Montag, 30. November 2009

Die Zeit ist eine Tochter der...?

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Eine „Erstaunlichkeit“ (dieses Neologismus braucht man für Argentinien) die ich vergessen hatte zu berichten möchte ich jetzt nachholen:

Als ich im Jänner ankam war Sommerzeit. Dann wurde im März auf Winterzeit umgestellt. Im September brach – wie jedes Jahr – eine Diskussion aus, ob wieder auf Sommerzeit zurückgestellt wird. Argentinien hat sich dieses Jahr darauf nicht einigen können und bleibt bei der Winterzeit!

Samstag, 21. November 2009

Aufruf zur Fußgängerrevolte

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PARE, so heißt STOP in der argentinischen Höflichkeitsform. Das Schild dient an den Kreuzungen übrigens nur zur Zirde

Der aggressive Unterton im heutigen Eintrag versucht gar nicht erst sich zu verstecken. Dies ist nicht verwunderlich, weil es diesmal um den Verkehr in einer lateinamerikanischen 13-Millionen-Metroploe geht. Das geht zwar ohne Regeln, aber nicht ohne Emotionen.



Der Verkehr in Buenos Aires ist vor allem durch zwei Phänomene geprägt: Unfassbare Rücksichtslosigkeit und unfassbare Hektik. Wer sich brutaler verhält, setzt sich durch. Da Bluffen eine wichtige Rolle spielt, bremsen die Autos nie ab, auch nicht wenn man als Fußgänger/in irgendwo die Straße überquert. Damit signalisieren die Autos dass du divh verdammt noch einmal beim überqueren zu beeilen hast. Wie in allen Staaten denen man als eurozentristischer Chauvinist punktuelle Zivilisationsdefizite attestieren würde (eine überhebliche Herblassung, die mir in Momenten des Zorns manchmal einschießt), haben Fußgänger/innen in Buenos Aires keine Rechte. Zebrastreifen bedeutet nichts, wer selbige glaubt verwenden zu können wird vorher niedergehubt und nachher beschimpft. Weder Autos noch Busse haben Skrupel vor einer roten Ampel mitten am Zebrastreifen stehen zu bleiben. Motorräder rasen zwischen überquerenden Fußgänger/innen wie Irre hindurch. Auch Fußgängerampeln sind keine Garantie auf Sicherheit, vor allem abbiegende Fahrzeuge sind oft der Meinung in diesem Fall Vorrang zu haben.

Es gibt einen Haufen Taxis in Buenos Aires, sie sind hier schwarz-gelb. Taxis sind auch deshalb verhasst, weil sie – wenn leer – vor Kreuzungen immer auf 10 km/h abbremsen um keine Kunden zu verpassen. Das erregt den Zorn der anderen Autofahrer/innen.

Generell fahren die Portenos (so heißen die Einwohner/innen von Buenos Aires) mit Vollgas und Vollbremsung. Sie beschleunigen prinzipiell wie die Irren, fahren mit hoher Geschwindigkeit in die rote Kreuzung und bremsen dann wie verrück an der Ampel ab. Was das für Spritverbrauch und Fahrzeugabnutzung bedeutet kann man sich ausmalen. Für jeden Milimeter Vorsprung wird ein völlig überflüssiger Spurwechsel riskiert. Dabei schneidet man seinen Nachbarn natürlich bei hohem Tempo. Staut es sich hinter der nächsten Ampel schon, fährt man bei Orange selbstverständlich in die Kreuzung. Dass es gleich rot wird und die Querstraße damit total blockiert ist wird ohne Fingerzucken in Kauf genommen. Die Autobusse verhalten sich nicht anders als die PKW oder Motorräder. Besonders schlimm sind die Taxis. Sämtliche Gefährte machen einen Höllenlärm, wobei die alten Lastwagen und Autobusse nur noch von den auffrisierten Mopeden übertroffen werden, die – vorzugsweise nachts – mit ihrem ohrenbetäubenden Gedröhne die Luft zerreißen.


Der Colective Nr. 4 von meinem Balkönchen aus, mit Sicht auf die Kreuzung wo ich wohne, Urquiza und Garay. Mit diesem fahre ich jeden Tag in die Arbeit

Am gefährlichsten sind aber zweifellos die Colectivos, die Autobusse in Buenos Aires. Sie wurden in den 90er-Jahren privatisiert, jetzt ist jede der 180 Buslinien eine Privatfirma. Was ein profitmaximierender städtischer Personenverkehr bedeutet, wird im Folgenden ersichtlich: Die Busse sind zumeist mindestens 20 Jahre alt und hinterlassen immer eine Abgaswolke die jeden VÖST-Schlot staunen lässt. Sie sind vollgestopft mit Menschen, rattern ruckartig mit Höllenlärm durch die Stadt und bewegen sich wie pubertierende Autodromfahrer. Sie rasen bei Rot über die Ampel, überholen sich in engen zweispurigen Einbahnen gegenseitig, schneiden sich untereinander sowie andere Verkehrsteilnehmer/innen. Sie fahren schnell durch enge Gassen und verletzen bei ihren Manövern mit ihren Rückspiegel immer wieder einmal Fußgänger/innen die am einfach am Gehsteig gehen. Die Colectivos kommen in willkürlichen Rhythmen. Typisch ist, dass 15 Minuten keiner kommt und dann zwei auf einmal. Das Steilste was ich erlebt habe waren vier unmittelbar hintereinander. Kommen sie lange nicht, sind sie natürlich besonders überfüllt. Manchmal sind sie so voll, dass sie gar nicht stehen bleiben, was dann weitere 15 Minuten Wartezeit bedeutet. Die Busse bleiben – wie die U-Bahn – nur extrem kurz stehen, ein und aussteigen passiert halb im Fahren, manchmal wird man beim Einsteigen fast hinausgeschleudert, weil der Bus schon mit vollem Karacho losfährt, während man mit einem Bein noch am Asphalt steht. Wie alte Leute damit leben ist mir völlig unklar, man sieht wohl deswegen nur sehr wenige in den Öffis. Bei uns würden Charlie Blecher und Andreas Kohl ob solcher Zustände Volksbegehren, wenn nicht Volksaufstände initiieren.

Die Anzahl an Verkehrstoten ist extrem hoch, aber was soll ein Staat machen dessen Regeln prinzipiell ignoriert werden? Die an jeder Ecke stets gemütlich herumstehenden Polizisten von Buenos Aires kosten diese Zustände nicht einmal ein Achselzucken. Außerdem ist die Exekution von Strafen schwierig. Die Vernetzung zwischen den Behörden der einzelnen Provinzen ist schlecht. Es wird als Innovation gesehen wird, dass auch Nicht-Portenos die Verkehrssünden begehen demnächst abgestraft werden. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass mindestens die Hälfte der Verkehrsteilnehmer/innen aus der Provinz Buenos Aires (14 Mio. Einwohner/innen) und nicht aus Buenos Aires Capital Federal (3 Mio. Einwohner/innen) kommen, macht diesen Umstand besonders delikat.

Ein paar Taxis an meiner Kreuzung. Heute ist ein verregneter Samstag Nachmittag, daher ist relativ wenig los.

Da vom Staat nichts zu erwarten ist, setze ich auf Selbstorganisation und rufe zum zivilen Widerstand zwecks Disziplinierung motorisierter Verkehrsteilnehmer/innen in Buenos Aires auf. Meine Tipps:

Der konsequente Übersteiger: Ein Auto steht mitten am Zebrastreifen vor der roten Ampel, du hast grün. Geh nicht um das Auto herum, sondern steig über die Kühlerhaube

Die Temporegulierungs-Blockade: Ein Auto reduziert nicht das Tempo während man einen Zebrastreifen überquert, weil es kalkuliert, dass es sich ausgeht wenn man selbst einen Zahn zulegt. In diesem Falle empfehle ich breitbeinig und frontal zum Auto stehen zu bleiben um ein Abbremsen zu erzwingen

Der Reflextest: Ein Auto fährt zu schnell in eine Kreuzung mit Zebrastreifen, an dessen Rand man steht um zu queren. Mein Tipp: Das Auto durch einen ruckartigen angedeuteten Schritt schrecken und eine Bremsung provozieren.

Der Disziplinierungs-Kick:Weiters empfehle ich aufbindbare Stahlkappen für Front und Ferse zu kaufen. Alle Gefährte die einen am Zebrastreifen aus der Querstraße kommend schneiden oder hinten zu knapp auffahren, bekommen einen Tritt ins Blech (Motorräder nicht!). Vor allem Taxis.

Die Andeutung der Brandmarkung: Taxis die bereits mehrere Tritte im Blech haben sollte man zum Schein aufhalten, als wollte man ihre Transportdienstleistung in Anspruch nehmen. Beim öffnen der Tür empfiehlt sich ein Spruch wie „Marcardo“ (markiert), ehe man die Tür zuknallt und weitergeht. Das wird die ungeduldigen Taxler von Buenos Aires zur absoluten Weißglut treiben.

Die geduldige Verzögerung: Busse die es besonders eilig haben, kann man durch besonders langsames Ein- und Aussteigen eventuell ein bisschen Geduld beibringen. Vielleicht verliert man eine Zeitschrift in der Türe und muss sie umständlich aufheben.

Der beharrliche Free Ride: Sollte ein Bus wieder einmal willkürlich an einer Haltestelle nicht stehen bleiben empfehle ich – fall es sich ausgeht – bis zur nächsten roten Ampel zu laufen, dort auf die Einstiegsplattform (die 10 cm. Breite sind Platz genug zum Stehen) zu springen und sich an den äußeren Halterungen festzuhalten. Der Busfahrer kann wählen ob er die Tür gleich öffnet, oder du eben ein bisschen draußen mitfährst und bei der nächsten Haltestelle einsteigst.

Das Soli-Drücken: Auch von Innen kann man dieser Anhalte-Willkür des entgegenwirken, indem man – sobald sich abzeichnet dass er nicht stehen bleibt – solidarisch mit den draußen wartenden den Ausstiegsknopf drückt.


Der 32er hinterlässt immer eine feine Rauchwolke die durch mein offenes Fenster dringt um meinen Raum vollständig auszufüllen. Punkto Lärmpegel können Kreissägen bei ihm Nachhilfe nehmen. Er kommt alle zehn Minuten, manchmal beglücken mich gleich drei hintereinander.

Kürzlich habe ich mich über einen Autobus unfassbar geärgert, der mir während des Überquerens einer breiten Straße den Zebrastreifen blockiert hat um sich vor der roten Ampel ordentlich einzubremsen. Im Affektzorn habe ich ihm dem Fahrer und die Scheibe gehaut und siehe da er hat ein paar Meter zurückgeschoben und ich konnte gerade weitergehen. Es zahlt sich also aus sich zu wehren. Diese Kampfschrift an alle Fußgänger/innen von Buenos Aires werde ich irgendwann noch auf Spanisch übersetzen und auf roten Flugzettel in der Avenida Corrientes verteilen.

Mittwoch, 11. November 2009

Alle reden übers Wetter. Ich auch.

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Zu diesem Eintrag zeige ich eine Fotoserie von einem Wochenendausflug auf eine Insel im Delta des Rio de la Plata. Die zahlreichen Inseln grenzen unmittelbar an Tigre, den nördlichsten Ausläufer von Gran Buenos Aires an und sind bewohnt.


Für Auslands-Österreicher/innen gibt es online umfassende Möglichkeiten sich über Vorgänge in der Heimat zu informieren. Neben den Onlineausgaben der Tageszeitungen sind es vor allem die ZIB 2 und das Mittagsjournal, die einen via Internet auf dem Laufenden halten. Bei mir so wie bei anderen linksliberalen Exilanten-Kolleng/innen sehr beliebt ist auch das Publizistische Werken des Robert Misik in seiner Internet-Videosendung.

Der Hafen von Tigre. Sämtliche Personen- und Frachtboote zu Versorgung der Inselbewohner/innen legen hier an und ab. Die Personenboote gehen regelmäßig und sind quasi der Autobus für die Menschen auf den Inseln.

Die Anlegestelle an der Insel.

Die Sinnhaftigkeit im Rahmen einer heimischen Nachrichtensendung über das österreichische Wetter informiert zu werden ist hingegen enden wollend. Einen praktischen Zweck gibt es nicht und der emotionale Wert der Information speist sich eher aus der untersten Schulblade der tiefen Gefühlskiste. Schadenfreude wenn das Wetter in Österreich schlechter ist als hier, Genugtuung wenn es hüben und drüben regnet, Neid wenn es drüben besser ist als hier und Missgunst wenn in Wien und Buenos Aires die Sonne scheint. Außerdem wird man paranoid: Der diesjährige (österreichische) Sommer ist in meiner subjektiven Auffassung wesentlich besser ausgefallen, als die meisten Jahre zuvor. Trotz Unwetter. Der argentinische Winter hat sich ziemlich in die Länge gezogen (das bestätigen auch die weniger parteiischen Einheimischen). Nach vielen leidvollen Wintermonaten, die wesentlich kühler waren als ich erwartet hatte, kann ich jetzt endlich über einen – für argentinische Verhältnisse relativ späten – Frühsommerbeginn berichten. Während es in Wien schon so kalt ist, dass man bei Demonstrationen Hauben tragen muss haben wir 17 Grad. In der Früh, tagsüber 31. Hier ist nämlich gerade Mai. Es zeigt sich schon, diesem Blog-Eintrag wohnt ein gewisser boshafter Genuss inne….



Ein Schlösschen, das nun ein Museum ist.

In Häuschen wie diesen leben die Insulaner/innen

Vor einigen Monaten nannte ich den langen Sommer als einen von zehn Gründen um nach Buenos Aires auszuwandern. Dies möchte ich vollständig zurücknehmen. Sollte das kühle österreichische Klima ein Grund sein die Alpenrepublik für immer zu verlassen, kann ich Buenos Aires keinen Falls als Fluchtdestination empfehlen. Ein Onlineblick auf die hiesigen Wetteraufzeichnungen der letzten Monate wird sicher stark von dem abweichen was ich hier erzähle, das ist mir aber egal. Mir war so oft kalt, dass ich mich um keine ausgewogene Gewichtung meiner Erzählungen kümmere.



Das Häuschen ist das letzte von ca. zehn seiner Art und liegt ganz hinten auf der Insel

Buenos Aires bedeutet zu Deutsch ja quasi die Stadt der guten Lüfte. Tatsächlich unterscheidet sich die argentinische Metropole von Mexiko-Stadt etwa dadurch, dass die Luft nicht steht sondern alle paar Tage – wie von einem riesigen Ventilator – immer verblasen wird. Sprich, es gibt viel Wind. Das ist meistens sehr unangenehm, weil der Wind die gefühlte Temperatur deutlich kühler erscheinen lässt als sie ist. Das weiteren sorgt der Rio de la Plata dafür, dass es auch sehr oft feucht ist. Das zu einer Kombination von Wind und Feuchtigkeit, die einem die Kälte unter die Haut kriechen lassen. Besonders hervorheben möchte ich den 26. Oktober, ein Datum das ich mir als eingefleischter Patriot leicht merken konnte. An diesem Tag hatte es 20 Grad und der Himmel war wolkenfrei. Also fast schon das Maximum, was ein österreichischer Sommer zu bieten hat. Trotzdem war es, vor allem im Schatten, richtig kühl und niemand war ohne Jacke unterwegs. Der Wind und die Feuchtigkeit haben die Temperatur und die Sonne ausgestochen.


Mein Bekannter Lenius aus Kolumbien ist der Bewohner dieses Inselhäuschens, das er mit einem Pärchen teilt. Für sein Zimmerchen, Küche, WC und Riesengarten zahlt er nur 300 Peso (60 Euro) Monatsmiete.



Rückblickend muss ich sagen, dass die beiden richtigen Wintermonate (Juli und August) wesentlich angenehmer waren als die Übergangsmonate Mai, Juni, September und Oktober. In Juli/August gab es meiner Wahrnehmung nach wenig Regen, wenig Wind, viel Sonne und viele stabile Hochdrucktage. Die Temperatur erreichte meistens am Nachmittag 10 bis 15 Grad. Die Übergangsmonate waren nass, windig und kalt. Einmal gab es eine Kombination aus kühlen Temperaturen (sprich null Grad), Regen und Wind die als gefühlte Kälte an das schlimmste herankam was ich je in Österreich gefühlt habe.

Tatsächlich ist der Winter deutlich trockener als die Übergangsmonate. Achtung, dieses Klimadiagramm beginnt mit Juli. Zum Vergrößern anklicken.

Buenos Aires liegt einfach schon zu weit südlich, zu nahe an der Antarktis. Sieben Monate lang ist hier einfach definitiv nicht Sommer. Noch bedrückender ist, dass es an der ganzen 5000 km. langen argentinischen Atlantikküste nicht einen Ort gibt, der es im Sommer mit der Stabilität des Mittelmeerklimas aufnehmen kann. Es setzt sich – auch in den großen Sommerurlaubszentren wie Mar del Plata immer wieder ein kühler Polarwind durch, der sogar bis an die Küste der Provinz Buenos Aires Pinguine anschwemmen kann! Wer wettermäßig auf Nummer Sicher gehen will muss sich nach Nord-Brasilien, Kolumbien oder in die Karibik absetzen. Dort ist s wirklich immer warm. Angeblich.

Der Garten Eden. Er ist riesig und es gibt nicht nur sämtliche Früchte, sondern sogar Nussbäume.

Montag, 9. November 2009

Gebildetes Argentinien

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Athene (römisch Minerva), die Göttin der Weisheit. Ob der Standort der auf dem Foto abgebildeten Statue wirklich optimal gewählt wurde darf bezweifelt werden.

Anlässlich der Unistreiks in Österreich werde ich heute ein paar Worte zum Bildungsniveau in Argentinien verlieren. Als Ausgangspunkt möchte ich auf einen meiner Blogeinträge aus dem März eingehen, indem ich geschildert hatte, ich würde bei Taxi- und Kioskkonversationen als Notlüge manchmal behaupten aus „Alemania“ (Deutschland) zu sein um nicht umständlich erklären zu müssen, was Austria im Gegensatz zu Australia sei. Nun, das habe ich mir aus einem einfachen Grund abgewöhnt. Fast alle Argentinier/innen – auch jene die im Kiosk arbeiten – können irgendwas mit Österreich anfangen. Sie wissen zumindest wie die Hauptstadt heißt, können Österreich mit klassischer Musik assoziieren (so zuletzt ein Obdachloser (!) dem ich zwei Peso geschnorrt habe), waren gar vor zehn Jahren im Zuge einer Europareise selbst in Innsbruck oder haben sogar Vorfahren aus der Monarchie. Mein anfänglicher Eindruck war vor allem auch noch gefärbt von hier lebenden Ausländer/innen, die keine Ahnung hatten. Leute aus Australien, Kanada den USA, aber vor allem auch aus Westeuropa die mich gefragt haben, welche Sprache man in Österreich spreche. Überdies hatte ich die Erwartungshaltung, dass die Argentinier/innen vom Ausland so viel Ahnung haben wie die Amis. Das trifft überhaupt nicht zu. Gerade punkto in- und ausländischer geographischer Belange ist das Niveau der Allgemeinbildung erstaunlich hoch. Da man glaubt im Ausland sei alles besser als zu Hause, kennt man sich dort auch aus. Dieses Land, das sich so danach sehnen würde zur westlichen Gemeinschaft zu gehören, hat seine Idole genau studiert.


Jorge Luis Borges (1899 – 1986) gilt neben Julio Cortázar (1914 – 1984) als der wichtigste argentinische Dichter. Die surreale Atmosphäre seiner Kurzgeschichten erinnert mich am ehesten noch an Kafka.

Beispiel Sozialarbeiter/innen: In Phasen wo sehr wenig Kinder ins CAINA kommen (25 abwärts), stehe ich manchmal minutenlang in Wartehaltung bei meinem Essenausgabefenster. Diese Zwischenpausen vertreibe ich mir gelegentlich mit einem Buch, was die Neugier der angestellten (universitär ausgebildeten) Sozialarbeiter/innen weckt die sich dann unauffällig anpirschen. Lese ich Borges (auf Deutsch versteht sich, das ist schon anstrengend genug), erzählen sie mir im Detail seine Biographie, seine politische Einstellung, seine soziale Herkunft, welche Bücher er in welcher Lebensphase verfasst hat und wie er sich dabei jeweils von Cortazar (der zweite Nationaldichter) unterscheidet. Lese ich etwas über Bernstein (deutscher reformistischer Sozialdemokrat der Jahrhundertwende), entsteht eine Diskussion in der X Kautsky und Lenin vergleicht, Y mir erzählt sie sei neun Jahre lang politisch aktiv gewesen und kenne Bernstein aus diversen Diskussionen und Z über das Genie Marx und sein Werk „Das Kapital“ schwärmt, welches er sich gerade in einem Lesekreis mit Studienkollegen aneignet.

Beispiel Reinigungskräfte: Nicht nur die Akademiker/innen im CAINA verfügen über eine profunde Allgemeinbildung, auch ein Mitglied des Putzpersonals erstaunt mit umfassenden Kenntnissen über Mozart Klavierstücke, die er zu Hause auch gerne selbst spielt. Er kennt auch sämtliche andere Komponisten, deren Werke und deren Lebensgeschichte.


Im zeitgenössischen Tanz werden oft gesellschaftspolitische Themen verarbeitet. Viele Leute die Ballett tanzen, tanzen auch zeitgenössisch und viele Leute die zeitgenössisch tanzen, interessieren sich auch für gesellschaftliche Fragen.

Beispiel Tanz: Es mag ein Zufall sein, aber mehrere Tanzkolleginnen zwischen 20 und 25, deren Traum es ist bei irgendeiner wichtigen Tanzkompanie im Bereich Ballett oder Zeitgenössischem Tanz unterzukommen (oder das sogar schon geschafft haben), sind gegen jedes Vorurteil nebenbei Studentinnen der Politikwissenschaft, umfassend informiert und an gesellschaftlichen Fragen sehr interessiert. Diskussionen darüber wieso der Nationalsozialismus im protestantischen Teil Deutschlands besser Fuß fassen konnte als im katholischen ergeben sich genauso wie Debatten über das Menschenbild bei Nietzsche (denen ich mangels eigener Kenntnis als erstaunter Zuhörer beiwohne).

Beispiel Haus: In meinem Haus wohnen derzeit drei Argentinier/innen und drei Europäer/innen. Außerdem gibt es noch einige Freunde des Hauses, die Argentinier/innen sind ausnahmslos alle sind politisch interessiert, wenn nicht gar selbst engagiert sowie auffallend informiert und gebildet. Teilweise im klassischen Sinne, weil sie sich mit Philosophie oder politischer Theorie beschäftigt haben. Teilweise aber auch einfach reich an spezifischem Allgemeinwissen. Etwa die Akzente und Dialekte in Argentinien und Lateinamerika betreffend. So werden die Zusammenhänge zwischen dem Napoletanischen (das sich vom italienischen sehr unterscheidet) und dem Lunfardo (dem Dialekt von Buenos Aires) genau geschildert. Sie kennen aktuelle Details der städtischen Kommunalpolitik, die Geschichte der Kolonialisierung Argentiniens und der verschiedenen Migrationswellen haben sie ebenso auf Punkt und Beistrich intus wie die politische Geschichte des Landes seit der Epoche Perons zur Mitte des 20. Jh. Ihr Interesse und ihr Wissen verunmöglichen es, dass der Gesprächsstoff jemals ausgehen könnte.


Der aus Uruguay stammende Eduardo Galeano, einer der großen Intellektuellen Lateinamerikas hat 1971 die in zahlreiche Sprachen übersetzte Ausbeutungs- und Kolonialgeschichte „Die offenen Adern Lateinamerikas“ verfasst.

Beispiel Diskussionszirkel: Großen Eindruck hat auf mich auch ein Diskussionszirkel eines befreundeten Philosophiestudenten gemacht. Es handelt sich dabei um besonders interessierte Leute, die sich alle zwei Wochen treffen um soziologische oder politische Texte zu diskutieren. So etwas mag es in Wien auch geben, was mich dann aber doch sehr erstaunt hat war wie unfassbar profund und unglaublich breit das Bildungsniveau dieser Gruppe aus fertigen oder fast fertigen Soziologen, Historikern, Juristen und Philosophen (alle Gruppenmitgliede waren männlich) war. Detaillierteste Kenntnisse der europäischen und amerikanischen Geschichte, sämtlicher politischer, soziologischer und ökonomischer Theorie, der Philosophie, der Literatur etlicher Sprachen (Proust, Kafka, Orwell etc.) und der Geographie im globalen, sowie im kleinsten Detail (Welche Straßen begrenzen die 48 Bezirke von Buenos Aires!) hatte ich in dieser Intensität vorher noch nie gesehen. Obwohl weder Ökonomen noch Sozialdemokrat/innen dabei waren (die Gruppe bestand aus Linksperonisten und Liberalen), hatten die Anwesenden exakte Vorstellungen über Keynes und Hayek genauso wie über Bebel oder Hilferding. Was man noch bedenken muss: Die Gruppe kannte nicht nur sämtliche Gedanken der europäischen Geistesgeschichte. Alle diese Leute haben detaillierte Kenntnisse über die sozialwissenschaftlichen Diskurse Lateinamerikas. Die politische Situation und Geschichte aller lateinamerikanischen Staaten, die ideologische Welt des Peronismus, die Theologie der Befreiung, der Pädagogik der Unterdrückten, die Dependenztheorie eines Galenos („Die offenen Adern Lateinamerikas“), all das kennen die Leute aus dem Effeff. Es bedeutet letztlich, dass sie doppelt gebildet sind, europäisch und lateinamerikanisch. Meine Kenntnisse der europäischen Geistesgeschichte kommen an jene dieser Gruppenmitglieder nicht heran. Die lateinamerikanische kenne ich überhaupt nur fragmentarisch. Obwohl viele dieser Leute aus ökonomischen Gründen Argentinien noch nie verlassen haben, sind sie echte Weltenbürger.




Überhaupt habe ich von Anfang an festgestellt, dass die Studierenden in Buenos Aires nicht nur gesellschaftspolitisch deutlich interessierter sind als die unsrigen (Unibesetzungen gibt’s hier monatlich, oft auch in Solidarität mit Arbeitskämpfen die mit der Uni nichts zu tun haben), sondern vor allem auch deutlich gebildeter. Das geht natürlich Hand in Hand. Wie stark politisches Interesse und Allgemeinbildung korrelieren, wird mir erst hier richtig bewusst. (Mein sehr subjektiver Begriff von Allgemeinbildung schließt alle Bereiche die mich wenig interessieren – naturwissenschaftliche, medizinische, technische Kenntnisse etc. – nicht ein.) Ideologie kann zwar – v.a. wenn der Wunsch Vater des Gedanken wird – Erkenntnis stark vernebeln, sie ist aber auf der anderen Seite oft ein intensiver Antrieb, wenn nicht der Schlüssel um sich Erkenntnisse anzueignen. Das gilt für Vollblutideologen aller Couleurs. Hochgebildete ideologische Überzeugungstäter aus dem Bereich der Ökonomie sind beispielsweise Karl Marx oder Josef Alois Schumpeter. Über die deutlich stärkere Politisierung der Gesellschaft und der Studentenschaft in Argentinien werde ich noch einmal einen eigenen Eintrag verfassen.


Universidad de Buenos Aires, Facultad de Ciencias Económicas

Wieso die Studierenden (der Sozial- und Geistswissenschaften) meiner Auffassung nach deutlich besser ausgebildet sind als in Wien, habe ich in einem BLOG-Eintrag meiner SPÖ-Sektion kürzlich zum Besten gegeben: Augenmerk auf die Lehre