Donnerstag, 5. März 2009

Der Staat

Die Farben der Fahne Argentiniens kennt man vielleicht vom Fußball

In Österreich haben die Menschen oft ein zwiespältiges, aber tendenziell positives Verhältnis zum Staat und seinen Institutionen. Gesundheit und Justiz genießen meist ein großes Vertrauen, die Uni wird trotz Schwächen eher als positiv bewertet. An der Schule scheiden sich oft die Geister, der Polizei wird zumindest im Verkehr vertraut, viele kritische Menschen kritisieren aber punktuelle Polizeigewalt, vor allem gegenüber Minderheiten. Über die ÖBB schimpft man obwohl sie so schlecht nicht sind und die Wiener Linien können beinahe als populär eingestuft werden. Auch Sozialeinrichtungen wie z.B. die Drogenberatungsstelle „Ganslwirt“ hat man als brauchbar, wichtig und recht gut ausgebaut im Bewusstsein. Kindergärten, Sozialhilfe, Impfungen, Arbeitnehmerschutz, Behindertengesetzgebung, Konsumentenschutz, gesetzlicher Urlaubsanspruch. Irgendwie ist der Staat in letzter Konsequenz eher ein Hawara.

In Österreich fühlt man sich wohl in den Händen von Vater Staat.

Die Rolle des Staates erscheint in Argentinien in einem völlig anderen Licht. Zur Illustration was damit gemeint ist, dienen am besten ein paar Beispiele.

Ein eine einleuchtende Form von Staatsversagen steht in Zusammenhang mit dem Kleingeld (den „monedas“). Die Buslinien (colectivos) von Buenos Aires wurden vor einigen Jahren privatisiert, was ja schon an sich eine Bankrotterklärung der öffentlichen Hand ist. Dies führte dazu, dass etliche kleine Busunternehmen zu abgesprochenen Tarifen fahren und immer gemeinsam die Preise erhöhen (Wettbewerb dank Privatisierung HAHAHA). Ein Wechsel zwischen zwei Bussen mit einem Fahrschein ist nicht möglich ist, es müsste ein neuer gekauft werden. Das eigentliche Problem ist, dass man jede Busfahrt ausschließlich mit Kleingeld bezahlen kann. Nur im Bus selbst kann man im Automaten, der nichts als „monedas“ schluckt, ein Ticket erstehen. Es gibt weder 10er-Blöcke, noch Jahres- oder Wochenkarten (wegen der unmöglichen Koordination etlichen verschiedenen Anbieter). Da die U-Bahn unzureichend ausgebaut ist, und es keine BIM gibt, ist die Bevölkerung voll auf die Busse angewiesen. Dies führt natürlich dazu, dass die Menschen das Kleingeld horten und es in der gesamten Stadt immer ein irres Feilschen um die „monedas“ gibt. Man muss versuchen stets mit jenen Geldscheinen zu zahlen, die einem die maximale Menge an Wechselgeld garantieren. Aber selbst in Supermärkten kann es oft passieren, dass es kein Wechselgeld mehr vorhanden ist. Bis jetzt habe ich mich AUSNAHMSLOS an den Tipp meiner Vermieterin aus den ersten Tagen gehalten: „I don’t belive in anything, neither in any religion, nor in god. The only thing I belive is: Never spend your coins!“

Die Ein-Peso-Münze ist viel mehr wert als ein Zwei-Pesoschein

Die schwer korrupten Busunternehmen verkaufen ihre „monedas“ illegal und haben ob dieser Margen ein großes Interesse am Beibehalt dieses Systems. Auch die weit verbreiteten Kioske, an denen viel nur gekauft wird um das entsprechende Wechselgeld zu erlangen, stecken angeblich unter der Decke der „monedas“-Mafia. Faktisch hat sich mit den „monedas“ ein völlig absurder zweiter Geldkreislauf gebildet. Seit Jahren tun der Staat und die Stadt nichts gegen diesen irrwitzigen Kleingeldmangel, der sich mittlerweile auf ganz Argentinien ausgebreitet hat.

Transportunternehmen sind korrupt und vor allem gefährlich. Die irrsten aller Verkehrsteilnehmer sind die Busfahrer.

Ein anderes Beispiel ist die Müllversorgung. Sie funktioniert in Buenos Aires einfach nicht, die Stadt kommt ihrer öffentlichen Aufgabe völlig unzureichend nach. Die Armen haben aus dem Müllproblem aber eine Tugend gemacht. Tausende arme Menschen in Buenos Aires arbeiten - vor allem nachts - als „Carteneros.“ Sie gehen zu den Mülltonnen und trennen den Müll, was die Bevölkerung hier natürlich nicht macht. Dann führen sie mit kleineren und größeren Leiterwägen den Müll zu Sammelstellen, wo zu sehr niedrigen Preisen an Recyclingfirmen verkauft wird. Kurz nach der Krise von 2001 wurde die Anzahl der „Carteneros“ auf 40.000 geschätzt. Die „Carteneros“ organisieren sich teilweise in genossenschaftsähnlichen Strukturen selbst. Die Stadt spart sich mit dieser „Privatisierung“ unzählige Angestellte mit vernünftigen Gehältern.

Ein Cartenero mit seinen Utensilien.

Ein letztes Beispiel ist die Polizeigewalt. Die Polizei ist nicht nur korrupt sondern auch gewalttätig. Wer glaubt sich mit der Polizei anlegen zu können findet sich angeblich oft als Leiche wieder, in den Provinzen ist es schlimmer als in der Hauptstadt. Auch bei Demonstrationen geht die Polizei extrem gewalttätig vor. Selbst wenn es sich um eine Kundgebung von Lehrer/innen für höhere Gehälter handelt gibt es etliche Verletzte. Bei einer solchen Demonstration in der Provinz Mendoza wurde erst kürzlich ein Lehrer getötet! (Das sind keine Horrogeschichten, ein Blick in einen Bericht von Amnesty International genügt um zu wissen was los ist.)


Dein Feund und Helfer in Argentinien

Die Menschen hier verabscheuen den Staat. Sie erachten die Politik als ausschließlich korrupt und an den persönlichen Interessen der Akteur/innen interessiert. Sie halten die öffentliche Verwaltung überdies für unfähig und ineffektiv. Das Vertrauen in die Institutionen ist minimal. Dass Staat und Gemeinwohl etwas miteinander zu tun haben glaubt hier niemand. Tatsächlich interveniert der Staat bei dem zuvor genannten Beispiel mit dem Kleingeld einfach nicht. Seiner korrupten Polizei traut hier kein Mensch. Noch schlimmer ist der Umstand, dass die Justiz ebenfalls korrupt ist und kein Vertrauen genießt. Es gibt angeblich eine einzige einigermaßen funktionierende Zugverbindung im gesamten Land, diese ist kurz und geht von der Capital Federal Buenos Aires in die wohlhabenden nördlichen Vororte. Das Überlandbusnetz ist privat. Bildung und Gesundheit dürften vor 15 Jahren noch in Ordnung gewesen sein, leiden aber an chronischer Unterfinanzierung und werden immer schlechter.

Die Präsidentin, in der Öffentlichkeit "Cristina" genannt. Wer glaubt, dass die Politik in Österreich verachtet wird, war nocht nicht in Lateinamerika.

Ein junger Arzt im Turnus sagt, dass im Gesundheitswesen viel mehr das Chaos statt Korruption der Hauptfeind ist. Die Desorganisation sei einfach gewaltig. Auch im CAINA staune ich über die Handwerker der Stadt Buenos Aires, die hier seit Monaten Wasserrohre reparieren sollten. Sie kommen um halb 10 und bedienen sich dann einmal beim Frühstück der Straßenkinder (Das Essen ist nicht schlecht). Gegen 10:00 bewegen sie sich irgendwo Richtung Arbeitsstätte, vor dem Mittagessen sehe ich sie aber gelegentlich noch irgendwo herumlungern oder Ping Pong spielen. Außerdem ist ihre Arbeit wahrscheinlich umsonst, weil das CAINA bald einer Straßenverbreiterung zum Opfer fallen und übersiedeln wird. Bei aller Nachsicht für lateinamerikanische Gemütlichkeit, das geht ein bisschen weit.

Ein Blick auf das "Hospital Aleman" in Buenos Aires

Der Staat wird mit Sicherheit von mächtigen Gruppen beherrscht, mein erster Eindruck ist aber nicht, dass er ein pures Instrument der herrschenden Klasse im marxschen Sinne ist. Die Regierung Kristina Kirchner versuchte beispielsweise letztes Jahr gegen heftigste Proteste der Großgrundbesitzer („el campo“) eine höhere Besteuerung auf Agrarausfuhren durchzusetzen, scheitere allerdings daran. Der Staat ist ganz offensichtlich einer von mehren mächtigen Playern, mit ganz spezifischen Partikularinteressen. Alle hassen den Staat und niemand vertraut seinen Institutionen. Auch die Wohlhabenden nicht.

Selbstverständlich können mehr als die Hälfte aller sozialen Probleme in Argentinien nur durch massive Umverteilung gelöst werden. In einem lateinamerikanischen Land können selbst das größte Wirtschaftswachstum und der optimalste Ressourceneinsatz der breiten Masse nur teilweise helfen, weil die Einkommen so ungleich verteilt sind. Gemäß Gini-Index (0= absolute Gleichverteilung, 100= ein Mensch erhält das gesamte Einkommen), liegt Argentinien bei 52,2. Das ist ein Wert wie Nigeria oder Papua Neu Guniea. Selbst die USA liegen mit 46,6 deutlich besser, Österreich kommt auf 30, Dänemark auf 24,7. Die argentinische Armutsquote liegt bei über 50 Prozent (!), Österreich liegt vergleichsweise bei 12 Prozent. Trotzdem ist es richtig, dass es nicht nur auf die Menge an umzuverteilenden Mittel, sondern auch auf deren Verwendung ankommt. Und wenn ein Teil im korrupten Apparat hängen bleibt und der andere suboptimal eingesetzt wird, dann bleibt unfassbare absolute Armut einfach ein Faktum.

Das Elendsviertel "Villa 31" hinter dem Bahnhof Retiro. Im Hintergrund die Skyline des schicken Geschäftsviertels "Microcentro."

Auch die Wohlhabenden wollen nicht, dass es in diesem Land Hungertote gibt, was erschreckenderweise manchmal der Fall ist. Natürlich ist ihr Hinweis richtig, dass dieser spezifische Fall in erster Linie eine Frage der Verwendung vorhandener Mittel und der Organisation ist. Eine funktionierende öffentliche Hand, die nicht von Korruption zerfressen ist und die Mittel im Ausmaß des argentinischen Nationalstaates zur Verfügung hat, müsste dieses Problem eigentlich spielend lösen können. Der Staat ist aber desorganisiert, korrupt und löst das Problem nicht. Die Reichen wollen genauso wie in Europa keine Steuern zahlen, weil sie damit Geld verlieren. Sie wollen aber auch keine Steuern zahlen, weil sie dem Staat und seiner Effektivität nicht trauen. Was in Europa ideologische Kampfrhetorik ist, kann hier zumindest begründet werden. Wieso sollte man einer völlig korrupten politischen Klasse, die nur in die eigene Tasche arbeitet, Steuern zukommen lassen wollen? Der kleine Mann und die kleine Frau, die selbst den Staat hassen, können diese Argumentation der Wohlhabenden gut nachvollziehen und unterstützen die Großgrundbesitzer bei ihren Straßenprotesten gegen Steuererhöhungen.


Argentinien ist ein vorindustrieller Agrarstaat. Hier hat der "Campo" das Sagen, wie einst bei uns der grundbesitzende Adel.

In Argentinien bedarf es wirklich eines Kulturbruchs innerhalb der öffentlichen Hand inklusive eines kompletten Elitenwechsels in der Verwaltung. Erst in einem zweiten Schritt könnte man überhaupt einmal eine sinnvolle Verwendung der Steuermittel andenken, bzw. eine umverteilende Steuerreform glaubhaft vorschlagen. Bevor hier für soziale Gerechtigkeit gesorgt werden kann, muss wohl das Staatswesen in Ordnung gebracht werden.

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