Mittwoch, 28. Oktober 2009

Die Arbeit im CAINA (Teil 3)

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Hier ein paar der entzückenden, handzahmen, höflichen und in jeder Hinsicht zuvorkommenden Besucher/innen des CAINA.

Diesen Eintrag über das CAINA (mein Straßenkinderheim) möchte ich mit einer kleinen Anekdote beginnen. Ein Bursche von 17 Jahren saß kürzlich beim Mittagessen im CAINA neben mir. Als ich ihm auf Nachfrage erklärte, dass ich aus „Austria“ sei, kam nicht die Standardantwort „Ahhh, Australiano?“, sondern zu meiner großen Überraschung die Frage ob ich aus „Viena“ käme. Ich bejahte dies, worauf mir der junge Herr auf Deutsch einen „Guten Tag“ wünschte. Es gibt viele Menschen in Argentinien die Hallo, Dankeschön, Guten Tag oder Tschüss sagen können, aber für gewöhnlich sind das keine Straßenkinder. Ob meiner sichtlichen Erstauntheit erklärte mir der Bursche, dass seine Nachbarin Wienerin gewesen sei. Ich stelle ihn sofort auf die Probe, er konnte ohne Probleme Servus, Bitte und Danke auf Spanisch übersetzen. Es stellte sich heraus, dass die Frau – eine alte Dame – bereits vor einigen Jahren verstorben war. Sie hatte mehrere Jahre neben der Wohnung der Familie des Burschen gelebt und ausschließlich Deutsch mit ihren Nachbarskindern gesprochen. Diese waren jung, aufnahmefähig und hatten offensichtlich passiv einiges verstanden. Wir identifizierten noch ein paar Wörter, bis er mir sagte, sie habe stets einen Satz laut ausgesprochen, wenn es schlecht roch. Ich bat ihn gespannt mir selbigen wiederzugeben und hörte mit vorerst ungläubiger Fassungslosigkeit folgende Laute: „Pfui Deife“

Luis ist sozusagen mein bester Freund unter den Kids, leider wurde er 19 und darf jetzt nur noch einmal pro Monat zu Besuch kommen. Er ist zweifacher Vater mit zwei verschiedenen Mädchen. Mit der 17-jährigen Maria die im September ein Töchterchen von ihm bekommen hat, lebt er jetzt auch mehr oder weniger zusammen.

Es hat mich vor Lachen fast vom Sessel geworfen. Auf die Bitte mehrer anwesender Sozialarbeiter/innen zu erklären was mich so belustige konnte ich nur auf die Unerklärbarkeit dieser Komik verweisen. Wie soll man einer Person die nicht aus Österreich kommt, geschweige den Deutsch spricht das Kuriosum erläutern, von einem 17-jährigen argentinischen Straßenkind in einem Tageskinderheim in Buenos Aires einen dermaßen ur-österreichischen Ausspruch entgegengeschleudert zu bekommen? Wie originell „Pfui Deife“ sowohl im Klang, als auch mit seiner typisch österreichischen Verniedlichung – die in diesem Falle sogar vor dem Satan nicht Halt macht – eigentlich ist wurde mir erst durch dieses Erlebnis klar. Da der Ausspruch heute in Österreich nicht gerade zum Standardrepertoir des Jugendslang der späten 2000er-Jahre gehört, habe ich für mich beschlossen ihn ob seines spezifischen Witzes bewusst in meinen aktiven Wortschatz zu integrieren. Die alte störrische Wienerin, die sich – wie viele Menschen aus ganz Europa (vor allem die Italienerinnen) – bis zum Schluss geweigert hat ihre Muttersprache abzulegen, hat es sich verdient ihren antiquierten aber großartigen Ausdruck nicht aussterben zu lassen.

Kenntnisse der Geographie finde ich - wie dem aufmerksamen Teil meiner Leser/innen EVENTEULL schon aufgefallen ist - besonders wichtig. Daher habe ich dem CAINA zwei Landkarten mit zwei Erdteilen geschenkt, die zufällig mit jenen übereinstimmen die mich besonders interessieren. Dafür kann man jetzt Geographie-Ratequiz machen.


Der heitere Einstieg ist in Wirklichkeit nur ein Köder für diesen recht stark statistisch unterminierten Artikel. Vielen Volkswirt/innen sind Statistiken ja lieber als jeder Erklärungstext, für den weniger auf Zahlen fokussierten Teil der Leserschaft habe ich den Grafiken jedoch einige kompakte Erklärungen hinzugefügt, die wie saftige Bratenhäppchen ganz sanft auf der Zunge zergehen.

Erst einmal möchte ich zwei Herren vorstellen, die für eine Privatfirma im städtischen Dienst jeden Tag ins CAINA kommen und Lebensmittel bringen. Der eine älter, der andere jünger, aber beide kräftig, bärtig und etwas verschwitzt, was mich und die Köchinnen nicht davon abhält sie jeden Tag mit dem obligatorischen Wangenküsschen und einem „hola amigo“ – wir kennen uns ja nicht beim Namen – zu begrüßen. Die beiden Herren haben eine Liste, mit 14 „Comedores“ (öffentliche Küche) der Zone Südost, die sie jeden Tag beliefern. Ihr nicht zu verachtender Körperumfang lässt darauf schließen, dass sie auch in den anderen 13 Comedores – so wie bei uns – ein kleines Imbisshäppchen verschlingen.

Rosa und ich beim Abwaschen. Rosa kommt aus Lanus im südlichen Vorortegürtel. Nach der Arbeit im CAINA schuftet sie im Pizzalieferladen ihres Mannes. Ebenso an den Wochenenden. Einen freien Tag hat Rosa nie.

Die beiden haben mir mitgeteilt, dass es in ihrer Firma insgesamt acht „Camiones“ (Lastautos) gibt, sowie vier weitere Firmen die Lebensmittel für öffentliche Einrichtungen ausliefern. Angenommen die anderen Firmen haben auch acht Camiones und beliefern 14 Comdores, ergibt eine grobe Überschlagsrechnung, dass die Stadtregierung an rund 560 Orten öffentlich warmes Essen ausgibt, inklusive Spitäler, Horte etc. Einen städtischen Beamten der kürzlich zur Kontrolle der Lebensmittellieferung kam habe ich gefragt, wie viele dieser Orte dezidiert der Armenausspeisung dienen. Er sagte alles zusammen (Kinder, Kleinkinder, Alleinerzieherinnen sowie normale Comedores für jedermann) seien es mindestens 300. Das ist auf den ersten Blick für die Bundeshauptstadt ohne Vororte (ca. 3 Millionen Einwohner/innen) gar nicht so wenig, allerdings stehen dem alle Menschen gegenüber die in Buenos Aires im Elend leben. Das sind nach meinen bisherigen Informationen, Einschätzungen und Erfahrungen nicht mehr als fünf Prozent der Bevölkerung. Das stimmt auch mit der für 2008 geschätzten Zahl von 167.000 Menschen die in „Villas“ (Elendsviertel) leben recht genau überein. Natürlich sind nicht alle Menschen in Villas auf die öffentliche Ausspeisung angewiesen, trotzdem kämen gemäß dieser Zahlen auf jeden Comedor rund 550 Menschen. Ausgehend vom CAINA rechne ich dass pro Comdedor durchschnittlich weniger als 50 Menschen täglich essen (2008 waren es im Schnitt 40). Diese Zahl ist weit entfernt von 550, allerdings kommen nicht immer die gleichen Leute. In den letzten Jahren suchten jährlich rund 1000 verschiedene Kinder das CAINA auf. Wenn wir diese Zahl als Richtwert auf alle angenommenen 300 Comedores hochrechnen, stehen den 167.000 Bewohner/innen von Elendsviertel rund 300.000 Menschen gegenüber, die zumindest einmal jährlich an einer öffentlichen Ausspeisung teilnehmen. Ich betone nochmals, dass es sich hier um Einschätzungen und Daumen mal π-Rechnungen handelt, aber zumindest die Größenordnungen scheinen mir recht plausibel.

Die Anzahl von Mädchen auf der Straße und im CAINA steigt. Das ist nicht nur ein schlechtes Zeichen, es heißt auch, dass sich weniger Mädchen Gewalt und sexuellen Missbrauch, vor allem von ihren Vätern, gefallen lassen.

Im Folgenden sichten wir einiges an statistischem Material, das sich unmittelbar auf das CAINA bezieht. Im Jahr 2008 besuchten durchschnittlich 40 Kinder pro Tag das CAINA, insgesamt kamen von Jänner bis September 779 verschiedene Kinder. Die Daten für 2008 gehen aus mir unerklärlichen Gründen nur bis September, insgesamt werden es im Vorjahr wohl rund 1000 Kids gewesen sein. Aus Tabelle 1 geht hervor, dass das Aufsuchen des CAINA (das seit 1992 existiert) sehr stark konjunkturabhängig ist. Die soziale Situation spitzte sich schon vor der Krise zu und führte zwischen 1997 und 2001 zu einer Verdoppelung der Kinder die das CAINA aufsuchten. Nach der Zusammenbruch 2001 stieg die Anzahl nochmals um 50% auf den bisherigen Rekordwert von 1438 Besucher/innen im Jahr 2003. In den wirtschaftlich prosperierenden Folgejahren nimmt der Zustrom wieder deutlich ab. Unabhängig von der Konjunktur zeigt sich, dass die Besucher/innen des CAINA deutlich weiblicher wurden und ihren Anteil von 1997 bis 2008 um fast zehn Prozentpunkte von 15,3 auf 24,5 Prozent steigerten. 2006 lag ihr Anteil sogar bei 28,5 Prozent.

Tabelle 1: Gesamtzahl der versorgten Kinder pro Jahr sowie Geschlechtsstruktur


Die Alterstruktur der Kinder ist in Tabelle 2 aufgeschlüsselt, auch hier zeigt sich ein konjunkturunabhängiger Trend. Das Durchschnittsalter der Kids die das CAINA besuchten stieg von 1997 bis 2008 von 14,4 Jahre auf 15,4 Jahre um exakt ein Lebensjahr an. Das ist ein massiver Anstieg, in der Tabelle ist auch aufgeschlüsselt dass es vor allem die 16 bis 18-jährigen sind, die zugenommen haben, während die 12 bis 15-jährigen deutlich weniger wurden.

Tabelle 2: Altersstruktur der Kinder

Interessant ist auch wo die Kinder ihren letzten Wohnort angeben, dies ist in Tabelle 3 aufgeschlüsselt. So gut wie alle Kinder wohnen in Buenos Aires Capital Federal (ohne Vorstädte). Den größten Brocken (13%) macht der ursprünglich arme, aber touristisch und künstlerisch immer mehr durchsetzte Schick-Bezirk San Telmo aus, an dessen Grenze sich auch das CAINA befindet. Gefolgt von Retiro (12%), einem ganz zentral gelegenen Bezirk der neben besonders noblen Wohngegenden auch die Villa 31 beherbergt, das größte Elendsviertel des Zentrums. Danach folgt der als besonders gefährlich geltende Bezirk Constitución (9%), der im Westen unmittelbar an San Telmo angrenzt.

Tabelle 3: Letzter von den Kindern angegebener Wohnort

Ein völlig anderes Bild ergibt sich, wenn man schaut wo die Kinder ursprünglich herkommen. Sie leben zwar de facto alle in Capital Federal (ohne Vororte, 3 Millionen Einwohner/innen), kommen aber vorwiegend aus dem 10-Millionen Einwohner/innen starken Vorortegürtel (Gran Buenos Aires). 2008 kamen nur 7,7 Prozent der Kids ursprünglich aus Capital Federal, aber 81,7 aus dem Vorortegürtel. Dabei führen interessanterweise die sehr weit außen liegenden Randbezirke des buenosairschen Agglomerationsmonsters, nämlich Quilmes (Süden) und Moreno (Westen). 7,7 Prozent kamen aus weiter entfernt liegenden Teilen der Provinz Buenos Aires, 2,8 Prozent aus dem „Interior“, also aus Provinzen außerhalb der Provinz Buenos Aires. Nur 0,1 Prozent, sprich nur eine einzige Person aus außerhalb Argentinien. Obwohl es geschlossene bolivianische und peruanische Stadtviertel gibt, habe ich noch kein einziges völlig indigenes Kind im CAINA angetroffen (die Mehrzahl der Kids hat allerdings irgendeinen nicht-europäischen Einschlag). Wo die Kids der meist auch im oder am Rande des Elend lebenden Migrant/innen hingehen weiß ich nicht, ins CAINA jedenfalls nicht.

Noch eine Gegebenheit scheint mir interessant. Meine Lieblingsköchin Maria lebt in La Boca, jenem Stadtteil der neben dem vielleicht berühmtesten Fußballklubs Argentiniens auch etliche soziale Probleme beheimatet. La Boca liegt ganz am Südostrand der Hauptstadt und gilt als besonders gefährlich, obwohl es oder keine Villa (Slum) gibt. Maria ist 39 und wurde kürzlich Großmutter. Ihr 17-jähriges Töchterchen hat ein Baby bekommen. Das ist nichts außergewöhnliches für das soziale Umfeld in La Boca, an dessen unmittelbarer Grenze das CAINA liegt. Auch die Kinder im CAINA kann das nicht verwundern, sind doch etliche 17-jährige Mädchen Stammgäste die bereits doppelte Mütter sind. Auch Celia aus der „Roperia“ (Gewandabteilung) lebt in La Boca, ebenso wie Nora. Letztere arbeitet erst seit ein paar Jahren im CAINA, ihr 22-jähriger Sohn der jetzt als Pizzalieferant beschäftigt ist kennt den Laden schon wesentlich länger. Er war selbst sechs Jahre lang Straßenkind. Worauf ich hinaus will ist der Umstand, dass die Straßenkinder offenbar nicht ausschließlich aus den Villas (Slums) kommen, sondern ihre Gewohnheiten und Lebenswesen mit fließenden Grenzen bis tief in die Arbeiterschicht verankert sind.

Damit man mich von den Kindern unterscheiden kann trage ich Bart und Hemd. Täte ich das nicht, man hielte mich in CAINA ob meines jugendlichen Aussehens für ein „chico de la calle“ und ich dürfte die Küche – meinen Arbeitsplatz – gar nicht betreten.

Zum Abschluss noch eines der Lieder, die quasi täglich im Caina gespielt werden: Quiero ser tu amigo nada más

2 Kommentare:

  1. Hallo Niki, ist ja superinteressant dein Artikel...Sag, gibt es die Carmen noch in der Küche? Die war zu meiner Zeit als Köchin aktiv und beim letzten Besuch (in der Zeit vom Paul) auch noch da... Lass mir den Emilio und den Laureliano schön grüßen...einen lieben Gruß aus dem verregneten Oktober Wien schickt dir, Hartwig (Cainero von 2002 - 2003 und bis auf Weiteres Stellenansprechperson)

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  2. Hallo Hartwig. Die Carmen wurde just ein paar Wochen nachdem ich begonnen hatte (Feber 2010) von der Küche in die Roperia zwangsversetzt. Maria, Rosa und Alejandra haben ihre "unerträgiche" Art nicht mehr ausgehalten. Jetzt sitzt sie friedlich im Dachkammerl und nähnt Kleidungsstücke zusammen.

    Schöne Grüße aus der beginnenden HITZE!

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