Montag, 9. November 2009

Gebildetes Argentinien

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Athene (römisch Minerva), die Göttin der Weisheit. Ob der Standort der auf dem Foto abgebildeten Statue wirklich optimal gewählt wurde darf bezweifelt werden.

Anlässlich der Unistreiks in Österreich werde ich heute ein paar Worte zum Bildungsniveau in Argentinien verlieren. Als Ausgangspunkt möchte ich auf einen meiner Blogeinträge aus dem März eingehen, indem ich geschildert hatte, ich würde bei Taxi- und Kioskkonversationen als Notlüge manchmal behaupten aus „Alemania“ (Deutschland) zu sein um nicht umständlich erklären zu müssen, was Austria im Gegensatz zu Australia sei. Nun, das habe ich mir aus einem einfachen Grund abgewöhnt. Fast alle Argentinier/innen – auch jene die im Kiosk arbeiten – können irgendwas mit Österreich anfangen. Sie wissen zumindest wie die Hauptstadt heißt, können Österreich mit klassischer Musik assoziieren (so zuletzt ein Obdachloser (!) dem ich zwei Peso geschnorrt habe), waren gar vor zehn Jahren im Zuge einer Europareise selbst in Innsbruck oder haben sogar Vorfahren aus der Monarchie. Mein anfänglicher Eindruck war vor allem auch noch gefärbt von hier lebenden Ausländer/innen, die keine Ahnung hatten. Leute aus Australien, Kanada den USA, aber vor allem auch aus Westeuropa die mich gefragt haben, welche Sprache man in Österreich spreche. Überdies hatte ich die Erwartungshaltung, dass die Argentinier/innen vom Ausland so viel Ahnung haben wie die Amis. Das trifft überhaupt nicht zu. Gerade punkto in- und ausländischer geographischer Belange ist das Niveau der Allgemeinbildung erstaunlich hoch. Da man glaubt im Ausland sei alles besser als zu Hause, kennt man sich dort auch aus. Dieses Land, das sich so danach sehnen würde zur westlichen Gemeinschaft zu gehören, hat seine Idole genau studiert.


Jorge Luis Borges (1899 – 1986) gilt neben Julio Cortázar (1914 – 1984) als der wichtigste argentinische Dichter. Die surreale Atmosphäre seiner Kurzgeschichten erinnert mich am ehesten noch an Kafka.

Beispiel Sozialarbeiter/innen: In Phasen wo sehr wenig Kinder ins CAINA kommen (25 abwärts), stehe ich manchmal minutenlang in Wartehaltung bei meinem Essenausgabefenster. Diese Zwischenpausen vertreibe ich mir gelegentlich mit einem Buch, was die Neugier der angestellten (universitär ausgebildeten) Sozialarbeiter/innen weckt die sich dann unauffällig anpirschen. Lese ich Borges (auf Deutsch versteht sich, das ist schon anstrengend genug), erzählen sie mir im Detail seine Biographie, seine politische Einstellung, seine soziale Herkunft, welche Bücher er in welcher Lebensphase verfasst hat und wie er sich dabei jeweils von Cortazar (der zweite Nationaldichter) unterscheidet. Lese ich etwas über Bernstein (deutscher reformistischer Sozialdemokrat der Jahrhundertwende), entsteht eine Diskussion in der X Kautsky und Lenin vergleicht, Y mir erzählt sie sei neun Jahre lang politisch aktiv gewesen und kenne Bernstein aus diversen Diskussionen und Z über das Genie Marx und sein Werk „Das Kapital“ schwärmt, welches er sich gerade in einem Lesekreis mit Studienkollegen aneignet.

Beispiel Reinigungskräfte: Nicht nur die Akademiker/innen im CAINA verfügen über eine profunde Allgemeinbildung, auch ein Mitglied des Putzpersonals erstaunt mit umfassenden Kenntnissen über Mozart Klavierstücke, die er zu Hause auch gerne selbst spielt. Er kennt auch sämtliche andere Komponisten, deren Werke und deren Lebensgeschichte.


Im zeitgenössischen Tanz werden oft gesellschaftspolitische Themen verarbeitet. Viele Leute die Ballett tanzen, tanzen auch zeitgenössisch und viele Leute die zeitgenössisch tanzen, interessieren sich auch für gesellschaftliche Fragen.

Beispiel Tanz: Es mag ein Zufall sein, aber mehrere Tanzkolleginnen zwischen 20 und 25, deren Traum es ist bei irgendeiner wichtigen Tanzkompanie im Bereich Ballett oder Zeitgenössischem Tanz unterzukommen (oder das sogar schon geschafft haben), sind gegen jedes Vorurteil nebenbei Studentinnen der Politikwissenschaft, umfassend informiert und an gesellschaftlichen Fragen sehr interessiert. Diskussionen darüber wieso der Nationalsozialismus im protestantischen Teil Deutschlands besser Fuß fassen konnte als im katholischen ergeben sich genauso wie Debatten über das Menschenbild bei Nietzsche (denen ich mangels eigener Kenntnis als erstaunter Zuhörer beiwohne).

Beispiel Haus: In meinem Haus wohnen derzeit drei Argentinier/innen und drei Europäer/innen. Außerdem gibt es noch einige Freunde des Hauses, die Argentinier/innen sind ausnahmslos alle sind politisch interessiert, wenn nicht gar selbst engagiert sowie auffallend informiert und gebildet. Teilweise im klassischen Sinne, weil sie sich mit Philosophie oder politischer Theorie beschäftigt haben. Teilweise aber auch einfach reich an spezifischem Allgemeinwissen. Etwa die Akzente und Dialekte in Argentinien und Lateinamerika betreffend. So werden die Zusammenhänge zwischen dem Napoletanischen (das sich vom italienischen sehr unterscheidet) und dem Lunfardo (dem Dialekt von Buenos Aires) genau geschildert. Sie kennen aktuelle Details der städtischen Kommunalpolitik, die Geschichte der Kolonialisierung Argentiniens und der verschiedenen Migrationswellen haben sie ebenso auf Punkt und Beistrich intus wie die politische Geschichte des Landes seit der Epoche Perons zur Mitte des 20. Jh. Ihr Interesse und ihr Wissen verunmöglichen es, dass der Gesprächsstoff jemals ausgehen könnte.


Der aus Uruguay stammende Eduardo Galeano, einer der großen Intellektuellen Lateinamerikas hat 1971 die in zahlreiche Sprachen übersetzte Ausbeutungs- und Kolonialgeschichte „Die offenen Adern Lateinamerikas“ verfasst.

Beispiel Diskussionszirkel: Großen Eindruck hat auf mich auch ein Diskussionszirkel eines befreundeten Philosophiestudenten gemacht. Es handelt sich dabei um besonders interessierte Leute, die sich alle zwei Wochen treffen um soziologische oder politische Texte zu diskutieren. So etwas mag es in Wien auch geben, was mich dann aber doch sehr erstaunt hat war wie unfassbar profund und unglaublich breit das Bildungsniveau dieser Gruppe aus fertigen oder fast fertigen Soziologen, Historikern, Juristen und Philosophen (alle Gruppenmitgliede waren männlich) war. Detaillierteste Kenntnisse der europäischen und amerikanischen Geschichte, sämtlicher politischer, soziologischer und ökonomischer Theorie, der Philosophie, der Literatur etlicher Sprachen (Proust, Kafka, Orwell etc.) und der Geographie im globalen, sowie im kleinsten Detail (Welche Straßen begrenzen die 48 Bezirke von Buenos Aires!) hatte ich in dieser Intensität vorher noch nie gesehen. Obwohl weder Ökonomen noch Sozialdemokrat/innen dabei waren (die Gruppe bestand aus Linksperonisten und Liberalen), hatten die Anwesenden exakte Vorstellungen über Keynes und Hayek genauso wie über Bebel oder Hilferding. Was man noch bedenken muss: Die Gruppe kannte nicht nur sämtliche Gedanken der europäischen Geistesgeschichte. Alle diese Leute haben detaillierte Kenntnisse über die sozialwissenschaftlichen Diskurse Lateinamerikas. Die politische Situation und Geschichte aller lateinamerikanischen Staaten, die ideologische Welt des Peronismus, die Theologie der Befreiung, der Pädagogik der Unterdrückten, die Dependenztheorie eines Galenos („Die offenen Adern Lateinamerikas“), all das kennen die Leute aus dem Effeff. Es bedeutet letztlich, dass sie doppelt gebildet sind, europäisch und lateinamerikanisch. Meine Kenntnisse der europäischen Geistesgeschichte kommen an jene dieser Gruppenmitglieder nicht heran. Die lateinamerikanische kenne ich überhaupt nur fragmentarisch. Obwohl viele dieser Leute aus ökonomischen Gründen Argentinien noch nie verlassen haben, sind sie echte Weltenbürger.




Überhaupt habe ich von Anfang an festgestellt, dass die Studierenden in Buenos Aires nicht nur gesellschaftspolitisch deutlich interessierter sind als die unsrigen (Unibesetzungen gibt’s hier monatlich, oft auch in Solidarität mit Arbeitskämpfen die mit der Uni nichts zu tun haben), sondern vor allem auch deutlich gebildeter. Das geht natürlich Hand in Hand. Wie stark politisches Interesse und Allgemeinbildung korrelieren, wird mir erst hier richtig bewusst. (Mein sehr subjektiver Begriff von Allgemeinbildung schließt alle Bereiche die mich wenig interessieren – naturwissenschaftliche, medizinische, technische Kenntnisse etc. – nicht ein.) Ideologie kann zwar – v.a. wenn der Wunsch Vater des Gedanken wird – Erkenntnis stark vernebeln, sie ist aber auf der anderen Seite oft ein intensiver Antrieb, wenn nicht der Schlüssel um sich Erkenntnisse anzueignen. Das gilt für Vollblutideologen aller Couleurs. Hochgebildete ideologische Überzeugungstäter aus dem Bereich der Ökonomie sind beispielsweise Karl Marx oder Josef Alois Schumpeter. Über die deutlich stärkere Politisierung der Gesellschaft und der Studentenschaft in Argentinien werde ich noch einmal einen eigenen Eintrag verfassen.


Universidad de Buenos Aires, Facultad de Ciencias Económicas

Wieso die Studierenden (der Sozial- und Geistswissenschaften) meiner Auffassung nach deutlich besser ausgebildet sind als in Wien, habe ich in einem BLOG-Eintrag meiner SPÖ-Sektion kürzlich zum Besten gegeben: Augenmerk auf die Lehre

1 Kommentar:

  1. ...auch weniger und unprominente ideologische Überzeugungstäter,hochgebildet,wohl auch weil sie versuchen mittels entsprechendem Hebel, der dann auch zweckdienlich gebogen und ins (un)rechte Licht gestellt wird, ihre eigenen, oder die vertretenen Theorien zu untermauern. Fraglich bleibt dann ob es sich dabei um Erkenntns handelt.

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