Sonntag, 31. Januar 2010

Das junge Argentinien hat noch Illu(Vi)sionen

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Kürzlich habe ich darüber geschrieben, wie extrem hoch mir das Bildungsniveau in Argentinien erscheint. Dabei habe ich mich natürlich in erster Linie auf urbane Studentenschichten bezogen. Das ist aber die gleiche soziokulturelle Gruppe die ich auch aus Österreich kenne und daher glaube ich, dass mein Vergleich legitim war. Ich habe auch argumentiert, dass ein hohes Bildungsniveau und ein starkes politisches Bewusstsein Zwillinge sind. Diesmal möchte ich über das erstaunliche Ausmasz der hiesigen Politisierung schreiben.

Argentiniens Jugend ist politisch und links

Die Rechtsfakultaet ist zwar nicht so eine Kaderschmiede wie die Sozialwissenschaften, hat aber auch eine starke Linke.

In Argentinien gibt es noch Illusionen. Bei den folgenden Zahlen stütze ich mich ausschließlich auf Einschätzungen meiner Freunde und Bekannten, die ich allerdings durch meine eigenen Erfahrungen maximal bestätigt sehe. Rund ein Drittel der 350.000 der Studierenden auf der UBA (Universität von Buenos Aires) sind irgendwie politisch aktiv. Das Klima au der UBA ist völlig politisiert, 80% der Menschen haben ein politisches Bewusstsein. Die große Mehrheit sind Linke. Es dürften auch mehr als die Hälfte der Studierenden an den Wahlen zur Fakultätsvertretung teilnehmen. Zwar gibt es Privatuniversitäten auf denen ein anderes Klima vorherrscht, die öffentliche UBA ist in Buenos Aires aber ob ihrer Größe extrem dominant. Die gemäßigt trotzkistische Partei „Partito Obrero“ (Partei der Werktätigen) fährt zwar bei den Werktätigen nur minimale Wahlerfolge ein, ihre Studentenorganisation aber hat die Mehrheit in der Vertretung von drei der 13 Fakultäten der UBA. Andere Fakultäten werden von studentischen Ablegern des Peronismus beherrscht, andere wieder von Ablegern der zentristischen „Radikalen Partei“. Eine nennenswerte konservative Kraft gibt es nicht.

Meine eigenen Erfahrungen

- Die vier Argentinier/innen die im Laufe des Jahres in meinem Haus wohnten, waren alle extrem politisiert, unglaublich gut informiert und gebildet. Zwei waren selbst politisch aktiv. Alle waren Linke.
- Mein Hausbesitzer, ein Anwalt Anfang 30, ist ein glühender Linksperonist.
- Sämtliche Menschen die ich sonst kennen gelernt hatte, Freunde von Freunden etc. waren meist politisch interessiert, vom Tangolehrer bis zur Uni-Assistentin.
- Drei Balett-Taenzerinnen die ich im Laufe meiner eigenen Tanztaetigkeit kennenlernte, waren sehr politisch, eine auch aktiv.
- Auch einige völlige Zufallsbegegnungen waren erstaunlich. Beim Autostoppen habe ich z.B. drei junge Aktivisten des „Partido Obrero“ mitgenommen.

In der studentischen Mittelklasse trifft man kaum jemanden ohne politisches Bewusstsein (natürlich habe ich mit der Jugend der Oberschicht nichts zu tun, aber die kann ja zahlenmäßig nicht ins Gewicht fallen). Das ist ein gewaltiger Gegensatz zu Europa, wo politisches Interesse auch an der Uni ein Minderheitenprogramm ist und politisches Engagement sich überhaupt auf eine kleine Hand voll Leuten reduziert. Insofern lebt Argentinien meiner Meinung nach ein bissl in den 1970ern. Das drückt sich nicht nur in der starken und eindeutig linken Politisierung der Jugend aus, sondern sogar in der (maennlichen) Haarmode. Lange Haare und Vollbart sind in studentischen Kreisen sehr schick und zu meinem Erstaunen auch beim weiblichen Publikum sehr nachgefragt. Es ist daher nicht schwer zu erraten, in welche Richtung sich mein eigenes Aussehen seit Monaten entiwckelt...

Institutionelles Gefuege

Das Elitegymnasium Carlos Pellegrini in Buenos Aires wird wieder einmal besetzt.

Die Linke hat immer gegen den Elitebegriff gekämpft und teilweise Ersatzvokabel erfunden, so ist der Kader nichts anderes als eine Elite in Kommunistensprech. Faktum ist, dass die Linke immer ihre spezifischen Eliten hervorgebracht hat und dies meist nicht zum Nachteil der Gesellschaft war. Über den Widerspruch der Linken und ihrer Eliten muss aber an anderer Stelle diskutiert werden. Ich glaube jedenfalls, in Buenos Aires funktioniert die linke Elitenreproduktion ausgezeichnet. Dafür ist nicht nur die extrem politisierte UBA (Uni) verantwortlich, es gibt noch drei wesentliche institutionelle linke Kaderschmieden. Zugang zu den drei anerkanntesten und besten Gymnasien der Stadt bekommt man nur durch eine Aufnahmsprüfung, es ist unmöglich sich einzukaufen. Dieser Modus ist natürlich sozial höchst selektiv, es werden aber nicht nur die Unterschichten aussortiert, sondern auch alle reichen Kinder ohne entsprechenden kulturellen Background. Überbleiben also die Kinder mit dem höchsten kulturellen Kapital und das sind in der Regel Sprösslinge aus großbürgerlichen und intellektuellen Kreisen. Ich glaube die soziale Mixtur ist dem akademischen Gymnasium in Wien nicht unähnlich. Das Klima an den Schulen ist jedenfalls politisch extrem progressiv und avantgardistisch, der Grad an politisch organisierten Schüler/innen ist sehr hoch. Der Nachteil: Durch dieses Konzentrat ist das Niveau anderer öffentlicher Schulen wesentlich schlechter. Obwohl ich niemanden kenne der auf einer dieser drei Schulen war sagen meine Bekannten und Freunde, dass die Ausbildung hervorragend ist und der Ruf diese Schulen besucht zu haben, sowie das entsprechenden Netzwerk extrem weiterhelfen.


Hat Che Guevara punkto Zigarre eigentlich von Bert Brecht abgeschaut?

Antikapitalismus und neomarxistische Denke sind in studentischen Kreisen absolut Mainstream. Als Sozialdemokroete kann ich mich natuerlich eher mit der deutlich kleineren Gruppe der Linksperonist/innen identifizieren. Diese sind aber auch nur innenpolitisch moderat, geopolitisch sind sie ebenfalls neomarxistisch. Kein Wunder bei einem Land, das die Brutalitaet verschiedener Imperialismen erlebt hat. Bert Brecht sagt, man muss so radikal sein wie die Wirklichkeit. Wenn ich die lateinamerikanische Wirklichkeit betrachte, ist eine radikalere Attituede als der traditionelle europaeische Sozialdemokratismus (damit meine ich nicht Deformation der letzten 25 Jahre) wohl legitim.

Dienstag, 19. Januar 2010

Die Arbeit im CAINA (Teil 4)

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Der folgende Text ist eine Zusammenstückelung von eigenen Erfahrungen, sowie von Hintergrundinformationen aus der Fachliteratur. Die Schrift „Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit.“ (1970) von Paulo Freire, sowie die Bücher von Jürgen Sand: „Soziale Arbeit mit Straßenkindern“ (Frankfurt 2001) und von Reiner Engelmann: „Straßenkinder im Dschungel der Großstädte“ (München 2002) beantworten viele offene Fragen und ermöglichen eine Kontextualisieurng meines Projekts. Die Passagen die nicht auf eigene Erfahrungen zurückzuführen sind, werden explizit als solche gekennzeichnet.

Pädagogik der Unterdrückten und Assistenzialismus

Paulo Freire (Pädagoge und Befreiungstheologe gestorben 1997), war in den 1960ern maßgeblich am Aufbau einer „Educacion popular“ beteiligt. In seiner Schrift „Pädagogik der Unterdrückten“ geht es um den Bruch mit der traditionellen autoritären Erziehung und um eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft durch die so genannten Marginalisierten selbst. Die Marginalisierten, also die verarmten und bildungsfernen Massen, sollen nicht von missionarischen Revolutionären unter zur Hilfename einer ideologischen Fremdsprache indoktriniert werden. Vielmehr soll an der Lebensrealität der Marginalisierten, an deren Erfahrungen und deren Sprache angeknüpft werden und der Prozess der Bewusstmachung (portugiesisch: Consientizacao) vorsichtig begleitet werden. Die Educacion popular glaubt an die Bevölkerung als treibende Kraft der gesellschaftlichen Veränderung.

Paulo Freire bezeichnete das Bewusstsein der Unterdrückten als „Kultur des Schweigens.“ Diese würden sich durch die verächtlichen Augen der Mächtigen sehen und sich somit als nichtig betrachten.

Freire, der selbst erfolgreiche Alphabetisierungskampagnen in Brasilien durchführte, wurde zu einer wichtigen Inspirationsquelle für die Sozialarbeit im Lateinamerika der letzten Jahrzehnte. Heute spricht man in diesem Zusammenhang laut Jürgen Sand von der „Pädagogik der sozialen Bewegung“, die sich auch auf die Arbeit mit Straßenkindern bezieht. Kinder werden dabei als handlungsfähige Subjekte betrachtet, die ein großes Interesse an gesellschaftlicher Veränderung haben und selbst wesentlich dazu beitragen sich Gehör und Respekt zu verschaffen. Die Pädagogik der sozialen Bewegung grenzt sich ganz deutlich von der traditionellen Armenfürsorge ab, deren konzeptionelle Grundlage heute als Assistenzialismus bezeichnet wird.

Als Assistenzialismus wird in der Fachliteratur gemäß Jürgen Sand eine traditionelle und wenig emanzipatorische, oft durch kirchliche Organisationen ausgeübte Form der Armenfürsorge und Arbeit mit Straßenkindern bezeichnet. Assistenzialistische Projekte holen beispielsweise Kinder von der Straße, ohne ihnen langfristige Alternativen zu bieten. Die Bindung der Kinder und Jugendlichen an die Institution erfolgt mittels Essen, Kleidung, Medizin und Unterkunft. Es gibt keinen strukturierten Plan bezüglich weiterführender Maßnahmen oder einer gezielten pädagogische Begleitung. Die Versorgung mit Nahrungsmittel, Kleidung und Geld wird v.a. von den durch Jürge Sand befragten Sozialarbeiter/innen aus Bolivien strikt abgelehnt. In einem ersten Schritt soll lediglich eine Unterstützung und Begleitung in medizinischen Fragen angeboten werden. Die assistenzialistischen Projekte sind oft religiös motiviert und helfen auf einer karitativen Ebene, ohne die Eigenständigkeiten der Kinder zu fördern. Die Missionierung ist meist ein ebenso wichtiges Motiv wie die unmittelbare Hilfe.

Obwohl das CAINA überhaupt nicht autoritär geführt wird, kann es den Ansprüchen der „Pädagogik der Unterdrückten“, bzw. der „Pädagogik der sozialen Bewegung“ meiner Meinung nach nicht vollständig gerecht werden. Das CAINA wird, so glaube ich, im Laissez-faire Stil geführt. Aus einer Mischung von antiautoritärer Grundhaltung und Wurschigkeit, werden Regeln vermieden und strukturierte Konzepte für die Entwicklung der Kinder verworfen. Es spielt auch eine gewisse lethargische Philosophie mit, der gemäß das Morgen nicht geplant werden kann, Ziele überschätzt sind und die Erleichterung des Lebens der Kinder im Heute das Entscheidende ist. Diese für Lateinamerika nicht untypische Herangehensweise ist für Europäer/innen sehr schwer nachvollziehbar. Ich glaube, dass das CAINA nicht auf Grund einer autoritären, sondern wegen einer Laissez-faire Haltung gewisse assistenzialistische Charakteristika aufweist. Diese Aussage möchte ich mit vier Argumenten stützen:


1. Der Mangel an Motivation

Der Fotoworkshop machte vor Weihnachten eine Ausstellung mit sämtlichen Fotos der Kids. Jede/r durfte sein Foto auf Wunsch mitnehmen.

Den Sozialarbeiter/innen fehlt es an Motivation. Ich habe keine Statistik über die Streiktage und Krankenstände, weiß aber, dass regelmäßig gestreikt wurde und die Leute oft krank waren. Die Fluktuation ist hoch, in den 1,5 Jahren die Paul Gründorfer und ich insgesamt im CAINA waren wechselten mehr als die Hälfte der Sozialarbeiter/innen. Das Team ist extrem jung, niemand bleibt länger als zwei bis drei Jahre. Dies hat mehrere Gründe:

a) Die Sozialarbeiter/innen sind chronisch unterbezahlt. Unterbezahlt bedeutet, dass fast alle noch einen Zweitjob haben, weil sie mit dem CAINA-Gehalt in Buenos Aires nicht das Auskommen finden. Manche sind noch gar nicht mit dem Studium fertig, arbeiten im CAINA und haben noch einen Job. Dass diese Leute mit 25 schon ausgebrannt sind, ist nahe liegend.

b) Das Arbeitsumfeld ist kein Honiglecken. Man freute sich immer wenn nur wenige Kinder kamen, obwohl das CAINA eigentlich versuchen sollte so viele Kids wie möglich zumindest einen Tag von der Straße zu bringen. Weniger Kinder bedeutet weniger nervenaufreibende Beschäftigung mit übermüdeten, physisch verletzten, teilweise (auto)aggressiven tendenziell depressiven und oft von den Nachwirkungen des Drogenkonsums der vorangegangenen Nacht gezeichneten Kindern und Jugendlichen. Sozialarbeiterinnen müssen sich ständig gegen sexistische und machistische Sprüche und Witze wehren. Männliche Sozialarbeiter sind – wenn ein Kind auszuckt – physisch gefährdet. Es klingt unglaublich, aber für eine kräftige 17-jährig die durchdreht und mit Metallsessel um sich schmeißt braucht man fünf Männer um sie aus dem CAINA zu befördern. Ich selbst habe Sozialarbeiter mit blauen Augen und blutigen Nasen gesehen. Draußen angelangt dreschen Rausgeworfene bis zu einer halben Stunde gegen die metallene Gefängnistür, so dass es im gesamten CAINA donnert. Um zwei wutentbrannte 17-jährige die sich mit der Gabel abstechen wollen auseinander zu halten, bedarf es fast des gesamten Sozialarbeiterteams. Derartige Eskalationen passieren zwar nur alle paar Wochen, Scharmützel geringerer Abstufung sind jedoch das tägliche Geschäft. Es ist schlicht ruhiger und bequemer wenn weniger Kinder kommen.

c) Die Kinder sind nicht dankbar. Sie haben nie darauf gewartet, dass ihnen jemand hilft, sie haben auch nie darum gebeten. Sie warten auch nicht darauf ins bürgerliche Leben eingegliedert zu werden, sondern wollen – trotz aller Risiken der Straße – ihre Freiheit auskosten. Immerhin sind sie dort ihre eigenen Herren. Niemand hat auf Sozialarbeiter/innen gewartet. Noch weniger wartet man auf Weltverbesserer aus Europa, die mit gebrochenem Spanisch das hundertste – zum Scheitern verurteilte – Theaterprojekt mit Straßenkindern aufziehen wollen.

d) Eine gewisse Beamtenlethargie ist im CAINA, das nicht von einer NGO sondern von der Stadt unterhalten wird, unübersehbar. So weit ich das mitbekommen habe beschränkt sich das städtische Controlling auch auf die Einhaltung von Hygienevorschriften.


2. Der Mangel an Zielen

Die Kids friedlich beim Zeichenworkshop

Zwar sind die Ziele des CAINA als niedrigschwellige Erstanlaufstelle mit Vermittlungscharakter niedrig gesteckt, ich frage mich aber trotzdem, ob man nicht mehr herausholen könnte. Ich glaube wenn man schon 1.000 verschiedene Straßenkinder pro Jahr im Haus hat, sollte man alles daran setzen diese gleich unmittelbar vor Ort zu inspirieren und zu animieren. Täglich kommen zwei bis vier Lehrer/innen, sowie freie Angestellte die Workshops abhalten, von den 14 Sozialarbeiter/innen ganz abgesehen. An Personalressourcen mangelt es also nicht. Man bietet den Kindern zwar eine Reihe an Angeboten die zwischen Schulbildung und Unterhaltung angesiedelt sind. Ich finde die Workshops zu den Themen Foto, Malen, Zirkus etc. auch gut. Diese Aktivitäten stehen aber meiner Auffassung nach zu wenig im Vordergrund, außerdem wurden sie im letzten Jahr erheblich gekürzt. Die Workshops erwecken überdies oft mehr den Eindruck die Kinder temporär zu beschäftigen, als ihre Talente zu entfalten. Ich glaube sie haben auch gar nicht den Anspruch die Kids gezielt zu fördern sondern – dem Konzept einer Erstanlaufstelle entsprechend – ihnen die Zeit angenehm zu vertreiben. Ich finde man könnte die Ansprüche da schon ein bisschen hinaufschrauben.

Bis zu einem gewissen Grad werden die Kinder versorgt, aufbewahrt und verwaltet. Die kulinarische Abspeisung nimmt im Tagesablauf eine zentrale Rolle ein, die am häufigsten von den Kindern gestellten Fragen lauten: „Wann werden wir essen?“ bzw. „Was essen wir heute?“ Es fehlen klare Ziele, was mit den Kids passieren soll. So werden die Kinder z.B. nicht individuell gefördert, in ihren Stärken gestärkt oder animiert sich im Gelernten zu beweisen. Dabei könnten sie bei Vorführungen allen zeigen was sie punkto Jounglieren, Malen oder Rechnen schon drauf haben. Auch der Umstand dass die fundamentale Kulturtechnik unserer Zeit – das Internet – nicht vorhanden ist zeigt, dass man nicht genau weiß was man mit den Kindern eigentlich anfangen soll. Die Sozialarbeiter/innen vermitteln daher oft den Eindruck einer etwas unbeholfenen Ratlosigkeit, die Kinder den einer ermattenden Langeweile.


3. Regelwillkür

Das kleine aber feine Büro für Direktor, Vize und Generalsekretärin.

Meiner Auffassung nach fehlt dem CAINA ein sinnvolles pädagogisches Gesamtkonzept. Vor allem klare Regeln – ein Grundpfeiler jeder sozialen Ordnung – sind nur vage vorhanden. Immer werden Mittel und Wege gefunden die Regeln neu auszulegen, oder aus Gründen der Bequemlichkeit und zur Vermeidung von Konfrontationen zu ignorieren. Da es auch an klaren Zielsetzungen für die Entwicklung der Kinder fehlt, können solche Regeln auch nicht einem entsprechenden Ziel angepasst werden. Dadurch entsteht oft der Eindruck von Willkür. Nicht zuletzt sind es natürlich auch allgemeine kulturelle Differenzen, die ich hier dem CAINA im Speziellen umhänge. Die wichtigsten pädagogischen Probleme sind:

a) Wer insistiert setzt sich durch: Tatsächlich hängen die Möglichkeiten dessen was die Kinder machen dürfen und was nicht selten von einheitlichen Regeln ab, sondern von dem Druck, den die Kinder (oft mittels Lautstärke) auf die Sozialarbeiter/innen ausüben können. Meine Versuche einheitliche Regeln bei der Frühstücksausgabe durchzusetzen wurden regelmäßig von Sozialarbeiter/innen unterminiert, die sich als temporäre Anwälte von durchsetzungsfreudigen CAINA-Besucher/innen profilierten.

- Ein 16-jähriger der bei der Rotation des Volleyballspiels seine Position partout nicht wechseln möchte, darf für den Rest des Spiels auf seinem Platz (vorne Mitte) bleiben, obwohl dann logischerweise nie ein anderes Kind auf diesem attraktiven Platz stehen kann.
- Ein 14-jähriger der ein Tischtennisspiel zwischen zwei anderen Kindern sabotiert (Netz abhängen etc.), weil er jetzt sofort spielen will wird nicht zurechtgewiesen, sondern es wird Druck auf die anderen beiden ausgeübt ihr eben begonnenes Spiel schneller zu beenden.
- Kinder die lang genug insistieren, dass sie diesen oder jenen Frühstücksbestandteil haben möchten, bekommen ihn letztlich, obwohl die per Küchenplan vorgegebene Menge für den jeweiligen Tag bereits ausgegeben wurde und die Lebensmittel am Folgetag, aber spätestens am Ende der Woche fehlen. Schlimmer ist aber der Umstand, dass jene fünf Kids die zuvor das selbe wollten aber die Antwort dass nichts mehr da sei akzeptiert hatten, nun an meiner Glaubwürdigkeit zu zweifeln beginnen und realisieren, dass man insistieren muss um etwas durchzusetzen.

Hier posiere ich zwischen den Machthabern des CAINA. Links der Direktor Emilio. Er ist nicht nur ausgesprochen geduldig, sein Umgang mit den Kindern ist extrem herzlich, authentisch und liebevoll. Rechts Chechu, die so etwas wie die Generalsekretärin und in nicht pädagogischen Fragen die eigentliche Entscheidungsinstanz ist. Dank ihr wurde die tägliche Essensausgabe exakt rationiert und andere sinnvolle Regelungen getätigt. Für mich wohltuende Ordnungsmaßnahmen im Semichaos.

b) Wer sich aufführt wird beachtet: Verwandt mit Problem 1 ist auch jenes, dass Kinder die sich auffallend unkooperativ verhalten unfassbar viel mehr Aufmerksamkeit ergattern als ihre entspannteren Kolleg/innen. Dies animiert die ständig unter Aufmerksamkeitsdefizit mangelnden Kids noch mehr Chaos zu stiften.

- Mir ist folgendes aufgefallen: Wenn ich den Umstand einfach ignoriere dass sie mir den Käse oder die Butter aus der Küche stehlen, bringen sie das Diebsgut enttäuscht wieder zurück oder lassen es im Aufenthaltsraum liegen und ein/e Sozialarbeiter/in bringt es mir irgendwann wieder. Rege ich mich hingegen auf, sind die Täter/innen entzückt über den Erfolg ihres Streiches.

c) Sanktionen werden willkürlich verhängt: Manchmal werden Sanktionen eher dann verhängt wenn sich Sozialarbeiter/innen akut gestört fühlen, als wenn Kinder sich wirklich gemein oder boshaft verhalten.

- Ein 15-jähriger ist beim Mittagessen sehr laut, lebhaft und wild. Trotz Mahnungen durch eine Sozialarbeiterin singt und klascht er, schließlich hüpft er auf einen Sessel um die anderen zum Mitmachen zu animieren. Tatsächlich beginnen etliche im Rhythmus zu klatschen. Unser Freund hat sich weder aggressiv noch beleidigend gegenüber Kolleg/innen verhalten. Dieser nicht prinzipiell unkooperative Zeitgenosse wurde für diesen Tag umgehend des CAINAs verwiesen, weil die mahnende Sozialarbeiter/in ihre Autorität nicht untergraben sehen wollte.


4. Fürsorge statt Partizipation

Die Köch/innen, meine vier geliebten Chef/innen. Als einziger Mann in der Küche und als einzige Person mit einer Körpergröße über 1,20 Meter, waren große Gewichte (Fleischkisten) und hoch abgestellte Gegenstände mein Spezialgebiet.

Wie sehr das CAINA ein Versorgungsapparat ist zeigt sich an der impliziten Philosophie, der dem gesamten Konstrukt zu Grunde liegt. Der Deal mit den Kindern lautet etwa so: Es gibt nur ganz wenig Regeln, ihr braucht keine Verantwortung zu übernehmen und das zahlreiche Personal macht alles für euch, dafür müsst ihr aber alles so schlucken wie ihr es vorfindet und habt Null Mitbestimmungsrechte. Ich finde hingegen, es sollte genau umgekehrt sein: Ihr dürft an einigen Entscheidungen über die Gestaltung eures Tagesheimes partizipieren, dafür müsst ihr aber auch eine entsprechende Verantwortung tragen. Stattdessen wird den Kindern fast alles vom Apparat vorgesetzt und sie werden bedient.

Frühstück, Mittagessen, Jause und dazwischen Wasser oder sonstige Wünsche werden fast wie im Restaurant erfüllt. Jeden Tag kommen andere Externe um einen Workshop anzubieten, den die Kids dann konsumieren können. Wieso werden die Kinder nicht in die Planung und Durchführung von Workshops miteinbezogen? Wieso bereiten die Kinder nicht selbst das Frühstück zu? Wieso waschen sie nicht selbst das Geschirr ab? Die Antwort wäre wohl, dass das Frühstück nicht von ihren Launen abhängen darf, dass sie aus dem Eiskasten Lebensmittel mitgehen lassen würden, dass sie nicht mit gefährlichen Gegenständen hantieren dürfen, weil sie sich im Streitfall damit gegenseitig verletzen würden, dass sie letztlich Chaos stiften würden. Meine Erfahrung war jedoch eine ganz andere. Jedes Mal wenn ich einem Kind auch nur eine ganz kleine Aufgabe übertragen habe, war die Freude etwas Wichtiges machen zu dürfen so groß, dass es mit besonderer Gewissenhaftigkeit ausgeführt wurde. Manchmal habe ich Kids gebeten die Tische mit mir abzuräumen, mir beim Heben von schweren Gegenständen zu helfen oder irgendetwas irgendwo hinzutragen. In diesem Moment änderte sich das Betreuer-Betreute Verhältnis in eine kurzfristige Partnerschaft mit gemeinsamen Zielen.

Die Kinder bei einem Volleyballmatch in der Sporthalle.

Ich bin absolut überzeugt, dass eine geordnete Partizipation von heute auf morgen fast reibungslos funktionieren würde. Wenn man der Eigenverantwortung und auch der Eigeninitiative der Kinder entsprechenden Spielraum lässt, nehmen sie diese Chance sofort war. Ich glaube – um meinen wichtigsten Arbeitsbereich herauszugreifen –, dass das Zubereiten des Frühstücks und das Abwaschen des Geschirrs durch die Kinder sich nach einiger Zeit so einspielen würden, dass Unruhestifter von den erfahrenen Kindern selbst zurechtgewiesen würden.

Der Altersschnitt liegt bei 15,4, das bedeutet etliche der Kinder sind keine Kinder sondern Jugendliche zwischen 16 und 18. Das ist ein Alter, wo man in Österreich schon eine Lehre abschließt. Diese Altergruppe kann man nicht nur unterhalten, man muss ihnen auch Möglichkeiten geben zu gestalten. Abgesehen von den täglichen Routinetätigkeiten fallen da noch etliche Möglichkeiten an. Vom Ausmalen der Wände bis zum Reparieren der hauseigenen Fahrräder, es gäbe genug Betätigungsfelder zur Beschäftigung der Kids.

Stattdessen ist aber für jeden Handgriff ein/e Angestellte/r zuständig, die Eigenverantwortung der Kinder im CAINA liegt bei Null. Entsprechend herrscht auch immer eine Grundstimmung der Langeweile vor. Es gibt keine Versammlungen bei denen die Kinder nach ihrer Meinung gefragt werden, es gibt keine Aufgaben mit denen sie betraut werden, es gibt keine Herausforderungen denen sie sich stellen können. Das ist ein Fürsorgesystem im klassischen Sinne. Der sozial Bedürftige wird beherrscht, dafür aber umsorgt.


Ein Problem im CAINA ist, dass es keine Heizung gibt. Bei Null Grad und hoher Luftfeuchtigkeit ist das nicht besonders angenehm. Als erfrorener Mensch war ich sehr froh,, dass mein Hauptarbeitsplatz neben den Riesenöfen der Küche war. Ich glaube ein geheiztes CAINE würde im Winter wesentlich mehr Kinder in die warme Stube locken.

Eine Empfehlung

Wieso habe ich diese Kritikpunkte nicht selbst im CAINA platziert? Nun, erstens hat es viele Monate gedauert meine Eindrücke in Erkenntnis umzusetzen. Zweitens arbeiten dort 15 professionelle aber völlig unterbezahlte Sozialarbeiter/innen mit Hochschulabschluss, die alles andere brauchen als einen obergescheiten Europäer der ihnen in gebrochenem Spanisch erklärt, wie sie ihren Job zu machen haben. Nach zehn Jahren politischer Tätigkeit bin ich Realist genug um einigermaßen einschätzen zu können, wann Veränderungsambitionen aussichtslos sind und wann nicht.

Von anderen Auslandsdienern weiß ich, dass ihre Stellen viel zuviel Verantwortung für viel zu wenige Arbeitskräfte bedeuten. Im CAINA gibt es ein umgekehrtes Problem. Es gibt zwar klar abgesteckte Arbeitsfelder für Auslandsdiener, diese sind aber letztlich Küchenhilfsdienste, nicht gerade verantwortungsschwanger und entsprechend wenig attraktiv. Nichtsdestotrotz ist das Arbeitsumfeld – vor allem in der Küche – sehr locker und angenehm. Kurz: Die Menschen sind das Plus, die Arbeit das Minus. Die Stadt Buenos Aires kann ich jedem zukünftigen Auslandsdiener als Ort zum Leben nur wärmstens empfehlen. Den Auslandsdienst im CAINA lege ich nur zäheren und abgeklärten Persönlichkeiten ans Herz, die auch über viele Monate an Routinearbeit nicht verzweifeln und sich keine Illusionen über die Flexibilität staatlicherer Bürokratien machen.

Der Standort bestimmt den Standpunkt. Als Mitarbeiter in der Küche habe ich bereits nach wenigen Wochen den Standpunkt der Küche übernommen und ihre Interessen zu den meinen gemacht. Diese unterscheiden sich naturgemäß von den Interessen der Sozialarbeiter/innen und der Direktion.