeckte, torkelte er auf mich zu, seine Alkoholfahne konnte ich deutlich riechen, und holte, ganz ohne Vorankündigung, die Faust zum Schlag aus. Er hätte mich sicher getroffen wenn ich nicht im letzten Augenblick ausgewichen wäre. Er verlor das Gleichgewicht, fiel mit dem Kopf gegen die Wand und sackte zu Boden. Durch den Krach weckte er meine Geschwister und innerhalb kürzester Zeit war ein Höllenlärm in der Hütte, der durch die Schreie meiner Mutter noch übertont wurde. (…). Sie schrie nicht um ihre Kinder zur Ruhe zu bringe, es waren hysterische Schreie bis sie irgendwann vor Erschöpfung zusammenbrach.“

Laut Sand sind es das Gruppenleben, die Freiheit (auch sexuelle Freiheit, die Anzahl an schwangeren Mädchen ist entsprechend hoch), das Abenteuer und die Drogen die als vermeintliche Vorteile in der Wahrnehmung der Kids gegenüber der Familie überwiegen.

Gewalt, Autoaggression und Narben

Unsere Kinder im CAINA haben nicht nur völlig verdreckte Hände, sondern auch verdammt viele und teilweise massive Narben. Kürzlich kam ein 16-jähriger mit mindestens 25 großen und relativ frischen Schnitten auf jedem Unterarm. Zwei Wochen vorher kam ein Bursche in ähnlichem Alter mit blutunterlaufenem Auge und deutlichen Kampfspuren im Gesicht. Gewalt gegen andere und Selbstverstümmelung bescheren den Kids laut Sand ein kurzfristiges Gefühl der Erleichterung. Fast alle Kids haben Narben von Schnittwunden, diese sind entweder die Folge von Gewalt oder von Autoaggression. Die Narben werden als Zeichen einer Gruppenzugehörigkeit stolz getragen. Dieses Ritzen führt häufig zu Infektionskrankheiten, der rasche Partnerwechsel bringt entsprechend viele Geschlechtskrankheiten mit sich.

Zur Auflockerung des ernsten Textes: Eine Cucaracha neben einem Milchpackerl im CAINA

Sexuelle Gewalt und Prostitution

Eigentlich suchen die Kinder Schutz vor der Gewalt. Das Straßenleben bringt eine große Freiheit, jedoch auch große Zwänge und die befragten Sozialarbeiter/innen sind sich einig, dass sich die Gewalt auf der Straße in anderer Form fortsetzt. Beispielsweise in Form von sexuellen Übergriffen auf Mädchen. Engelmann betont, dass Mädchen oft als Freiwild betrachtet werden und sexueller Missbrauch ist in etlichen Jugendbanden ein Gruppenritual. Manchmal werden Mädchen auch von Banden zur Prostitution gezwungen, vor allem für Jungfrauen sind manche Freier bereit sehr viel Geld zu zahlen. Die Anzahl der Straßenmädchen nimmt zu. Natürlich suchen vor allem Männer sexuellen Kontakt mit Mädchen oder Burschen, mittlerweile gibt es aber auch eine Nachfrage nach Prostitution bei Frauen aus höheren sozialen Schichten. Rund zwei bis zehn Prozent aller Straßenkinder sind HIV-infiziert. In Rio oder Sao Paul sind mehr als ein Drittel aller Straßenkinder HIV-positiv.

Auf der Straße leben viel mehr Burschen als Mädchen, vor allem viel mehr jüngere Buben. Mädchen haben laut Sand eine wesentliche höhere Frustrationstoleranz und akzeptieren gewaltsame Familienverhältnisse viel länger. Sie kommen erst mit 11-13 auf die Straße. Oft flüchten sie vor sexueller Gewalt in der Familie, oft auch vor den Familienvätern jener Familien bei denen sie als Dienstmädchen beschäftigt sind.

Drogen

Die wichtigste Form des Drogenkonsums ist laut Sand das Schnüffeln von Klebstoff, gefolgt von Marihuana. Es gibt aber auch Kinder mit Kontakt zu Kokain. Klebstoff dürfte physisch nicht, psychisch aber sehr abhängig machen. Langzeitschäden bestehen vor allem in einer motorischen Beeinträchtigung, die Kids können gewisse Körperteile nicht mehr bewegen. Rund 70 Prozent aller Straßenkids sind laut Engelmann süchtig nach Klebstoff. Die Kinder bei uns im CAINA sind öfters bekifft, oder high vom Klebstoff. Das heißt aber nicht, dass sie sich schlecht benehmen, sie sind nur ruhiger. Vor allem wenn sie neue Narben oder Verletzungen haben, sind sie meistens zugedröhnt. Im CAINA gibt es keine Couchen und es ist ihnen verboten zu schlafen, damit sie es nicht als After-Drogen Quartier verwenden. Im CAINA selbst sind Drogen natürlich verboten, Zigaretten rauchen ist aber erlaubt, auch für junge Kinder. Streichhölzer dafür gebe ich ihnen jeden Tag durchs Küchenfenster.

Klebstoff wird mit Hilfe von Plasticksackerl inhalliert. Daher müssen wir von der Küche in die entsprechenden Sackerl Löcher machen, bevor wir sie wegwerfen.

Schwangerschaften

Kondome werden laut Sand oft darum nicht verwendet, weil Sex meist im Rauschzustand passiert, wobei die Kids dabei natürlich nicht an Verhütung denken. Die Schwangerschaft ist ein guter Anknüpfungspunkt um aus dem Straßenleben auszusteigen. Viele schwangere Mädchen denken über alternative Lebenskonzepte nach. Sie wollen von den Drogen loskommen und die Beziehung zu ihrem Freund verbessern. Mit einem Baby auf einem Pappkarton im Park zu schlafen ist oft keine verlockende Perspektive. Viele Mütter kommen aber während der Schwangerschaft und danach von den Drogen nicht los, etliche Babys kommen abhängig zur Welt. Faktum ist, dass sie wenigen Wochen alten Babys im CAINA oft erschreckend ruhig sind. Paul und ich wundern uns, dass sie im Gegensatz zu europäischen Babys fast nie schreien.

Sand zitiert Studien für Bolivien die davon ausgehen, dass 50 Prozent der gezeugten Kinder das zweite Lebensjahr nicht erleben. Sofern die Jugendämter Zugriff haben stellen sie die Mädchen vor die Alternative: Therapie oder Kindesentzug. Für einige ist das ein Anreiz ihr Leben umzustellen. Ende der 90er sagt eine Sozialarbeiterin in Bolivien, dass es bereits eine zweite Generation auf der Straße gibt. Kinder von Straßenkindern, die mit vier oder fünf Jahren schon beginnen Dinge zu tun die ihre Eltern getan haben.

Arbeiten die Kinder? Wovon leben sie?

Gemäß ILO (1998) gibt es ca. 250 Mio. arbeitender Kinder zwischen 5 und14 Jahren. Davon sind rund 120 Mio. vollzeitbeschäftigt. Von allen arbeitenden Kindern weltweit leben rund 17% in LA. Der Begriff „ninos trabajadores“ macht auf die aktive Tätigkeit der Kinder aufmerksam und ist in den „Bewegungen der arbeitenden Kinder“ populär. In den meisten LA Ländern nennen sie sich mit Stolz „ninos trabajadores“. Sie arbeiten auf der Straße, aber nur ein Teil diese Kids lebt auf der Straße. Kinder die arbeiten UND auf der Straße leben werden als „ninos trabajadores de la calle“ bezeichnet.

Der Direktor des CAINA (Emilio) schätzt dass 80% der Kinder im CAINA nicht (im traditionellen Sinne) arbeiten. Von einigen wenigen wissen wir explizit dass sie punktuell arbeiten, auch in Fabriken. Wobei die Grenzen zwischen Bettelei und Arbeit oft fließend sind. Viele Kinder teilen Kugelschreiber und ähnliches in U-Bahnen oder Cafés aus, um diese zu verkaufen. Bis dato kann ich nicht einschätzen wovon unsere Kinder so leben. Prostitution ist sicher dabei (ein Mädchen hat ein Baby dessen Vater 46 ist und sein Baby nicht kennt, ein anderer Bursche wohnt bei einem erwachsenen „Freund“ der ihn irgendwie versorgt.) Klar ist, dass viele stehlen. So auch ein 14-jähriger, der kürzlich mit meinem Handy verschwand, dass ich ihm dummerweise kurz zu Spielen borgte!!! Faktum ist, die Kinder haben meist Geld, die Quellen dürften Gelegenheitsarbeit, Prostitution, Bettelei, Straßenverkauf und Diebstahl sein. Im CAINA wird auch nicht nachgefragt wie die Kinder zu ihrem Geld kommen.

Wieder zur Auflockerung: Ein Kammerjäger bei uns in der Küche, wie das dezente Emblem auf seinem Rücken verrät.

Straßenkinder, Polizei und Menschenrechte

Straßenkinder hassen die Polizei, diese ist bekannt für das brutale Vorgehen gegen Kinder und Jugendliche. Ein argentinisches Straßenkind beschreibt ein Polizeiverhör in Engelmanns Buch folgendermaßen:

„Zwei Polizisten kamen von hintan auf mich zu und setzten nun die Befragung mit ihren Methoden fort. Sie brüllten mich an, zerrten mich an den Haaren vom Stuhl, versetzen mir Fausthiebe in die Rippen und in den Magen, die mir für einen Augenblick die Luft nahmen, traten mit ihren Polizeistiefel auf mich ein, als ich nach einem Schlag in den Nacken zu Boden ging.“

Erschreckend ist in diesem Zusammenhang die Kollaboration der Justiz mit der Polizei. Richter entscheiden auf Basis von Polizeiberichten, ohne das verdächtigte Straßenkind überhaupt zu befragen, über Untersuchungshaft oder Haftstrafen.

Amnesty macht regelmäßig auf systematische Menschenrechtsverletzungen gegen Straßenkinder in ganz LA aufmerksam, die bis zu Mord gehen können. Von brasilianischen Todesschwadronen die im Auftrag von Geschäftsleuten arbeiten wurden zwischen 1984 und 1989 unfassbare 1397 Kinder ermordet. Gemäß Amnesty werden heute täglich drei Kinder Opfer von Todesschwadronen.

Donnerstag, 5. März 2009

Der Staat

Die Farben der Fahne Argentiniens kennt man vielleicht vom Fußball

In Österreich haben die Menschen oft ein zwiespältiges, aber tendenziell positives Verhältnis zum Staat und seinen Institutionen. Gesundheit und Justiz genießen meist ein großes Vertrauen, die Uni wird trotz Schwächen eher als positiv bewertet. An der Schule scheiden sich oft die Geister, der Polizei wird zumindest im Verkehr vertraut, viele kritische Menschen kritisieren aber punktuelle Polizeigewalt, vor allem gegenüber Minderheiten. Über die ÖBB schimpft man obwohl sie so schlecht nicht sind und die Wiener Linien können beinahe als populär eingestuft werden. Auch Sozialeinrichtungen wie z.B. die Drogenberatungsstelle „Ganslwirt“ hat man als brauchbar, wichtig und recht gut ausgebaut im Bewusstsein. Kindergärten, Sozialhilfe, Impfungen, Arbeitnehmerschutz, Behindertengesetzgebung, Konsumentenschutz, gesetzlicher Urlaubsanspruch. Irgendwie ist der Staat in letzter Konsequenz eher ein Hawara.

In Österreich fühlt man sich wohl in den Händen von Vater Staat.

Die Rolle des Staates erscheint in Argentinien in einem völlig anderen Licht. Zur Illustration was damit gemeint ist, dienen am besten ein paar Beispiele.

Ein eine einleuchtende Form von Staatsversagen steht in Zusammenhang mit dem Kleingeld (den „monedas“). Die Buslinien (colectivos) von Buenos Aires wurden vor einigen Jahren privatisiert, was ja schon an sich eine Bankrotterklärung der öffentlichen Hand ist. Dies führte dazu, dass etliche kleine Busunternehmen zu abgesprochenen Tarifen fahren und immer gemeinsam die Preise erhöhen (Wettbewerb dank Privatisierung HAHAHA). Ein Wechsel zwischen zwei Bussen mit einem Fahrschein ist nicht möglich ist, es müsste ein neuer gekauft werden. Das eigentliche Problem ist, dass man jede Busfahrt ausschließlich mit Kleingeld bezahlen kann. Nur im Bus selbst kann man im Automaten, der nichts als „monedas“ schluckt, ein Ticket erstehen. Es gibt weder 10er-Blöcke, noch Jahres- oder Wochenkarten (wegen der unmöglichen Koordination etlichen verschiedenen Anbieter). Da die U-Bahn unzureichend ausgebaut ist, und es keine BIM gibt, ist die Bevölkerung voll auf die Busse angewiesen. Dies führt natürlich dazu, dass die Menschen das Kleingeld horten und es in der gesamten Stadt immer ein irres Feilschen um die „monedas“ gibt. Man muss versuchen stets mit jenen Geldscheinen zu zahlen, die einem die maximale Menge an Wechselgeld garantieren. Aber selbst in Supermärkten kann es oft passieren, dass es kein Wechselgeld mehr vorhanden ist. Bis jetzt habe ich mich AUSNAHMSLOS an den Tipp meiner Vermieterin aus den ersten Tagen gehalten: „I don’t belive in anything, neither in any religion, nor in god. The only thing I belive is: Never spend your coins!“

Die Ein-Peso-Münze ist viel mehr wert als ein Zwei-Pesoschein

Die schwer korrupten Busunternehmen verkaufen ihre „monedas“ illegal und haben ob dieser Margen ein großes Interesse am Beibehalt dieses Systems. Auch die weit verbreiteten Kioske, an denen viel nur gekauft wird um das entsprechende Wechselgeld zu erlangen, stecken angeblich unter der Decke der „monedas“-Mafia. Faktisch hat sich mit den „monedas“ ein völlig absurder zweiter Geldkreislauf gebildet. Seit Jahren tun der Staat und die Stadt nichts gegen diesen irrwitzigen Kleingeldmangel, der sich mittlerweile auf ganz Argentinien ausgebreitet hat.

Transportunternehmen sind korrupt und vor allem gefährlich. Die irrsten aller Verkehrsteilnehmer sind die Busfahrer.

Ein anderes Beispiel ist die Müllversorgung. Sie funktioniert in Buenos Aires einfach nicht, die Stadt kommt ihrer öffentlichen Aufgabe völlig unzureichend nach. Die Armen haben aus dem Müllproblem aber eine Tugend gemacht. Tausende arme Menschen in Buenos Aires arbeiten - vor allem nachts - als „Carteneros.“ Sie gehen zu den Mülltonnen und trennen den Müll, was die Bevölkerung hier natürlich nicht macht. Dann führen sie mit kleineren und größeren Leiterwägen den Müll zu Sammelstellen, wo zu sehr niedrigen Preisen an Recyclingfirmen verkauft wird. Kurz nach der Krise von 2001 wurde die Anzahl der „Carteneros“ auf 40.000 geschätzt. Die „Carteneros“ organisieren sich teilweise in genossenschaftsähnlichen Strukturen selbst. Die Stadt spart sich mit dieser „Privatisierung“ unzählige Angestellte mit vernünftigen Gehältern.

Ein Cartenero mit seinen Utensilien.

Ein letztes Beispiel ist die Polizeigewalt. Die Polizei ist nicht nur korrupt sondern auch gewalttätig. Wer glaubt sich mit der Polizei anlegen zu können findet sich angeblich oft als Leiche wieder, in den Provinzen ist es schlimmer als in der Hauptstadt. Auch bei Demonstrationen geht die Polizei extrem gewalttätig vor. Selbst wenn es sich um eine Kundgebung von Lehrer/innen für höhere Gehälter handelt gibt es etliche Verletzte. Bei einer solchen Demonstration in der Provinz Mendoza wurde erst kürzlich ein Lehrer getötet! (Das sind keine Horrogeschichten, ein Blick in einen Bericht von Amnesty International genügt um zu wissen was los ist.)


Dein Feund und Helfer in Argentinien

Die Menschen hier verabscheuen den Staat. Sie erachten die Politik als ausschließlich korrupt und an den persönlichen Interessen der Akteur/innen interessiert. Sie halten die öffentliche Verwaltung überdies für unfähig und ineffektiv. Das Vertrauen in die Institutionen ist minimal. Dass Staat und Gemeinwohl etwas miteinander zu tun haben glaubt hier niemand. Tatsächlich interveniert der Staat bei dem zuvor genannten Beispiel mit dem Kleingeld einfach nicht. Seiner korrupten Polizei traut hier kein Mensch. Noch schlimmer ist der Umstand, dass die Justiz ebenfalls korrupt ist und kein Vertrauen genießt. Es gibt angeblich eine einzige einigermaßen funktionierende Zugverbindung im gesamten Land, diese ist kurz und geht von der Capital Federal Buenos Aires in die wohlhabenden nördlichen Vororte. Das Überlandbusnetz ist privat. Bildung und Gesundheit dürften vor 15 Jahren noch in Ordnung gewesen sein, leiden aber an chronischer Unterfinanzierung und werden immer schlechter.

Die Präsidentin, in der Öffentlichkeit "Cristina" genannt. Wer glaubt, dass die Politik in Österreich verachtet wird, war nocht nicht in Lateinamerika.

Ein junger Arzt im Turnus sagt, dass im Gesundheitswesen viel mehr das Chaos statt Korruption der Hauptfeind ist. Die Desorganisation sei einfach gewaltig. Auch im CAINA staune ich über die Handwerker der Stadt Buenos Aires, die hier seit Monaten Wasserrohre reparieren sollten. Sie kommen um halb 10 und bedienen sich dann einmal beim Frühstück der Straßenkinder (Das Essen ist nicht schlecht). Gegen 10:00 bewegen sie sich irgendwo Richtung Arbeitsstätte, vor dem Mittagessen sehe ich sie aber gelegentlich noch irgendwo herumlungern oder Ping Pong spielen. Außerdem ist ihre Arbeit wahrscheinlich umsonst, weil das CAINA bald einer Straßenverbreiterung zum Opfer fallen und übersiedeln wird. Bei aller Nachsicht für lateinamerikanische Gemütlichkeit, das geht ein bisschen weit.

Ein Blick auf das "Hospital Aleman" in Buenos Aires

Der Staat wird mit Sicherheit von mächtigen Gruppen beherrscht, mein erster Eindruck ist aber nicht, dass er ein pures Instrument der herrschenden Klasse im marxschen Sinne ist. Die Regierung Kristina Kirchner versuchte beispielsweise letztes Jahr gegen heftigste Proteste der Großgrundbesitzer („el campo“) eine höhere Besteuerung auf Agrarausfuhren durchzusetzen, scheitere allerdings daran. Der Staat ist ganz offensichtlich einer von mehren mächtigen Playern, mit ganz spezifischen Partikularinteressen. Alle hassen den Staat und niemand vertraut seinen Institutionen. Auch die Wohlhabenden nicht.

Selbstverständlich können mehr als die Hälfte aller sozialen Probleme in Argentinien nur durch massive Umverteilung gelöst werden. In einem lateinamerikanischen Land können selbst das größte Wirtschaftswachstum und der optimalste Ressourceneinsatz der breiten Masse nur teilweise helfen, weil die Einkommen so ungleich verteilt sind. Gemäß Gini-Index (0= absolute Gleichverteilung, 100= ein Mensch erhält das gesamte Einkommen), liegt Argentinien bei 52,2. Das ist ein Wert wie Nigeria oder Papua Neu Guniea. Selbst die USA liegen mit 46,6 deutlich besser, Österreich kommt auf 30, Dänemark auf 24,7. Die argentinische Armutsquote liegt bei über 50 Prozent (!), Österreich liegt vergleichsweise bei 12 Prozent. Trotzdem ist es richtig, dass es nicht nur auf die Menge an umzuverteilenden Mittel, sondern auch auf deren Verwendung ankommt. Und wenn ein Teil im korrupten Apparat hängen bleibt und der andere suboptimal eingesetzt wird, dann bleibt unfassbare absolute Armut einfach ein Faktum.

Das Elendsviertel "Villa 31" hinter dem Bahnhof Retiro. Im Hintergrund die Skyline des schicken Geschäftsviertels "Microcentro."

Auch die Wohlhabenden wollen nicht, dass es in diesem Land Hungertote gibt, was erschreckenderweise manchmal der Fall ist. Natürlich ist ihr Hinweis richtig, dass dieser spezifische Fall in erster Linie eine Frage der Verwendung vorhandener Mittel und der Organisation ist. Eine funktionierende öffentliche Hand, die nicht von Korruption zerfressen ist und die Mittel im Ausmaß des argentinischen Nationalstaates zur Verfügung hat, müsste dieses Problem eigentlich spielend lösen können. Der Staat ist aber desorganisiert, korrupt und löst das Problem nicht. Die Reichen wollen genauso wie in Europa keine Steuern zahlen, weil sie damit Geld verlieren. Sie wollen aber auch keine Steuern zahlen, weil sie dem Staat und seiner Effektivität nicht trauen. Was in Europa ideologische Kampfrhetorik ist, kann hier zumindest begründet werden. Wieso sollte man einer völlig korrupten politischen Klasse, die nur in die eigene Tasche arbeitet, Steuern zukommen lassen wollen? Der kleine Mann und die kleine Frau, die selbst den Staat hassen, können diese Argumentation der Wohlhabenden gut nachvollziehen und unterstützen die Großgrundbesitzer bei ihren Straßenprotesten gegen Steuererhöhungen.


Argentinien ist ein vorindustrieller Agrarstaat. Hier hat der "Campo" das Sagen, wie einst bei uns der grundbesitzende Adel.

In Argentinien bedarf es wirklich eines Kulturbruchs innerhalb der öffentlichen Hand inklusive eines kompletten Elitenwechsels in der Verwaltung. Erst in einem zweiten Schritt könnte man überhaupt einmal eine sinnvolle Verwendung der Steuermittel andenken, bzw. eine umverteilende Steuerreform glaubhaft vorschlagen. Bevor hier für soziale Gerechtigkeit gesorgt werden kann, muss wohl das Staatswesen in Ordnung gebracht werden.