Mittwoch, 27. Mai 2009

Auf die Inhaftierten, die Toten und das Vaterland!

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Kürzlich, am 25. Mai (Tag der Mairevolution 1810), hatte ich eine interessante Erfahrung die mir ein weiteres Stück Argentinien eröffnet hat. Ich wurde von einem argentinischen Paar mit dem ich ein freundschaftliches Verhältnis pflege anlässlich des Feiertages zum Essen eingeladen. Auch zwei Freunde von ihnen waren dabei, insgesamt vier argentinische Erwachsene aus der oberen Mittelschicht mit Kindern. Sabina, Edu, Sebi und Dolores sind zwischen Mitte 40 und Ende 50. Es sind Menschen die im zwischenmenschlichen Umgang sehr liebenswert sind, denen aber nichts heilig ist. Eine sehr angenehme Mischung, bei der für mein Empfinden die Freiheit nicht zu kurz kommt.

Die Erklärung der Unabhängigkeit am 25. Mai 1810 als Geburt der argentinischen Nation in einer ihrer berühmtesten Darstellungen von Pedro Subercaseaux.

Ich wusste dass wir auf einem Pologelände essen, weil Sabinas erwachsener Sohn, der in Europa lebt, dort viel geritten ist und die Familie Mitglied in diesem Poloklub ist. Das Gelände ist sehr schön und für Großstädter/innen eine grüne Oase. Auf dem Hinweg wurde mir gesagt, dass der Poloklub im Besitz des Militärs sei. Wir nahmen in einem großen Raum Platz, wo ungefähr noch zehn Tische mit größeren Familiengruppen saßen. Es waren auffallend viele alte Leute dort und die älteren Herren sahen alle aus wie man sich Mitglieder einer Militärjunta vorstellt. Eine Mischung aus SS und Mafiosi, streng, autoritär und elegant. Typen vor denen man Angst hätte, wenn sie 30 Jahre jünger wären.

Polo, der Sport der Wohlhabenderen und richtig Reichen. Einer von vielen englischen Einflüssen in der argentinischen Gesellschaft.

- Sabina: "Das alles hier sind ehemalige Offiziere"
- Ich: "Und das gesamte Gelände gehört dem Militär?"
- Sebi: "Das alles müssen wir mit unseren Steuern zahlen!"
- Edu: "Ich hoffe wir müssen nicht die Nationalhymne singen um das Essen zu bekommen"
- Alle: Gelächter

Das Essen kommt, dazu werden kleine Schleifen (Typus Aidsschleife) ausgeteilt und auf jedem Tisch ein Fähnchen platziert. Alles natürlich in den Nationalfarben Blau-Weiß. In der nächsten dreiviertel Stunde machen Edu und Sebi das, was Argentinier/innen am Liebsten machen. Sie reden ihr Land und ihren Staat in Grund und Boden und erklären dass Argentinien ein einziges, unorganisiertes Desaster ist. Sie erklären mir welche Politiker ihre 21-jährigen Söhne auf welche öffentlichen Spitzenpositionen gesetzt haben, wo die Verwaltung überall illegal mitschneidet und wie die Wahllisten zustande kommen. (Es kandidieren für die nationalen Wahlen alle Bürgermeister und Gouverneure wegen ihrer Bekanntheit, um dann ihr Mandat für den Senat nicht anzunehmen und völlig Unbekannte Leute ins Parlament einziehen. Überdies kandidieren auf vielen Listen auch Verwandte von Regionalpromis, nur weil der Name schon bekannt ist. Das ist in der Tat dreist.) Edu und Sebi fragen mich, ob ich glaube, dass dies in einem anderen Land der Welt möglich ist und noch bevor ich antworten kann, kommen sie zum üblichen Conclusio: Argentinien sei ein Land der Diebe und Räuber.

So fesche Fähnchen wie diese wurden in Blumenvasen den Militärs und uns mit dem Essen mitserviert. Eine skurrile Szene.

In dem Augenblick erheben sich alle ehrfurchtsvoll zur Nationalhymne. Es beginnt eine typische Hymne aus dem Radio zu dröhnen, ich bin zunächst etwas erleichtert dass nicht gesungen, sondern nur zugehört wird. Nach einer Minute setzen allerdings alle beim exakt gleichen Takt ein um lauthals – wie man es sich in Österreich überhaupt nicht vorstellen kann – die Nationalhymne hinauszutrompeten. Es gibt noch eine Instrumentalphase, dann setzen wieder alle im Raum exakt ein und bringen das recht lange Stück zu Ende.

- Dolores: „Mir rinnt es immer kalt runter bei der Nationalhymne (In dem Moment rinnt es mir kalt herunter). Obwohl ich so was von überhaupt keiner Patriotin bin (In dem Moment wird mir wieder wärmer). Aber das Lied ist schön." (Da ich auch Hymnen mag ohne Staatspatriot zu sein, wird mir richtig warm).
- Edu: "Ich hoffe wir müssen nicht die Nationalhymne singen, um die Nachspeise zu bekommen"
- Alle Gelächter
- Ich: „Es gibt so schöne Hymnen, z.b. die Russische (ehem. Hymne der Sowjetunion), die französische oder die Englische.“

Die Gruppe kennt die Englische Hymne nicht. Ich beginne so gut ich kann „God save the Queen“ vorzusummen.

- Sebi: „Möchtest du nach Österreich zurückkehren?“
- Ich: „Ja“
- Sebi: „Falls du das nicht in einem Sarg tun willst, dann hör auf hier die britische Hymne zu singen“
- Alle: Gelächter

Ich vergaß in diesem Moment, dass die britische Hymne bei den Militärs nicht sooooooooo beliebt sein dürfte. Den Falklandkrieg gegen England hatte ihre Militärregierung verloren, die dann noch ob dieses Umstandes abgesetzt wurden. Heute sind die „Malvinas“, wie die Falklandinseln in Argentinien heißen, ein Steckenpferd rückwärtsgewandter Supernationalisten. Diese versuchen den Falklandkrieg als Heldenkrieg gegen die englische Kontrolle der völlig uninteressanten „Malvinas“ darzustellen. Der 4. April ist ein anderer Staatsfeiertag, an dem jährlich der Toten des Falklandkrieges gedacht wird. Dass dieser Krieg nichts anderes war als ein gescheitertes Ablenkungsmanöver einer auf Staatsterror basierenden Militärdiktatur die wirtschaftlich bankrott war, wird meiner Meinung nach zu wenig betont.

„Die Falklandinseln sind argentinisch.“ Die Realitätsverweigerung setzt sich auch auf Landkarten fort, wo die Malvinas stets als argentinisch gekennzeichnet sind.

- Edu: Schau, mit dem Falklandkrieg war es so. Bei Kriegsausbrauch standen die Massen am Plaza de Mayo um nationalistische Parolen zu schwingen (Typus: Herzblut fürs Vaterland) und Staatschef Leopoldo Galtieri ihre patriotische Unterstützung zuzusichern. Ein paar Wochen später, der Krieg war verloren, gingen die Leute durch die Straße und bezeichneten Galtieri als „Hijo de Puta“. So ist Argentinien.“

(„Hijo de Puta“ möchte ich nicht übersetzen, weil Deutsch für so harte Schimpfwörter zu sensibel ist. In Argentinien ist man weniger heikel. Sabina bezeichnete bei anderer Gelegenheit den im Fernsehen sprechenden Präsident Kirchner, ohne mit der Wimper zu zucken als„Hijo de Puta“. Im Beisein ihrer siebenjährigen Zwillinge! Diese gehen übrigens auf eine katholische Privatschule.)

Nach der Nachspeise wurde Sekt ausgegeben. Der ranghöchste pensionierte Militär, immerhin ein Oberst, erhob das Glas und sprach einen Toast, in dem er vor allem über die seiner Meinung nach ungerechte Verfolgung ehemaliger Militärs durch die Justiz sprach. (Die Regierung Kirchner setzt sich intensiv für eine strafrechtliche Verfolgung der Staatsverbrecher ein.) Es schloss mit den Worten: „Auf die Inhaftierten, die Toten und das Vaterland!“


Die Militärdiktatur


Die Skurrilität meines Erlebnisses soll den klaren Blick auf die Brutalität der argentinischen Militärdiktatur nicht bagatellisieren. Das Militärregime, das von 1976 bis 1983 an der Macht war zählt zu den grausamsten seiner Art in Lateinamerika. Mit aktiver Unterstützung der USA wurden in sämtlichen lateinamerikanischen Staaten Militärregimes errichtet, um die wirtschaftlichen Interessen des Westens zu wahren und einen Schwenk Lateinamerikas Richtung Sozialismus und Sowjetunion zu verhindern.

Jorge Rafael Videla, der erste von mehreren Staatschefs der Militärdiktatur, verschleppte, folterte und mordete von 1976 bis 1981.

„Zwei Jahrzehnte – von 1965 bis 1985 – dominierten Militärdiktaturen das politische Gesicht Lateinamerikas. Im Jahre 1976 wurden nur noch (das quasi-autoritär regierte) Mexiko, Venezuela, Kolumbien und Costa Rica nicht von einer Diktatur oder Militärdiktatur regiert.“, schreibt die Webseite über Lateinamerikastudien. Konkret bedeutet dies, dass in folgenden Staaten die Militärs geherrscht haben:

Argentinien
Bolivien
Brasilien
Chile
DomRep
Ecuador
El Salvador
Guatemala
Haiti
Honduras
Nicaragua
Panama
Paraguay
Peru
Uruguay

Das argentinische Militär übernahm 1976 nach einer chaotischen innenpolitischen Phase mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen die Macht. Von Anfang an wurde ein physischer Vernichtungskrieg gegen linke Oppositionelle, Mitglieder von Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen geführt. Aber auch jene die Verfolgten Unterschlupf gewährten waren in höchster Gefahr, sowie alle die verdächtigt wurden die „Subversion“ zu unterstützen. Verdächtig war man beispielsweise allein schon dadurch, dass man jung war oder als Mann einen Vollbart trug. Die Verschleppten wurden in geheime Gefängnisse gebracht, brutal gefoltert und anschließend ermordet. Oft wurden sie unter Drogen gesetzt und von Schiffen oder aus Flugzeugen ins Meer geworfen. Schwangere Frauen, ließ man noch ihre Kinder gebären und tötete sie anschließend. Die Babys wurden angehörigen der Rechten in Argentinien und Uruguay zur Adoption übergeben. Viele Erwachsene haben erst in den letzten Jahren in Erfahrung gebracht, wer ihre Eltern waren. Mittlerweile gibt es eine NGO für in diesem Zeitraum adoptierte Kinder, die Verdacht schöpfen ihre Eltern könnten zu den Verschleppten gehören. Insgesamt wurden 30.000 Menschen von den Militärs ermordet, während dessen Führer in Europa hofiert wurden und mit ihrer ultraliberalen Wirtschaftspolitik zu Liebkindern des Internationalen Währungsfonds avancierten.

Der argentinische Kreuzer Belgrano säuft ab, nachdem er von einem britischen U-Boot versenkt wird. Alleine dabei starben über 300 Menschen.

1982 war die von den Militärs verursachte wirtschaftliche Lage so desaströs, dass es immer häufiger zu öffentlichen Protesten und Streiks kam. Um sich an der Regierung zu halten griffen die Militärs auf ein altbewährtes Mittel zurück, sie konstruierten einen Außenfeind und führten gegen selbigen Krieg. Die südatlantischen Falklandinseln, auf denen nur rund 2000 Menschen leben, sollten zu diesem Zwecke den Briten militärisch entrissen werden. Der Krieg wurde von der Militärjunta mit zuvor in Deutschland und England gefertigtem Kriegsgerät geführt! Wenn Margret Thatcher Argentinien jemals einen Gefallen getan hat dann war es jener, nicht wie die Militärs gehofft hatten auf den bedeutungslosen Felsen zu verzichten, sondern mit einem militärischen Gegenschlag zu reagieren. Dieser kostete zwar 650 Soldaten das Leben, führte aber zum Ende der Militärdiktatur. Leider auch zur Wiederwahl Thatchers im Vereinigten Königreich.

Die Mütter der Plaza de Mayo marschieren nach wie vor jeden Donnerstag am Hauptplatz von Buenos Aires auf um ihre Forderungen kundzutun. Ex-Präsident Kirchner schenkte ihnen auch politisch sein Gehör.

Das Ende der Militärdiktatur in Argentinien ist erst 26 Jahre alt. Heute werden erbitterte Auseinandersetzungen über die strafrechtliche Verfolgung von Angehörigen dieses Terrorregimes geführt. Der ehemalige Staatschef Videla, der für einen Großteil des Grauens verantwortlich war operierte nach dem Prinzip: „Es müssen so viele Menschen wie nötig in Argentinien sterben, damit das Land wieder sicher ist.“ Videla saß nach dem Ende der Diktatur immer wieder im Gefängnis und kam zwischenzeitlich wieder frei, derzeit ist er inhaftiert. Der Kongress hat vor einigen Jahren mehrere Amnestiegesetze aufgehoben und die Regierung Kirchner macht Druck auch die Verfahren gegen niedrigrangige Militärs zu beschleunigen, aber die Richterschaft beklagt sich, dass sie nicht genug Personal hätte um diesen Anforderungen gerecht zu werden. Seit 1977 und bis heute demonstrieren die „Madres de la Plaza de Mayo“, also die Mütter der "Desaparecidos" (Verschwundenen), jeden Donnerstag dafür, dass die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden. Die Madres waren damals 1983 am Sturz der Militärregierung maßgeblich beteiligt und sind bis heute ein politischer Faktor in Argentinien.

Montag, 18. Mai 2009

Der Tango, die Alte Welt und die argentinische Seele…



In meinem folgenden Eintrag greife ich neben eigenen Erfahrungen auf drei Quellen zurück. Die wichtigste und kompetenteste Quelle ist das Buch „Kulturschock Argentinien“ von Carl D. Goerdeler, das ich jeder Person die sich mit Argentinien beschäftigt empfehlen würde. Der Korrespondent mehrer deutschsprachiger Zeitungen geht mit dem Land hart ins Gericht und wird teilweise zynisch und herablassend, nur selten blitzt ein bisschen Sympathie für die Argentinier/innen und ihre Gesellschaft durch. Trotz des etwas preußisch-arroganten und eurozentristischen Blickwinkelns ist es das informativste Buch über Argentinien. Als weitere Quelle dient Maike Christens „Tango tanzen in Buenos Aires,“ das nahe liegender Weise vor allem den Bereich Tango dieses Eintrags abdeckt. Wichtig für diesen Text ist auch noch der „Lonely Planet Argentinien“, das Standardwerk für Reisende mit viel Interesse und wenig Geld.


Die Psyche einer Gesellschaft


„Ein Argentinier ist ein Italiener der Spanisch spricht und glaubt er sei ein Engländer.“

„Argentinien ist das europäischste Land Lateinamerikas weil seine Bewohner von den lateinischsten Regionen Europas stammen.“

„Der Argentinier ist ein Europäer, dem keiner mehr schreibt.“

Goerdeler ist der Auffassung es gäbe kein anderes Land auf der Welt, dass sich so mit sich selbst und seiner eigenen Identität beschäftigt. „Wer sind wir?“ ist die Frage zu der es in Argentinien massenhaft Literatur gibt. „Sind die Argentinier nun Lateinamerikaner oder Europäer, die durch Zufall in diesen entlegenen Teil der Welt gelangt sind? (…) Die Unsicherheit darüber wer sie nun eigentlich selber sind ist vielleicht der archimedische Punkt, um den sich in Argentinien alles dreht,“ so Goerdeler.

Während sich die Bevölkerung Mexikos teilweise mit Stolz auf ihre aztekischen Wurzeln besinnt, wollen die Argentinier/innen mit denen von ihnen fast vollständig ausgerotteten indigenen Kulturen nichts zu tun haben. Manchmal erzähle ich meinen argentinischen Bekannten, dass die meisten Menschen in Europa keine klare Vorstellung davon haben, wie sich das Lateinamerika zwischen Rio Grande und Feuerland unterschiedet. Für die meisten seien das eben alles irgendwie Latinos. Darauf reagiert mein jeweiliges Gegenüber stets sehr enttäuscht und es wird etwas resignierend und abfällig angemerkt, dass man die Argentinier/innen im Ausland für Indiander und Wilde halte. Man möchte aber in der Welt so gerne als westlicher Industriestaat mit europäischer Kultur wahrgenommen werden.

Der Staatsphilosoph Alberdi machte im 19. Jh. unmissverständlich klar: „In Amerika ist alles, was nicht europäisch ist, barbarisch. Man müsse „Europa nach Amerika bringen“. In der Mitte und im Süden des Landes, wo die Einheimischen als Nomaden lebten, rottete man in mehreren Feldzügen alles aus was man vorfand (Dabei wurden vorwiegend schwarze Soldaten eingesetzt, womit man beträchtliche Teile der Nachfahren der afrikanischen Sklaven auch gleich eliminierte). Im Norden wurden die sesshaften indigenen Kulturen assimiliert. Diese „Zivilisierung“ im europäischen Sinne gelte aber nicht nur bezüglich der Indigenen, auch „aus einem Gaucho (argentinische Cowboy Anmk.) macht man in 100 Jahren keinen englischen Arbeiter“, beschwert sich Alberdi.


Die Cowboys Argentiniens. „Die Gauchos verachten den Tango, sie spucken auf Buenos Aires und das gelackte Gesindel der Großstadt.“ Man weiß nicht ob Goerdeler hier die Gauchos für sich sprechen lässt, aber er bringt’s so schön auf den Punkt, dass wir einmal annehmen wollen es sei was Wahres dran.

„Europa ist das Zentrum der Zivilisation und steht für den Fortschritt der Menschheit. Wir haben keine andere Wahl, uns nach Europa zu orientieren (…)“ so Präsident Sarmiento im 19. Jh. Allerdings meinte Sarmiento damit vorwiegend nicht die armen Migrant/innen aus Italien für die er stets Verachtung überhatte, sondern Menschen aus den seiner Ansicht nach arbeitsamen Regionen Nordeuropas (v.a. Deutschland und Großbritannien). Er ging sogar so weit die europäische Kultur als Gegenmodell zu den spanischen Sitten darzustellen. In den argentinischen Pampas ließen sich bereits die Unterschiede feststellen zwischen „[…] der deutschen oder der schottischen Kolonie südlich von Buenos Aires und dem Dorf, das sich im Hinterland bildet: bei der ersten sind die Häuser gestrichen, die Fassaden immer gepflegt […] und die Einwohner sind in andauernder Bewegung und Aktivität. Sie melken Kühe, produzieren Butter und Käse, und einige Familien haben es sogar geschafft, ein Vermögen zu verdienen und in die Stadt umzuziehen, um ihren Wohlstand zu genießen. Das Dorf der Eingeborenen (bereits seit längerem ansässige Menschen mit südeuropäischen Wurzeln
Anmk.) ist die niederträchtige Rückseite dieser Medaille.“

Dieser "freundliche" Herr Namens Sarmiento war Mitte des. 19. Jh. Präsident Argentiniens und gilt wegen seiner Förderung der Bildung als Pädagoge des Landes. Bildung hieß europäische Bildung wie sein Werk „Civilización y barbarie“ unmissverständlich klar macht. Sein Nachfolger rottete in diesem Sinne gleich alle verbliebenen Indigenen in Patagonien aus.

Der Identitätskonflikt hat sich tief in die Seele der Menschen in Argentinien eingebrannt und hinterlässt bis heute seine Spuren. Schon nach wenigen Minuten erzählen die Argentinier/innen von ihren Vorfahren aus Italien, Spanien oder Deutschland. Sie sind stolz wenn sie „Weichand“ heißen, oder sogar noch Kontakt mit europäischen Verwandten haben.
Argentinien schaut nach Europa und will von Europa anerkannt werden. Erst wenn in Europa argentinische Künstler Anerkennung finden, sind sie auch in der Heimat geachtet. Dies gilt beispielsweise für Fußballstars, einen der prominentsten Exportartikel Argentiniens. Aber es traf auch auf den Tango und seinen berühmtesten Vertreter Carlos Gardel zu und selbst der Hype um Che Guevara wäre wohl in dessen Herkunftsland nicht so ausgeprägt, wenn er nicht in den 1960er-Jahren auf den Straßen Paris’ und Berlins zum Superstar gekürt worden wäre. Goerdelers Conclusio: „Argentinien wollte also niemals die Nabenschnur zu Europa abschneiden. Und das bedeutet, um im Bild zu bleiben, dass die Nation niemals erwachsen wurde, sich emanzipierte, ihren eigenen Weg suchte, sich in Amerika einrichtete. (…) Die mentale Verankerung in die alte Welt ist die Paranoia Argentiniens.“


Der Tango



Was hat das argentinische Identitätsdrama mit dem Tango zu tun? Nun, auf den zweiten Blick mehr als man meinen möchte. Laut Maike Christen sind die Portenos (Bewohner/innen von BsAs) der Meinung, dass Buneos Aires die wahre Hauptstadt Europas sei weil die 14-Millionen Metropole ein Schmelztiegel der Alten Welt ist. Aus diesem Durcheinander europäischer Sprachen, Musiken und Kulturen sei der Tango geboren, „aus der Fusion von Alter Welt und Neuer Welt, aus Armut und Heimatlosigkeit, Sehnsucht und der Suche nach Geborgenheit in der Umarmung eines Tanzes.“ wie Maike Christen ausführt.

Die meist männlichen proletarischen Zuwanderer aus Europa ließen sich in den Vorstädten von Buenos Aires nieder und vermissten ihre zurückgelassenen Frauen sowie ihre Heimatländer. In Cafés und Bordellen versuchten sie ihre Einsamkeit beim Tanz mit Kellnerinnen und Prostituierten zu vergessen. In diesem Milieu wurde aus spanischen, italienischen und afrikanischen Einflüssen (Trommeln) der Tango geboren. „Es war eine kraftvolle Mischung aus Machismo, Leidenschaft und Verlangen. Verzweifelt und aggressiv. (…) Der Tango spiegelte die neuen Erfahrungen der Einwanderer in der Großstadt wieder und erinnerte voller Wehmut an ein aufgegebenes Leben.“ heißt es im Lonely Planet. „Ein Schuss Andalusien, ein wenig Normandie, die Gaucho-Tradition, die Milongas, die man auf dem Lande tanzte, das Schifferklavier (Bandoneon – die Ziehharmonika: der deutsche Beitrag zum Tango!) und natürlich kiloweise Sentimentalität, Tristezza, Heimweh.“ so bringt Goerleder auf den Punkt was seiner Auffassung nach Tango ist.

Migrant/innen aus Südeuropa hoffen im frühen 20. Jh. auf ein besseres Leben in Amerika. Aus Buenos Aires sind auch viele wieder enttäuscht heimgekehrt.

Erst als der Tango in den 10er-Jahren des 20. Jh. seines Siegeszug in Europa (v.a. Paris) und den USA antrat, wurde er auch von der argentinischen Oberschicht akzeptiert. Als die Tangowelle nach Europa Anfang überschwappte, sah sich Papst Pius X. genötigt vor der Immoralität dieses Tanzes zu warnen, die offenbar etwas prüden Heeresleitungen in Berlin und Wien verboten ihren Soldaten Tango zu tanzen.

Carlos Gardel ist eine essentielle argentinische Symbolfigur. Die Popularität des Tangostars war grenzenlos. Als er 1935 bei einem Flugzeugabsturz verunglückte, kam es in den Straßen von Buenos Aires zu enthusiastischen Trauerszenen.

Der Tango hatte seine Blüte in der ersten Hälfte des 20. Jh. Ab den 1950er-Jahren begann er an Bedeutung zu verlieren, der Rock n’ Roll setzt sich auch am Rio de la Plata durch. Unter der Militärdiktatur der 1970er-Jahre wurde der Tanz von den herrschenden Eliten sogar als anrüchig abgelehnt. Der Tango war bis weit in die 1990er-Jahre faktisch tot und hat sein Dasein nur noch in Touristenlokalen gefristet. Die heute 30-60-jährigen haben den Tanz als Junge gar nie gelernt. Gleichzeitig wurde der Tango als Exportprodukt in den Westen allerdings wieder populär und ist vor ca. zehn Jahren in sein Ursprungsland zurückgekehrt, von wo aus er wieder neue Impulse rund um den Globus schickt wie Christen das beschreibt. Goerleder sieht in der jüngsten Renaissance hingegen nur einen touristischen Abklatsch einer längst vergangenen Epoche, die mit dem heutigen Argentinien nichts mehr zu tun hat.

Das Conclusio des bisher Geschriebenen ist, dass der Tango der offensichtlichste Ausdruck einer chronischen Identitätskrise der Argentinier/innen im Allgemeinen und der Portenos im Speziellen ist. Es heißt, der Tango sei ein trauriger Gedanke den man tanzt. Diese Trauer ist die sentimentale Beziehung der Tagelöhner aus Neapel oder Galizien zur Alten Welt. Ein Kernelement argentinischer Kultur ist aus dem Heimweh geboren und diese pathologische Beziehung zu Europa ist bis heute nicht abgerissen.


Meine Tangowelt in Buenos Aires

Die Tangotanzbar nennt sich Milonga und ist eine konzeptuell simple, aber für einen im Wien der 2000er-Jahre lebenden Menschen trotzdem außergewöhnliche Einrichtung. Architektonisch sind Milongas meist in älteren Gebäuden untergebracht, die ihre besten Zeiten schon längst hinter sich gelassen haben. Man muss dazu sagen, dass Argentinier/innen diesbezüglich insofern eher amerikanisch als europäisch sind, als die alte Bausubstanz verfallen lassen oder wegreißen, während sie es todschick finden in einem modernen Wolkenkratzer zu leben. Daher haben die Milongas durchwegs etwas Schäbiges und die alten Bilder und Fotos aus den besseren Zeiten sorgen für ein sentimentales bis verstaubtes Ambiente. Zweifellos haben die Milongas Charme, und der Umstand dass selbiger offensichtlich abbröckelt macht die Angelegenheit fast romantisch. Als „arm aber sexy“, würde der Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit diese Atmosphäre wohl bezeichnen.

Verkehrte Welt: Die schönen alten Häuser werden von den Portenos tendenziell vernachlässigt. Lieber lebt man in den für europäische Geschmäcker nicht gerade ästhetischen Hochhäusern.

Da Portenos absolute Nachtmenschen sind beginnt die Milonga frühestens um 23:00, wobei man vor Ort Getränke und einfache Speisen bekommt. Jetzt im Mai beginne ich auch darunter zu leiden, dass es keine Heizungen gibt. Das Motto lautet „Tanze oder Friere“. Je nach Programm gibt es entweder Musik aus der Dose oder es spielt eine Band. Die Tische sind in U-Form um die Tanzfläche aufgestellt, man sitzt aber immer mit Blick zur Tanzfläche. Kommt man zu zweit sitzt man sich also nicht gegenüber sondern quasi in Reihen nebeneinander. Vor allem jetzt wo die Tourismussaison vorbei ist, hat man angenehm viel Platz. Wenn die Musik beginnt braucht man nicht lange auf Eisbrecher/innen warten, in kürzester Zeit sind die ersten Paare af der Tanzfläche. Einmal aufgefordert tanzt man eigentlich vier Tänze, aber mindestens zwei. Tatsächlich haben nach spätestens zwei Stunden fast alle mit fast allen getanzt, zumindest innerhalb jener Leute deren tänzerisches Niveau dies zulässt. Also jene Leute zu denen ich nicht gehöre. Mit mir tanzen entweder meine mitleidserfüllte Tangolehrerin oder mutige Anfängerinnen die ich aus der Tangostunde kenne.

So sieht eine klassische Milonga aus. Eine der Hauptaufgaben des Mannes ist es dafür zu sorgen nicht zu kollidieren. Echte Profis machen tolle Schrittfolgen auf kleinstem Raum

Während es früher eine richtige Zeichensprache fürs Auffordern gab, fragen die Menschen jetzt einfach ganz locker. Da Tango ein Tanz ist, der aus einer extrem machistischen Tradition stammt, fordern bis heute immer die Männer auf. Es gibt keine Damenwahl. Zwischendurch werden jeweils ein paar Folklorenummern getanzt, die beim Publikum wegen ihrer Einfachheit mindestens so beliebt sind wie der saukomplizierte Tango selbst. Argentinien ist so elegant wie Italien nur mit weniger Geld, insofern ist es angenehm, dass die Tourist/innen einen recht legeren Kleidungsstil in den Milongas durchgesetzt haben. Die Milonga dauert bis vier in der Früh.

Konst und Sarah hatten das Vergnügen in sechs Tagen Buenos Aires zwei Tangostunden zu nehmen und eine Milonga zu besuchen. Hier ihre ersten selbstständigen Schritte in der ungeheizten, dafür aber nicht isolierten Independencia 572. Der Beginn einer großen Showkarriere?

Ich tanze am Dienstag in einer Riesen-WG die aus lauter Lateinamerikaner/innen besteht. Die beiden Tanzlehrer/innen sind allerdings eine Italienern und ein Franzose. Am Freitag tanze ich bei einem argentinischen Lehrer, das Publikum besteht hauptsächlich aus Argentinier/innen und ein paar Franzosen. Wir tanzen gleich unmittelbar vor Ort, dort wo ein paar Minuten nach Ende der Stunde die Milonga beginnt. Die absolut freundliche und unkomplizierte Lockerheit der Portenos überträgt sich in der Klasse immer auch auf die europäischen Tangoneulinge. Da alles super-flexibel ist und man pro Stunde zahlt, gibt es immer nur einen Kern an Leuten die regelmäßig kommen. Das stört aber nicht, im Gegenteil, ich habe die Flexibilität schon genützt um auch einmal Samba, Salsa, argentinische Folklore und Milonga (in seiner Zweitbezeichnung steht das Wort für eine schnelle Version des Tango) zu tanzen. Außerdem habe ich mehrere Tango-Lehrer/innen ausprobieren können.

Die Cochabamba 444 ist derzeit meine Lieblings-Milonga. Der Laden ist eher kleiner, die Atmosphäre sehr familiär und jede/r kennt jede/n.

Jene Tangowelt die ich in Buenos Aires antreffe kommt mir keinesfalls künstlich oder aufgesetzt vor. Es ist definitiv eine Szene die stark expandiert und die in Buenos Aires lebenden Europäer/innen sind dabei eine wichtige Stütze. Vor allem in San Telmo, wo ich mich punkto Tango in erster Linie bewege, ist die Anzahl von französischen Tänzer/innen enorm. Viele junge Argentinier/innen versuchen sich den Tango anzueignen und die europäisch-argentinische Tangomischung die in Buenos Aires in der Luft liegt belebt einerseits einen Supertanz aufs Neue, andererseits experimentiert sie und kreiert etwa im Bereich des Elektrotango neue Genres.

Zum Abschluss dieses Eintrags darf natürlich eine musikalische Untermauerung nicht fehlen. Selbst Carlos Gardel, der größten Tangostar aller Zeiten, verkörpert das argentinische Identitätsproblem. Geboren 1890 in Toulouse geboren, wächst er ab seinem dritten Lebensjahr in Buenos Aires auf und wird sowohl von Frankreich als auch von Argentinien als Teil des jeweiligen kulturellen Erbes betrachtet. Aber er liebt Buenos Aires. Mi Buenos Aires querido

Donnerstag, 7. Mai 2009

1. Mai in Buenos Aires

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Den ersten Mai hätte ich beinahe vollständig verpasst. Das liegt daran, dass die Argentinier/innen am 1. Mai einen schönen freien Feiertag im Privaten zelebrieren möchten und daher zumindest heuer die Aufmärsche auf den 30. April vorverlegt hatten! Dies wurde mir spätestens klar als am 30. April ab ca. bereits 10:30 Vormittags im CAINA (meinem Straßenkindertagesheim) aus allen Richtungen Böller zu hören waren. Ich habe die Aufmärsche nach der Arbeit spontan besucht und daher auch keine eigenen Fotos sondern nur solche, die ich von den Internetseiten der hiesigen Tageszeitungen zusammengefladert habe.

Die Demonstration die ich beobachtete wurde von der größten und wichtigsten Gewerkschaft organisiert, der Confederación General del Trabajo de la República Argentina (CGT). Dabei handelt es sich um eine ideologisch nicht ganz klar zuordenbare, große bürokratische und staatstragende Organisation die sich auf den Peronismus beruft, in den 1990er-Jahren jedoch teilweise mit dem neoliberalen Regime von Präsident Menem zusammengearbeitet hat. Das wesentliche Gegenstück zur CGT ist die Central de los Trabajadores Argentinos (CTA). Diese ist stärker von linksperonistischen Strömungen dominiert, stand in Opposition zu Menem und stützt sich vor allem auf die Beschäftigen des öffentlichen Dienstes.



Es war nicht uninteressant, aber leider etwas enttäuschend, was die CGT auf er Avenida 9. Julio (der breitesten Straße der Welt) aufbot. Die Organisation war nicht schlecht. Busse voller Menschen wurden nicht nur aus Buenos Aires Stadt und Provinz, sondern sogar aus weit entfernt liegenden Provinzen wie „La Pampa“ angekarrt, wie die zahlreichen Transparente verrieten. Je nach Subgewerkschaft waren sämtliche Demonstrant/innen in den entsprechend gefärbten Overalls eingekleidet, die Transparente waren farblich darauf abgestimmt. Die Gewerkschaft sprach von 150.000 Teilnehmer/innen, andere Schätzungen gehen von unter 100.000 aus. So oder so, für ein Einzugsgebiet von 20 Millionen Menschen war es eigentlich keine eindrucksvolle Angelegenheit. Selbst wenn die SPÖ Wien und ihre Polizei mit der Zahl von 100.000 Teilnehmer/innen am Rathausplatz vielleicht etwas übertreiben, 50.000 werden es schon sein. Im Verhältnis dazu müsste in Buenos Aires mindestens eine halbe Million mitmarschieren.

Des weiteren waren die Demonstrant/innen zum absolut überwiegenden Teil Männer. Frauen waren die totale Ausnahme und wenn sich eine Passantin auf die Avenida 9. Julio verirrte, begleitete sie ein 2-minütiges Pfeifkonzert (so lange dauert es bis man dieses Monstrum überquert hat). Das in rauen Mengen aus abgemischten Plastikflaschen getrunkene Cola-Rot trug das seine zu den feurigen Nachpfeiforgien bei. Da lobt man sich das brave Wien mit seinen disziplinierten 1-Mai Pensionist/innen, die sich strikt an das Alkoholverbot halten. Dafür war die Stimmung natürlich deutlich spritziger als am Rathausplatz. Riesige Trommelgruppen sorgten für eine Mischung aus Samba und Marschmusik, die Leute skandierten ihre mir kaum verständlichen Forderungen inbrünstig in die Luft und regelmäßige Böller sorgten für ein bizarres Ambiente zwischen Jahrmarkt und Krieg.



Spätestens als ich die Bühne erblickte wurde mir alles klar. Die argentinische Gewerkschaftsbewegung lebt nicht im 21. Jh. wie die gewaltigen, doppelt angebrachten Konterfrei von Peron und Evita eindrucksvoll verrieten. In den 1950er-Jahren war beinahe die Hälfte der Arbeiterschaft in der Gewerkschaft organisiert. Ähnlich wie einst die österreichische Sozialdemokratie und der ÖGB entfalteten die argentinischen Syndikate ein Eigenleben mit Ferienheimen, Schulungszentren, Entbindungsstationen, Pensionskassen und Altersheimen. Selbst die Größe der Kränze für ein standesgemäßes Proletariergrab wurde genormt. Sie wurden zum Staat im Staate. Die Gewerkschaften waren eine der zentralen Stützen des Peronismus. Letzteren kann man sich vereinfacht als autoritären Sozialdemokratismus vorstellen. Eine durch Mussolini inspirierte faschistisch anmutende Organisation von Partei und Gesellschaft, aber mit starkem sozialpolitischem Fokus und in absoluter Feindschaft zur argentinischen Oligarchie. Wenn man so will, ein paternalistischer Sozialismus. Der Mangel an Respekt für Rechtsstaat und Demokratie unter Peron ließ natürlich Tür und Tor offen für spätere antidemokratische Entwicklungen sowie für das düstere Kapitel der Militärdiktatur ab 1976.