Sonntag, 8. Februar 2009

Die Menschen





„Ethnien“

Buenos Aires ist weiß. Die Menschen schauen so europäisch aus wie keiner Stadt Westeuropas. Wien ist dagegen Multikulti, von London ganz zu schweigen. Natürlich spreche ich von meinem Buenos Aires, das sich eher in den zentralen Bezirken abspielt. Ich wäre mit meiner Behauptung natürlich vorsichtiger, wenn ich nicht jeden Tag an meinem Arbeitsplatz 30 bis 60 Straßenkinder aus verschiedensten Teilen der Stadt sehen würde, die großteils weiß sind. Einge haben einen entfernten Indioeinschlag, kaum eines dieser Kids würde aber in Andalusien auffallen. Außer vielleicht wegen der Narben und den verschmutzten Händen. Auch alle 15 Sozialarbeiter/innen sind europäischer Abstammung. Im CAINA (meinem Straßenkindertagesheim) gibt es beim Personal nur eine – im übrigen UNFASSABAR sympathische – Person mit einem Indio-Einschlag. Es ist Maria, eine von drei Damen die in der Küche arbeitet und vor 20 Jahren aus Paraguay zugewandert ist. Sie schaut aus, wie man sich eine Lateinamerikanerin eigentlich vorstellt. Nach offiziellen Statistiken bezeichnen sich 90% der Argentinier/innen als Weiße, wobei angenommen wird, dass sich viele Mestizen wegen des verbreiten Rassismus den Weißen zuordnen. Carmen, die blonde Kollegen von Maria ist beispielsweise der Meinung, die Argentinier/innen seien schon ganz verunreinigten Blutes und nur in Europa würde man noch echte Weiße treffen. Nun, Carmen dürfte in London und Paris wohl eines besseren belehrt werden.

Für Buenos Aires kann ich sagen, dass die Menschen 1:1 aussehen wie in einer südeuropäischen Stadt mit dem einzigen Unterschied, dass die Anzahl an Migrant/innen kleiner ist als in Europa. Es gibt in den weniger zentralen Bezirken Zugewanderte aus den umliegenden Staaten sowie kleine asiatische Viertel in manchen Stadtteilen. In einem U-Bahn Abteil das gesteckt voll ist, sieht man jedoch vielleicht zwei bis drei Mestizen und nur ganz selten Schwarze. Daher kursiert auch folgender Witz in Lateinamerika:

Los mexicanos descienden de los aztecas, los peruanos de los incas, y los argentinos....de los barcos.

Die Mexikaner stammen von den Azteken, die Peruaner von den Inka und die Argentinier ….von den Schiffen.

Vor allem im Gegensatz zu Rio de Janero fällt auf, dass es fast keine Schwarzen gibt, obwohl etliche schwarze Sklaven auch in Argentinien eingesetzt wurden. Zwei Theorien sind mir dazu bis dato bekannt: Die Schwarzen wären im „Tripel Allianz Krieg“ (1864-1870), als Argentinien, Brasilien und Uruguay gegen die damalige regionale Großmacht Paraguay (!) kämpften umgekommen. Als Soldaten der niedrigsten Ränge seien sie in diesem laut Wikipedia blutigsten Gemetzel in der lateinamerikanischen Geschichte (zwei Millionen Tote) als Kanonenfutter verheizt worden. Das ist nicht ganz unplausibel. Eine andere Theorie besagt, die Schwarzen seien fast geschlossen ausgewandert und hätten sich in Uruguay angesiedelt. Faktum ist, dass die Mehrheit der Schwarzen die man heute auf der Straße sieht erst in den letzten Jahren aus Westafrika zugewandert ist.

Hingegen gibt es Massen an Menschen mit südeuropäischen Vorfahren. Laut Wikipedia 36% mit italienischen und 29% mit spanischen Wurzeln. Natürlich frage ich jede Person wo die Großeltern herkommen, vorher rate ich aber für mich. Da die Mehrheit der Menschen die ich bis jetzt getroffen habe vier Großeltern aus einem Land hat (auch ein interessantes Detail), entscheide ich immer zwischen Italien und Spanien. Meistens liege ich richtig, manchmal kommt aber eine Seite aus Italien und eine aus Spanien, ganz selten sind Großeltern aus anderen europäischen Ländern dabei und überhaupt erst bei einer Person wurden alle vier Großeltern in Argentinien geboren. Ein kurzer Überblick über die Entwicklung der Bevölkerung macht klar was ich meine. Vor dem 1. Weltkrieg lebte nur rund ein Viertel der heutigen Bevölkerung in Argentinien:

1869: 1,9 Millionen
1914: 8 Millionen
1947: 16 Millionen
1970: 23 Millionen
2001: 36 Millionen
Heute: rund 40 Millionen

Besonders witzig ist der Umstand, dass mir de facto alle Leute die ich nach der Herkunft ihrer Vorfahren frage, den Namen eines italienischen Dorfes oder spanischen Kleinstadt nennen. Irgendwie schaffen wir es aber gemeinsam die Region zu rekonstruieren. Was ich aus meiner kleinen und nicht-repräsentativen Studie selbst nicht ableiten könnte, weiß ich dafür von meinem Lehrer aus der Spanischschule: Die Menschen aus Spanien werden als „Gallegos“ bezeichnet, weil besonders viele aus der Provinz Galizien kamen. Die Menschen aus Italien werden als „Tanos“ bezeichnet, was sich von „Napolitanos“ ableitet. Noch heute leben etliche Spanier/innen und Italien/innen in Argentinien was z.b. derzeit dazu führt, dass im Zentrum riesige Wahlplakate der Sozialistischen Partei Galiziens hängen. Dort finden offenbar gerade Regionalwahlen statt und die in Buenos Aires ansässige galizische Bevölkerung wird aufgefordert bei der Botschaft zu wählen. Mir wurde gesagt dass bei den letzten italienischen Wahlen Berlusconi plakatiert wurde.

Die Bevölkerungsdichte

Es ist angeblich sogar für Menschen aus Afrika relativ leicht die Staatsbürgerschaft Argentiniens zu erhalten, weil es offenbar ein erklärtes Ziel der Regierung ist, die Einwohnerzahl zu steigern. Dieses Land hat einfach auch Platz für eine viel größere Bevölkerung. Ein kurzer Vergleich der Einwohnerzahl, der Fläche und der Bevölkerungsdichte macht klar wieso:

EU: 500 mio / 4,3 mio km² / 113 pro km²
USA: 300 mio / 9,8 mio km² / 31 pro km²
Arg: 40 mio / 2,8 mio km² / 14 pro km²

Hätte Argentinien die Bevölkerungsdichte der USA, würden statt 40 Millionen 87 Millionen Menschen hier leben. Hätte es die Bevölkerungsdichte der EU, würden statt 40 Millionen 316 (!) Millionen Menschen hier beheimatet sein. Obwohl ich den „Campo“ (das Land) noch nicht kenne, kann ich mir schon eine Vorstellung über die Distanzen machen. Offenbar hat der amerikanische Kontinent insgesamt noch Platz für hunderte Millionen Menschen.

Mentalität, Identität, Kultur etc.

Es wurde viel Schundluder mit dem Wort Mentalität getrieben, in rassistischen Diskursen oder auf Stammtischen werden vermeintliche Mentalitäten entdeckt, verallgemeinert, gesteigert und verzerrt. Faktum ist, die Menschen hier verhalten sich anders als in Ottakring. Mit welchem Vokabel dieser Unterschied nun bezeichnet wird ist im Prinzip wurscht, jede Flucht in ein neues Wort hat bis jetzt bei keinem Begriff zu einer befriedigenden Lösung geführt. Ein paar Beispiele:

Neger – Schwarze – Farbige – Afroamerikaner – kürzlich wieder Schwarze
Krüppel – Behinderte – Menschen mit Behinderung – Menschen mit besonderen Bedürfnissen
schwer erziehbar – verhaltensauffällig – verhaltensoriginell

Da ich als Kind selbst Teil letzter Gruppe war behaupte ich einmal, dass sich eher die Palette von subtilen und weniger subtilen Beschimpfungsmöglichkeit erhöht hat, als dass die Akzeptanz der betroffenen Gruppe in der Gesellschaft verbessert wurde. Ich glaube man sollte einfach vermeiden die Menschen so zu nennen wie sie es selbst nicht wollen. Alles andere ist dann eher der Versuch einer akademischen Kaschierung eines Umstandes, der gar nicht kaschiert werden müsste. Ich werde den Begriff Mentalität als Synonym für folgenden zu beschreibenden Untersuchungsgegenstand verwenden: Ein Überbegriff für die Summe von Persönlichkeitsmerkmalen und Verhaltensnormen, die eine erkennbare Tendenz in einer spezifischen Gesellschaft bildet. Im Folgenden versuche ich aus meinen bisherigen Eindrücken so etwas wie die Mentalität der Menschen in Argentinien zu beschreiben:

Zu meiner großen Freude hatte ich bis dato ich mit Persönlichkeiten aus allen großen sozialen Schichte zu tun. Mit Leuten aus dem Bürgertum, aus der Arbeiterschicht, aus der verarmten Unterschicht und mit Intellektuellen. Das ist natürlich nur mein Eindruck und es gilt nicht für alle, aber was diesen Menschen tendenziell gemeinsam ist sind Herzlichkeit, Temperament und Interesse am Gegenüber. Freundlichkeit, Liebenswürdigkeit und Charme fallen stärker auf als die Unfreundlichkeit mancher Busfahrer. Die meisten Leute sind im persönlichen Kontakt einfach nett. Besonders auffällig sind eine unkomplizierte Lockerheit und ein im Gegensatz zu Europa extrem unprätentiöses und unaffektiertes Verhalten. Es hat den Anschein als wären die Menschen hier für unsere ganzen kleinen Eitelkeiten einfach zu natürlich und selbstsicher. Emotionen werden gezeigt, man betäschelt sich, ist laut, kindlich, offen und verspielt. Es wird unfassbar viel gescherzt und gelacht, dabei scheint es aber nie ein Opfer zu geben auf dessen Kosten der Humor geht sondern die Person die Zielscheibe der Schmähs ist lacht am meisten.

Mit meinen ohnedies nur rudimentär ausgeprägten Höflichkeitsformen gegenüber „Erwachsenen“ sorge ich eher für Irritation und Heiterkeit. Aufstehen zur Begrüßung, Warten bis alle am Teller haben oder gar bis jemand das Essen eröffnet, die Annahme einer eventuellen Sitzordnung oder Menschen per „Usted“ (Sie) anzusprechen...alles nicht üblich. Gäste sich melden meist nicht an sondern werden freudig empfangen. Jegliche nicht angemeldete Begleitung von angemeldeten Gästen wird als das Selbstverständlichste auf der Welt betrachtet. Egal ob bekannt oder unbekannt. Eine Etikette die die Verhaltensformen zwischen den Menschen ordnet ist gar nicht Teil der Vorstellungswelt. Man wird bereits beim ersten Mal so behandelt, als hätte man immer schon dazugehört.

Natürlich bedeutet das alles weniger Individualität als in Europa. Die Privatsphäre wird sowohl physisch als auch punkto Informationsfluss weniger strickt gehandhabt. Zu Begrüßung werden alle Männer und Frauen per Kuss auf die rechte Wange begrüßt. Man ist sich nicht nur physisch näher (und trotzdem viel lauter!!!), man erzählt sämtlichen Personen was man wann wo wie getrieben hat. Man zeigt seine Gefühle stärker und ist als Individuum viel stärker öffentlich als bei uns. Es gibt Bier fast nur in 1-Liter Flaschen, die entweder weitergereicht oder mit Gläsern wie Wein gemeinsam getrunken werden. Man lebt mehr mit der Familie und spricht mehr über die Familie. Man lädt auch unter Jungen neue Bekannte recht schnell ein die Familie kennen zu lernen (Die Fotos zu diesem Eintrag stammen von einem Samstag mit einer besonders netten Familie). Vor allem ist man laut und hat Spaß.

Was noch auffällt: Es gibt in dieser Gesellschaft viele Kinder. Diese sind um 0:30 in der Nacht genauso selbstverständlich auf der Straße wie um 15:00 Nachmittags. Während die Eltern nachts ein Bier mit Freunden im Straßencafé trinken laufen sie zwischen den Tischen herum. Am Sonntag Abend um 23:30 ist der Schenllzug von den nördlichen Vororten ins Zentrum gesteckt voll mit Familien und unfassbar vielen Kindern. Kinder werden einfach mitgenommen, egal ob man Abends Freunde besucht (gegessen wird ja frühestens um 22:00), oder ob man ausgeht. Auch auf den Straßen und in den Parks gibt es viele Kinder aller Altergruppen. Das hängt natürlich nicht nur mit der Anzahl von Kindern zusammen, sondern auch mit der Temperatur und dem geringeren Wohlstand. Das Bild des öffentlichen Raums wird wesentlich lebhafter durch die große Anzahl an Kindern. Vor allem im Vergleich mit unseren Pensionistenparks.

Die Gastfreundlichkeit, die Hilfsbereitschaft und die Offenheit haben meiner Einschätzung nach noch eine andere Ursache. Da die öffentliche Verwaltung nur zum Teil funktioniert und das Vertrauen in die Institutionen extrem gering ist, sind die Menschen glaube ich stärker auf gegenseitige Kooperation angewiesen. Das soll kein Argument für Kohls Bürgergesellschaft sein, aber die Selbstorganisation der Menschen abseits staatlicher Angebote hat ja in jedem Fall einen emanzipatorischen Kern. Der Hass auf den Staat und seine politische Klasse ist übrigens eine weitere Gemeinsamkeit aller sozialen Schichten. Dazu aber mehr in einem irgendwann folgenden Politikeintrag.

Für diskrete Individualisten die gerne viel alleine sind ist dieses Land und seine Gesellschaft mit Sicherheit eine große Herausforderung. Aber die Liebenswürdigkeit der Menschen versüßt einem in jedem Fall den Einstieg. Bis jetzt hatte ich auf meinen Reisen in keiner europäischen Gesellschaft den Eindruck so herzlich empfangen worden zu sein. Das ist schon beeindruckend.

Zur Begrüßung von Buenos Aires habe ich einen Super-Schlager gefunden: Buenos dias Argentina Der noch recht junge Udo Jürgens heißt Argentinien 1978 willkommen.

3 Kommentare:

  1. Lieber Nikolaus,

    Dein scharfsichtiger und zugleich einfühlsamer Bericht über die Menschen in Buenos Aires hat mir unbändiges Vergnügen bereitet. Wir waren ja 1994 nur einen Monat dort und waren bei europäischen Diplomaten eingeladen, hatten also viel weniger Kontakt – und dennoch, selbst bei diesen wenigen war so viel von dem zu verspüren, was Du schilderst. Eine unseren Gastgebern nur flüchtig bekannte Familie hatte diese zu einem Asado eingeladen und als diese mit Hinweis auf einen Besuch aus dem Ausland – also uns – absagen wollten, wurde Ihnen bedeutet, dass sie uns doch einfach mitbringen sollten. Und wir wurden aufgenommen wie alte Freunde, samt den von Dir geschilderten Küssen auf die Wange. Auch sonst blieb leider wenig Zeit für Kontakte, da wir in der kurzen Zeit nicht nur die Umgebung (z. B. Tigredelta), besuchten, sondern auch einen Flug nach Iguazú machten. Vor allem aber ging es mit der Fähre ins 19. Jahrhundert (Colonia del Sacramento) und mit dem Auto durch Uruguay (Montevideo und weiter an der Atlantikküste bis hinauf nach Punta und darüber hinaus). Diese Tour war so unvergesslich, dass ich sie Dir ans Herz legen möchte. Ich weiss natürlich, dass Du nicht als Tourist dort bist, aber vielleicht gibt’s für so was einmal einen Freiraum! LG Karl L.

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  2. Lieber Onkel Karl,

    Mir stehen 30 freie Tage zur Verfügung, darüberhinaus habe ich die Möglichkeit nach dem Ende meines Dienstes (31.1.2010) nocht einige Zeit im Lande zu verbingen. In jedem Fall möchte ich zwei bis drei Busreisen unternehmen, wobei Uruguay bereits auf meiner Agenda steht.

    Ich freue mich darauf unsere Eindrücke nach meiner Rückkehr mit dir persönlich auszutauschen!

    lg
    nikolaus

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  3. Lieber Nikolaus,

    studiere nun seit einiger Zeit ganz begeistert deine Einträge! Als Statistik-Freak muss ich deine Auflistung, die Bevölkerungsdichte im Vergleich zu anderen Staaten betreffend ergänzen:

    Hätte Argentinien jedoch die Bevölkerungsdichte von China, würden statt 40 Millionen 390 Millionen Menschen hier leben und hätte Argentinien die Bevölkerungsdichte von Indien, würden statt 40 Millionen beinahe 1 Milliarde Menschen hier leben und hätte Argentinien die Bevölkerungsdichte von Bangladesch, würden statt 40 Millionen Menschen hier über 3 Milliarden Menschen leben.
    LG und schreibe weiter!!! Hans

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