Montag, 19. Oktober 2009

Was ist amerikanisch an Argentinien?

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Amerikanisch ist ein schwieriger Begriff. Die Menschen in Argentinien sind zu Recht angefressen, wenn man von Amerikaner/innen spricht, und die USA meint. Immerhin leben 2/3 der 900 Millionen Amerikaner/innen nicht in den Vereinigten Staaten. Das sollten US-Bürger/innen und Europäer/innen eigentlich bei ihrem Sprachgebrauch berücksichtigen. In Argentinien gibt es neben dem tendenziell abwertenden „Yankees“ (argentinisch: „Schankies“) zwei wichtige Begriffe für die US-Bürger/innen. Das sehr treffende „estadounidense“ und das aus der Sicht Mexikos und Kanadas auch nicht ganz gerechtfertigte „norte americano“.

Mit der Fragestellung „Was ist amerikanisch“ an Argentinien meine ich auf den ersten Blick „US-amerikanisch.“ Es gibt aber durchaus Parallelen, die wohl für mehrere Staaten Amerikas zutreffen und daher so etwas wie „amerikanische Gemeinsamkeiten“ konstituieren. Dazu aber noch später. In Folge vergleiche ich die einzigen beiden amerikanischen Staaten, die ich persönlich kenne. An anderer Stelle habe ich bereits über die bewusste kulturelle Abwehrhaltung Argentiniens gegenüber den USA berichtet. Trotzdem teilen die beiden Nationen einige Gemeinsamkeiten. Welche aus europäischen Augen gesehen „amerikanischen“ Charakteristika finden sich also auch in Argentinien:


Die Distanzen: Eine dreistündige Autofahrt von Wien nach Salzburg ist für unsereins eine Reise. Anders in den USA und Argentinien, hier sind achtstündige Autofahrten um am Wochenende die Oma zu besuchen keine Besonderheit. Wenn ich erzähle, dass die nächstgelegene Hauptstadt von Wien nur 50 km. entfernt liegt, sind die Menschen einigermaßen fassungslos. Überhaupt ist von Wien aus gesehen vieles für amerikanische Verhältnisse extrem nahe:

Bratislava: 50 km
Budapest: 200 km
Prag: 250 km
München: 350 km
Venedig: 450 km
Berlin: 500 km
Mailand: 600 km
Paris: 1.000 km
Kiew: 1050 km

1.000 km entspricht der Strecke Buenos Aires – Mendoza. Damit hat man nicht einmal noch das Land von Ost nach West durchquert. Von den USA ganz zu schweigen, 1.000 km von New York erreiche ich nicht einmal Chicago. Keine Sorge, die Distanzen sind das einzige Element meiner Aufzählung, das von Google earth unterminiert wurde, die weiteren Beispiele kommen ohne geographische Details aus.




Der Platz: Direkt mit den Distanzen geht der Umstand einher, dass unfassbar viel Platz besteht, der trotz exzessiv großzügiger Nutzung bei weitem nicht verwendet werden kann. Was die typischen Postkartenansichten von Buenos Aires verschleiern ist die Tatsache, dass der Großteil von Capital Federal (Hauptstadt ohne Vorstädte) aus ein- bis zweigeschossigen Häusern besteht. An der Ostseite und bis hinein in die geometrische Stadtmitte gibt es viele mehrstöckige Bauten und Hochhäuser. Der gesamte Rest sieht aus wie eine Kleinstadt die kein Ende nimmt. Wenn in der Hauptstadt schon so mit Platz geurasst wird, kann man sich vorstellen, wie es in kleineren Städten und in Dörfern aussieht. Dort ist alles sehr großzügig angelegt, im Dorf steht nicht Haus neben Haus sondern Garten neben Garten. Es ist erstaunlich, dass das Hochhaus vor über 100 Jahren in (Nord)amerika seine Erfolgsgeschichte begann. Eigentlich wäre diese Bauweise im dicht besiedelten Europa viel zweckmäßiger.

Abgesehen vom Osten und der Mitte sieht Buenos Aires über Quadratkilometer so aus. Wie ein Derfel.


Die Freiheit: Die Distanzen und der Platz bedeuten natürlich ein Freiheitsgefühl und auch eine real existierende Freiheit, die es in Europa de facto nicht gibt. Die hohe Bevölkerungsdichte bei uns erfordert auch in ländlichen Gebieten ein komplexes Regelwerk, dass das Zusammenleben von vielen Menschen auf wenig Raum ordnet. In Österreich gibt es z.B. nur ein paar Hektar bewusst erhaltenen Urwald. 99% der Flächen sind Kulturlandschaft, also vom Menschen kontrolliert und verwendet. Bei uns ist jedem Quadratmeter Land ein behördlich kontrollierter Nutzen zugeordnet. Wo man Gehen, Reiten oder Mountainbike fahren darf ist exakt reguliert. Wie die Dachneigung aussehen muss um das Ortsbild nicht zu verschandeln ist ebenso vorgeschrieben wie die exakte Mülltrennung (zumindest in NÖ). Was die Landwirte anbauen wird von der EU per Satellit kontrolliert. Anders in Argentinien (und in den nonurbanen USA): So wie man sich die Route 66 vorstellt, so sieht auch der Großteil Argentiniens aus. Es ist die einsame Freiheit, die man in US-Roadmovies erahnt, ein Gefühl, das sich wahrscheinlich am besten auf Trucks oder Motorrädern erleben lässt. Dort wo fast nichts ist, gibt es auch fast keine Regeln. Weit weg von staatlichen Autoritäten sind Verkehrsregel, Bauordnung oder Waffengesetz überflüssig. Ob ich dort draußen reite, schieße, segelfliege, paragleite, mit 180 km/h rase, eine Blechhütte aufstelle, meinen Giftmüll vergrabe, einen Joint rauche oder nackt über meinen Acker laufe, ist einfach egal. Die Kehrseite dieser Freiheit ist natürlich der Umstand, dass das Faustrecht in solchen Gegenden eine größere Rolle spielt als in urbanen Gebieten. Ich kann diese Mentalität nur versuchen zu erahnen, aber die Cowboy-Redneck-Republikaner-Waffenlobby-Identität dürfte eng mit dieser Auffassung von Freiheit zusammenhängen.


Der Gaucho (argentinischer Cowboy) als Symbol für Freiheit und Wildheit weitab der Zentren der Zivilisation.


Die Rinder: Argentinien führt im Rindfleischkonsum mit Abstand vor Australien und den USA. Ich weiß nicht ob es mit der unendlichen Weidefläche zu tun hat, dass Rinder und vor allem das Rindfleisch in den USA und in Argentinien eine wesentlich größere Rolle spielen als bei uns. Jedenfalls ist der Fleischkonsum in beiden Staaten höher als in Europa und Rind das mit Abstand wichtigste Fleisch. Der Rindfleischkonsum betrug in Argentinien in den 1970er-Jahren unfassbare 90 kg pro Kopf (250 Gramm täglich!), heute ist er auf 70 kg gesunken. In Argentinien ist „Carne“ (Fleisch) gleichbedeutend mit Rindfleisch, Schweinefleisch spielt eine total untergeordnete Rolle.

Die Schachbrettstädte: Was Wiener Neustadt schon im Mittelalter vorexerzierte, haben die Städte Amerikas in der jüngeren Neuzeit exakt durchgezogen. Die Städte Argentiniens – allen voran Buenos Aires – sind schachbrettartig angelegt. Das ist ein triftiger Grund nicht in Amerika zu leben. Es gibt keine Plätze, keine Gasserln, kaum Diagonalstraßen und somit wenig Dreieckshäuser im spitzen Winkel zweier Straßen. Überdies ist der Autoverkehr unerträglich dominant, als wäre das Verkehrskonzept ausschließlich aufs Auto ausgerichtet. Jede vierte Straße ist eine fünf- der mehrspurige Riesen-Avenida Natürlich gibt es keine Straßenbahn sondern nur dröhnende Autobusse. Sämtliche Dörfer und Städte Argentiniens sind schachbrettförmig angeordnet. Schachbrettstädte mögen – so wie New York oder Buenos Aires – großartig und beeindruckend sein. Ihnen fehlt aber das lieblich-verspielte. Wer sich in Städten vom Typus Florenz, Salzburg oder Brügge so richtig wohl fühlt, wird es in Amerika schwer haben mit dem Stadtbild warm zu werden.

Die Ausnahme von der Regel: Die Lieblingsstraße in meinem Viertel heißt Calle Oruro. Ich mag sie weil sie klein ist, gepflastert, weil keine (5000 Dezibil) Autobusse durchfahren, aber vor allem weil es eine Diagonalstraße ist.


Das ist mein Stammcafé. Obwohl die „Media Lunas“ (Kipferl) immer alt schmecken komme ich hier her. Vor allem weil es am Eingang der Calle Oruro liegt und in einem von mir geliebten Dreiecksgebäude untergebracht ist. Links in der Ecke der Kiosk, wo ich immer mein Argentinisches Tageblatt kaufe



Der Individualverkehr: Genauso wie die Stadt Buenos Aires eine Autostadt ist, kann man ganz Argentinien als Autoland bezeichnen. Auch wenn es noch nicht überall Autobahnen gibt, die Überlandstraßen sind perfekt asphaltiert und es gibt keine Schlaglöcher. Die gewaltigen Trucks sehen aus wie in den USA und die Spritpreise sind – auch wegen eigener Off shore Erdölförderung – sehr niedrig. Überdies ist das Eisenbahnnetz ähnlich wie in den USA nur mehr rudimentär vorhanden. Hat man kein Auto, reist man im Mikro (Überlandbus).

Die Wertigkeit alter Bausubstanz: Altbauten (alt bedeutet in Argentinien Gebäude aus der Jahrhundertwende 1900) haben keinen besonders hohen Stellenwert in Buenos Aires. In Wien lebt man hingegen am liebsten in einem sanierten Altbau, modernere Hochhausanlagen befinden sich meist in Randlagen und haben einen geringeren sozialen Statuts. So etwa Gemeindebauten, vor allem jene die nach 1945 erbaut wurden, in jenen Jahrzehnten als Funktionalität das einzig relevante Kriterium war und so hässlich gebaut wurde wie nie zuvor. In Buenos Aires sind die modernen Hochhäuser zentraler gelegen und optisch ansprechender als jene in europäischen Vorstädten. Sie gelten als sehr schick. Die zwei oder sogar nur eingeschossigen Altbauten sind oft heruntergekommen und nicht sonderlich beliebt. Der bautechnisch alte Süden der Stadt ist tendenziell arm bis prekär, während der bautechnisch modernere Norden wohlhabend bis elegant ist. Noch immer werden alte ein bis zweigeschossige Häuser abgerissen um ein modernes Hochhaus zu errichten. Natürlich ist es unfassbar viel profitabler auf der gleichen Grundfläche ein Hochhaus anstatt eines 2-Familienhauses stehen zu haben. Die Margen öffnen der Korruption Tür und Tor. Das Denkmalamt mag die mächtigste Behörde Roms sein, in Argentinien hat es wenig zu melden. Auch in den USA hat sich die Liebe zur „alten“ Bausubstanz seit je her in Grenzen gehalten. Amerika ist im Bezug auf seine architektonische Geschichte sehr pragmatisch.

Hier ein paar eingeschossige Altbauen in meiner Straße (Urquiza), wie gewöhnlich ziemlich heruntergekommen.


Die bewachten Wohngegenden: Wie in den USA gibt es in Argentinien Wohngegenden die mit Stacheldraht umzäunt sind, die von bewaffneten Sicherheitsleuten bewacht werden und deren Zufahrt nur durch eine mit Schranken gesicherte Straße möglich ist. Einen Nachmittag habe ich in einem solchen Reichenghetto verbracht. Der Charme dieses "Country" bewegte sich zwischen Disney-Kitsch und meinen Erinnerungen an den Eisernen Vorhang in Ungarn. In unmittelbarerer Nähe zu diesem Country befand sich eine gewaltige „Villa“, also ein slumähnliches Elendsviertel. Die unfassbare soziale Schieflage rächt sich an den Wohlhabenden indem in den besten Wohngegenden die Kriminalität besonders hoch ist. Obwohl Buenos Aires voll von Kiwera ist, hat die Stadtregierung dieser Tage eine zusätzliche Stadtpolizei ins Leben gerufen. Die Rechten werden immer glauben, dass Kriminalität am besten mit einem noch gewaltigeren Sicherheitsapparat bekämpft werden kann. Dieser Irrglaube kostet – wie zahlreiche Raubmorde zeigen – auch immer wieder Mitgliedern ihrer exklusiven Gemeinschaft das Leben.


Ein Haus in einem Country. Vorne Swimmingpool, hinten Stacheldraht.


Das bombige Essen: Eine Parallele zwischen den USA und Argentinien drückt sich in der Esskultur aus. Über den Rindfleischkonsum wurde bereits gesprochen, wesentlich verblüffender sind jedoch die Ähnlichkeiten in der Zubereitung von Essen. Beide Küchen haben ein Faible für das Undezente und Unraffinierte. Riesige Fleischstücke, aber keine Marinade, massenhaft Käse auf der Pizza, jedoch kaum Gewürze bei der Essenszubereitung, stark gesalzene Speisen aber kein Pfeffer am Tisch, inflationäre Verwendung von Zucker der etwa Torten de facto ungenießbar macht, bei gleichzeitiger völliger Absenz von Esprit. Dass der Mangel an Feingeschmack durch bombige Rezepte ersetzt wird, habe ich auch in den USA so empfunden.

Achtung, der Schein trügt. Nicht hinein beißen! Die Massen an Zuckerschaum sind selbst für große Freunde des Süßen zu geil.


Von einigen der genannten Charakteristika weiß ich aus Erzählungen, dass sie in anderen amerikanischen Staaten ebenso anzutreffen sind. Vor allem die Distanzen und der Platz. Auch die abgeschotteten Reichenviertel in unmittelbarer Nähe zum Elend sind in etlichen amerikanischen Staaten Realität, wobei ich intuitiv annehme dass etwa Kanada oder Kuba aus der Reihe fallen. Was die Küche betrifft muss man noch vorsichtiger sein. Von mehreren Seiten habe ich gehört, dass in Kolumbien, aber vor allem in Peru mit wesentlich mehr Raffinesse und Liebe zum Detail gekocht wird. Ein Abendessen in einem peruanischen Gasthaus lässt mich annahmen, dass diese Einschätzung von einem beträchtlichen Wahrheitsgehalt ist.

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