Dienstag, 10. März 2009

Die Arbeit im CAINA (Teil 2)

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Dieser Text ist eine Zusammenstückelung von eigenen Erfahrungen, sowie von Hintergrundinformationen aus der Fachliteratur. Die Bücher von Jürgen Sand: „Soziale Arbeit mit Straßenkindern“ (Frankfurt 2001) und von Reiner Engelmann: „Straßenkinder im Dschungel der Großstädte“ (München 2002) beantworten viele offene Fragen und ermöglichen eine Kontextualisieurng meines Projekts. Die Passagen die nicht auf eigene Erfahrungen zurückzuführen sind, werden explizit bezeichnet.

Wieso sind die Kinder auf der Straße?

Eine klassischer Vorgeschichte wie Kinder auf der Straße landen beschreibt Engelmann folgendermaßen: Junge Erwachsene ziehen mit ihrer Familie vom Land in eine lateinamerikanische Metropole, die alte ländliche großfamiliäre Struktur ist damit aufgelöst, In der Regel ist die Destination ein Elendsviertel, in solchen leben gemäß UNICEF bis zu zehn Familienmitglieder in einem Raum. In Bolivien gelten laut Sand 63% der Bevölkerung als arm (in Argentinien knapp über 50%) Das Einkommen der Erwachsenen reicht nicht aus um die Familie zu ernähren. In der Stadt verdienen die Mütter dann mit ihren Kindern auf der Straße oft mehr als der Vater mit seinen Gelegenheitsarbeiten. Letzterer schlittert in eine Identitätskrise, der er mit Gewalt, Missbrauch und Alkohol begegnet. In Bolivien arbeiten die meisten Kinder zunächst auf der Straße. Kommen sie aus gewaltsamen Familien und sehen sie keine andere Perspektive der Unterdrückung zu entfliehen, flüchten sie oft endgültig dorthin. Armut muss nicht dazu führen dass Kinder und Jugendliche auf der Straße leben, sie ist aber die Hauptursache.

In den lateinamerikanischen MEGA-Citys hoffen die Armen vom Land auf den sozialen Aufstieg

Die von Sand befragten Sozialarbeiter/innen in Bolivien sind sich einig, dass extreme Armut und innerfamiliäre (sexuelle) Gewalt die wesentliche unmittelbare Ursache für die Flucht der Kinder auf die Straße ist. Drei von vier Sozialarbeiter/innen geben an, dass es Alkoholprobleme in den betroffenen Familien gäbe. Oft sind die Stiefväter besonders gewalttätig (70%-90% der Straßenkids kommen aus Patchworkfamilien). Engelmann gibt in einer offenbar stark domestizierten Übersetzung folgende Eindrücke eines Straßenkindes einer nordargentinischen Stadt wieder:

„Als mein Vater mich entdeckte, torkelte er auf mich zu, seine Alkoholfahne konnte ich deutlich riechen, und holte, ganz ohne Vorankündigung, die Faust zum Schlag aus. Er hätte mich sicher getroffen wenn ich nicht im letzten Augenblick ausgewichen wäre. Er verlor das Gleichgewicht, fiel mit dem Kopf gegen die Wand und sackte zu Boden. Durch den Krach weckte er meine Geschwister und innerhalb kürzester Zeit war ein Höllenlärm in der Hütte, der durch die Schreie meiner Mutter noch übertont wurde. (…). Sie schrie nicht um ihre Kinder zur Ruhe zu bringe, es waren hysterische Schreie bis sie irgendwann vor Erschöpfung zusammenbrach.“

Laut Sand sind es das Gruppenleben, die Freiheit (auch sexuelle Freiheit, die Anzahl an schwangeren Mädchen ist entsprechend hoch), das Abenteuer und die Drogen die als vermeintliche Vorteile in der Wahrnehmung der Kids gegenüber der Familie überwiegen.

Gewalt, Autoaggression und Narben

Unsere Kinder im CAINA haben nicht nur völlig verdreckte Hände, sondern auch verdammt viele und teilweise massive Narben. Kürzlich kam ein 16-jähriger mit mindestens 25 großen und relativ frischen Schnitten auf jedem Unterarm. Zwei Wochen vorher kam ein Bursche in ähnlichem Alter mit blutunterlaufenem Auge und deutlichen Kampfspuren im Gesicht. Gewalt gegen andere und Selbstverstümmelung bescheren den Kids laut Sand ein kurzfristiges Gefühl der Erleichterung. Fast alle Kids haben Narben von Schnittwunden, diese sind entweder die Folge von Gewalt oder von Autoaggression. Die Narben werden als Zeichen einer Gruppenzugehörigkeit stolz getragen. Dieses Ritzen führt häufig zu Infektionskrankheiten, der rasche Partnerwechsel bringt entsprechend viele Geschlechtskrankheiten mit sich.

Zur Auflockerung des ernsten Textes: Eine Cucaracha neben einem Milchpackerl im CAINA

Sexuelle Gewalt und Prostitution

Eigentlich suchen die Kinder Schutz vor der Gewalt. Das Straßenleben bringt eine große Freiheit, jedoch auch große Zwänge und die befragten Sozialarbeiter/innen sind sich einig, dass sich die Gewalt auf der Straße in anderer Form fortsetzt. Beispielsweise in Form von sexuellen Übergriffen auf Mädchen. Engelmann betont, dass Mädchen oft als Freiwild betrachtet werden und sexueller Missbrauch ist in etlichen Jugendbanden ein Gruppenritual. Manchmal werden Mädchen auch von Banden zur Prostitution gezwungen, vor allem für Jungfrauen sind manche Freier bereit sehr viel Geld zu zahlen. Die Anzahl der Straßenmädchen nimmt zu. Natürlich suchen vor allem Männer sexuellen Kontakt mit Mädchen oder Burschen, mittlerweile gibt es aber auch eine Nachfrage nach Prostitution bei Frauen aus höheren sozialen Schichten. Rund zwei bis zehn Prozent aller Straßenkinder sind HIV-infiziert. In Rio oder Sao Paul sind mehr als ein Drittel aller Straßenkinder HIV-positiv.

Auf der Straße leben viel mehr Burschen als Mädchen, vor allem viel mehr jüngere Buben. Mädchen haben laut Sand eine wesentliche höhere Frustrationstoleranz und akzeptieren gewaltsame Familienverhältnisse viel länger. Sie kommen erst mit 11-13 auf die Straße. Oft flüchten sie vor sexueller Gewalt in der Familie, oft auch vor den Familienvätern jener Familien bei denen sie als Dienstmädchen beschäftigt sind.

Drogen

Die wichtigste Form des Drogenkonsums ist laut Sand das Schnüffeln von Klebstoff, gefolgt von Marihuana. Es gibt aber auch Kinder mit Kontakt zu Kokain. Klebstoff dürfte physisch nicht, psychisch aber sehr abhängig machen. Langzeitschäden bestehen vor allem in einer motorischen Beeinträchtigung, die Kids können gewisse Körperteile nicht mehr bewegen. Rund 70 Prozent aller Straßenkids sind laut Engelmann süchtig nach Klebstoff. Die Kinder bei uns im CAINA sind öfters bekifft, oder high vom Klebstoff. Das heißt aber nicht, dass sie sich schlecht benehmen, sie sind nur ruhiger. Vor allem wenn sie neue Narben oder Verletzungen haben, sind sie meistens zugedröhnt. Im CAINA gibt es keine Couchen und es ist ihnen verboten zu schlafen, damit sie es nicht als After-Drogen Quartier verwenden. Im CAINA selbst sind Drogen natürlich verboten, Zigaretten rauchen ist aber erlaubt, auch für junge Kinder. Streichhölzer dafür gebe ich ihnen jeden Tag durchs Küchenfenster.

Klebstoff wird mit Hilfe von Plasticksackerl inhalliert. Daher müssen wir von der Küche in die entsprechenden Sackerl Löcher machen, bevor wir sie wegwerfen.

Schwangerschaften

Kondome werden laut Sand oft darum nicht verwendet, weil Sex meist im Rauschzustand passiert, wobei die Kids dabei natürlich nicht an Verhütung denken. Die Schwangerschaft ist ein guter Anknüpfungspunkt um aus dem Straßenleben auszusteigen. Viele schwangere Mädchen denken über alternative Lebenskonzepte nach. Sie wollen von den Drogen loskommen und die Beziehung zu ihrem Freund verbessern. Mit einem Baby auf einem Pappkarton im Park zu schlafen ist oft keine verlockende Perspektive. Viele Mütter kommen aber während der Schwangerschaft und danach von den Drogen nicht los, etliche Babys kommen abhängig zur Welt. Faktum ist, dass sie wenigen Wochen alten Babys im CAINA oft erschreckend ruhig sind. Paul und ich wundern uns, dass sie im Gegensatz zu europäischen Babys fast nie schreien.

Sand zitiert Studien für Bolivien die davon ausgehen, dass 50 Prozent der gezeugten Kinder das zweite Lebensjahr nicht erleben. Sofern die Jugendämter Zugriff haben stellen sie die Mädchen vor die Alternative: Therapie oder Kindesentzug. Für einige ist das ein Anreiz ihr Leben umzustellen. Ende der 90er sagt eine Sozialarbeiterin in Bolivien, dass es bereits eine zweite Generation auf der Straße gibt. Kinder von Straßenkindern, die mit vier oder fünf Jahren schon beginnen Dinge zu tun die ihre Eltern getan haben.

Arbeiten die Kinder? Wovon leben sie?

Gemäß ILO (1998) gibt es ca. 250 Mio. arbeitender Kinder zwischen 5 und14 Jahren. Davon sind rund 120 Mio. vollzeitbeschäftigt. Von allen arbeitenden Kindern weltweit leben rund 17% in LA. Der Begriff „ninos trabajadores“ macht auf die aktive Tätigkeit der Kinder aufmerksam und ist in den „Bewegungen der arbeitenden Kinder“ populär. In den meisten LA Ländern nennen sie sich mit Stolz „ninos trabajadores“. Sie arbeiten auf der Straße, aber nur ein Teil diese Kids lebt auf der Straße. Kinder die arbeiten UND auf der Straße leben werden als „ninos trabajadores de la calle“ bezeichnet.

Der Direktor des CAINA (Emilio) schätzt dass 80% der Kinder im CAINA nicht (im traditionellen Sinne) arbeiten. Von einigen wenigen wissen wir explizit dass sie punktuell arbeiten, auch in Fabriken. Wobei die Grenzen zwischen Bettelei und Arbeit oft fließend sind. Viele Kinder teilen Kugelschreiber und ähnliches in U-Bahnen oder Cafés aus, um diese zu verkaufen. Bis dato kann ich nicht einschätzen wovon unsere Kinder so leben. Prostitution ist sicher dabei (ein Mädchen hat ein Baby dessen Vater 46 ist und sein Baby nicht kennt, ein anderer Bursche wohnt bei einem erwachsenen „Freund“ der ihn irgendwie versorgt.) Klar ist, dass viele stehlen. So auch ein 14-jähriger, der kürzlich mit meinem Handy verschwand, dass ich ihm dummerweise kurz zu Spielen borgte!!! Faktum ist, die Kinder haben meist Geld, die Quellen dürften Gelegenheitsarbeit, Prostitution, Bettelei, Straßenverkauf und Diebstahl sein. Im CAINA wird auch nicht nachgefragt wie die Kinder zu ihrem Geld kommen.

Wieder zur Auflockerung: Ein Kammerjäger bei uns in der Küche, wie das dezente Emblem auf seinem Rücken verrät.

Straßenkinder, Polizei und Menschenrechte

Straßenkinder hassen die Polizei, diese ist bekannt für das brutale Vorgehen gegen Kinder und Jugendliche. Ein argentinisches Straßenkind beschreibt ein Polizeiverhör in Engelmanns Buch folgendermaßen:

„Zwei Polizisten kamen von hintan auf mich zu und setzten nun die Befragung mit ihren Methoden fort. Sie brüllten mich an, zerrten mich an den Haaren vom Stuhl, versetzen mir Fausthiebe in die Rippen und in den Magen, die mir für einen Augenblick die Luft nahmen, traten mit ihren Polizeistiefel auf mich ein, als ich nach einem Schlag in den Nacken zu Boden ging.“

Erschreckend ist in diesem Zusammenhang die Kollaboration der Justiz mit der Polizei. Richter entscheiden auf Basis von Polizeiberichten, ohne das verdächtigte Straßenkind überhaupt zu befragen, über Untersuchungshaft oder Haftstrafen.

Amnesty macht regelmäßig auf systematische Menschenrechtsverletzungen gegen Straßenkinder in ganz LA aufmerksam, die bis zu Mord gehen können. Von brasilianischen Todesschwadronen die im Auftrag von Geschäftsleuten arbeiten wurden zwischen 1984 und 1989 unfassbare 1397 Kinder ermordet. Gemäß Amnesty werden heute täglich drei Kinder Opfer von Todesschwadronen.

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