Montag, 1. Juni 2009

Hightech-Investitionen statt Billigexporte

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Für alle ökonomisch interessierten Leser/innen, hier einmal ein recht seriöses und grundsätzliches Artikelchen zur argentinischen Wirtschaftspolitik.


Folgende Reaktion auf die wirtschaftspolitische Linie des auf Deutsch herausgegebenen „Argentinischen Tageblattes“ ist eine Analyse durch europäische Augen, wodurch sich folgende normative Grundannahme durch den Text zieht: Ich unterstelle das Ziel der argentinischen Gesellschaft sei es, den Pfad einer hoch entwickelten Wohlstandsdemokratie zu beschreiten. Der Leserin und dem Leser soll bewusst sein, dass ich den europäischen Wohlfahrtsstaat und dessen historische Genese zum Bezugspunkt meiner Gedankenwelt mache.

Die ökonomische Berichterstattung im wirtschaftsliberalen argentinischen Tageblatt ist detailliert, mit viel statistischem Material untermauert und trägt die Handschrift einer volkswirtschaftlich interessierten Redaktion. Auf der letzten Seite findet sich stets ein langer Kommentar zu wirtschaftspolitischen Fragen. Wenn auch nicht namentlich gekennzeichnet ist zu vermuten, dass es sich um die Worte des Herausgebers, Wirtschaftswissenschafters und ehemaligen Wirtschaftsministers Roberto Alemann handelt. Zu meiner großen Verwunderung wird in diesen Kommentaren zur Ankurbelung der Gesamtwirtschaft vor allem auf die Forcierung der Landwirtschaft gesetzt. So heißt es z.B. im Tageblatt vom 28. März: „Die unmittelbare Erhöhung der Produktion von landwirtschaftlichen Exportprodukten sollte bei der Wirtschaftspolitik absolute Priorität haben.“


Die Landwirtschaft ist in Argentinien ein innenpolitischer Dauerbrenner. Genau konträr zu Europa gibt es hier relativ hohe Exportzölle, die eine wichtige Einnahmequelle des Staates darstellen. Ein Versuch der Regierung Kirchner selbige im Vorjahr zu erhöhen, scheiterte jedoch am erbitterten Widerstand der politisch gut organisierten Großgrundbesitzer.

Rohstoffreichtum ist nicht gleich Reichtum

Tatsächlich beträgt der Anteil der Landwirtschaft am BIP (Bruttoinlandsprodukt) in westlichen Industriestaaten nur einen Bruchteil jener zehn Prozent, die er gemäß Weltbank in Argentinien ausmacht. Laut Tageblatt wächst der Beitrag zur Wertschöpfung gemeinsam mit den landwirtschaftsnahen Industrien und Dienstleistungen auf über 50 Prozent. In Staaten wie Deutschland oder Großbritannien sind es keine zwei, im flächenreichen Frankreich nur knapp über zwei Prozent, die die Landwirtschaft zum BIP beiträgt. Die relative Abnahme des landwirtschaftlichen Sektors an der gesamten Wertschöpfung war im Europa des 20. Jh. ein Zeichen des kontinuierlichen Anwachsens des Wohlstands. Im landwirtschaftlichen Export das Heil für die wirtschaftliche Zukunft zu suchen scheint mir im Widerspruch zu all meinen bisherigen volkswirtschaftlichen Erfahrungen und Auffassungen zu stehen.

Von vielen Argentinier/innen hört man, dass ein an Boden und Rohstoffen so reiches Land ein viel höheres Wohlstandsniveau erreichen müsste als es derzeit der Fall ist. Dem kann stets entgegnet werden, dass Nigeria an Rohstoffen noch viel reicher, an Wohlstand aber noch viel ärmer sei. Rohstoffreichtum ist oft mehr Fluch als Segen. Die autoritären Regime und diktatorischen Monarchien im Nahen und Mittleren Osten stützen sich großteils auf den Reichtum an Rohstoffen. Die Erträge werden nicht im Land investiert, geschweige den in den Aufbau einer sozialen Infrastruktur gesteckt, sondern für repräsentative und militärische Zwecke verwendet oder im Kasino der internationalen Finanzmärkte veranlagt. Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt (Japan), sowie die drittgrößte (Deutschland) verfügen über keinerlei bedeutenden Bodenschätze oder sonstige natürliche Ressourcen. Trotzdem wurden Japan und Deutschland im 20. Jh. mit ihren wettbewerbsfähigen Industrien zu wirtschaftlichen Erfolgsgeschichten. Nicht Rohstoffe machen reich, sondern der Kapitalstock an Industrie- und Humankapital, sowie die jeweilige Arbeitskultur einer Gesellschaft.

Saudi Arabien ist der ölreichste Staat der Erde, König Abdullah ibn Abd al-Aziz der alleinige Herrscher in einer der letzten absoluten Monarchien der Welt. So lange der Ölhahn offen bleibt, wird sich dies wohl nicht ändern. Neben arbeitsamen Migrant/innen aus Pakistan, kann man sich auch den gesamten Unterdrückungsapparat zur Unterdrückung der Opposition und Durchsetzung der Scharia spielend leisten.

Die „Holländische Krankheit“

Die Exportstruktur Argentiniens wurde im Tageblatt vom 2. Mai genau aufgeschlüsselt. Demnach entfielen 40 Prozent der Exporte auf Industrieprodukte auf landwirtschaftlicher Basis (MOA), 32 Prozent auf Rohstoffe, Brennstoffe sowie Energie und nur 28 Prozent auf reine Industrieprodukte (MOI). In Deutschland machten Exporte aus den Bereichen Landwirtschaft, Fortwirtschaft, Fischerei und Nahrungsmittelindustrie (vergleichbar mit MOA) im Jahr 2008 gemäß dem deutschen Statistikamt keine fünf Prozent des gesamten Export- und sechs Prozent des Importvolumens aus. Nur 0,9 Prozent der Exporte entfielen auf Rohstoffe und Energie, während diese Produkte beim Import knapp zehn Prozent ausmachen. Über 94 Prozent der deutschen Exporte entfallen auf weiterverarbeitete Industrieprodukte (MOI). Alleine die drei großen Brocken Kraftwagen, Maschinen und Chemieerzeugnisse machen im Export 46 Prozent des deutschen Außenhandels aus.

Die so genannte „Holländische Krankheit“ ist ein Phänomen, das die Gefahren einer stark auf Grund- und Rohstoffen basierenden Exportwirtschaft beschreibt. Dadurch entstehen Außenhandelsüberschüsse, durch die es zu einer Aufwertung der Währung des Landes kommt. Gleichzeitig werden hochwertige Produkte nicht selbst hergestellt sondern importiert. Die „Terms of Trade“, also das Verhältnis von Exportpreisen zu Importpreisen, verschlechtern sich, die Volkswirtschaft verliert an Wettbewerbsfähigkeit. Dies bringt Absatzprobleme von Gütern der übrigen exportierenden Industrien mit sich und führt dann zum Rückgang oder Verschwinden der betroffenen Industrien. Mehrere ökonomisch gebildete Leute – unter anderem ein Wirtschaftswissenschafter an der österreichischen Botschaft – sind der Auffassung, dass Argentinien in den letzten Jahrzehnten regelmäßig Symptome der holländischen Krankheit aufgewiesen hätte.

Zentrum oder Peripherie?

Singapur gehört zu jenen Tigerstaaten, die in der zweiten Hälfte des 20. Jh. ein westliches Wohlstandsniveau erreicht haben. In diesem Stadtstaat wird man allerdings eingesperrt, wenn man einen Tschikstummel auf die Straße schmeißt. Das TV ist bei solch einem Event live dabei!

Tatsächlich nimmt Argentinien mit seiner landwirtschaftlich geprägten Wirtschaft eine periphere Zulieferfunktion in der Weltwirtschaft ein, die den großen Wirtschaftszentren USA und EU sehr willkommen ist. Produkte deren Verarbeitung einen geringen technologischen Standard erfordert werden zu günstigen Weltmarktpreisen aus Argentinien angekauft, dafür werden teure Hochtechnologieprodukte nach Argentinien exportiert. Selbiges Ungleichgewicht herrscht gegenüber den meisten Staaten der Erde, nur einige wenige wie Japan haben sich aus dieser Schieflage erfolgreich befreit, oder sind – wie China – eben dabei sich aus der westlichen Rollenzuordnung zu lösen. Wie haben die asiatischen Tigerstaaten (Südkorea, Hongkong, Singapur und Taiwan) in den letzten Jahrzehnten geschafft unter diesen globalen Bedingungen von peripheren Entwicklungsstaaten zu Industriestaaten aufzusteigen? Grundvoraussetzung war eine Rückendeckung durch den Westen aus politischen Motiven. Ökonomisch haben die Tiger zuerst durch eine importsubstituierende Industrialisierung im Bereich der Leichtindustrie eine gewisse Binnennachfrage geschaffen. Später kam es zu Investitionen in die kapital- und humankapital-intensive Produktion bei gleichzeitigem dezenten Schutz der eigenen Industrie durch Zölle. Schließlich konnte durch die Intensivierung der High-Tech-Branchen Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den Industriestaaten erreicht werden. Jetzt produziert man auf Augenhöhe, nun macht Freihandel für alle Beteiligten Sinn. Eine Gesellschaft kann sich nur reich investieren, aber sich nicht reich exportieren. Zumindest nicht mit dem Export von Grund- und Rohstoffen.

Die Welt-Wohlstandskarte illustriert recht eindrucksvoll, wo auf der Welt ökonomisch die Zentren sind, und wo die Peripherie.

Der große Freihandelstheoretiker David Ricardo sah den ökonomischen Fortschritt durch Landwirtschaft und Großgrundbesitz sogar behindert. Er kämpfte leidenschaftlich gegen die britischen Getreidezölle und wollte den besitzenden Grundadel zu Gunsten des liberalen unternehmerischen Bürgertums schwächen. Die kontinuierliche politische Verdrängung der Aristokratie durch die Bourgeoisie im Europa des 19. Jh. war zugleich Voraussetzung als auch Folge des ökonomischen Wandel. Die wirtschaftliche Industrialisierung und die politische Beseitigung der feudalen Strukturen haben sich in wechselseitiger Wirkung zum Durchbruch verholfen. Die Konzentration auf die Landwirtschaft ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der genau falsche Weg um Argentinien ökonomisch zu emanzipieren und langfristig mit den westlichen Industriestaaten gleichzuziehen. Die Interessen des Grundbesitzes sind Interessen des 19. Jh. und stehen dem ökonomischen und sozialen Fortschritt im Wege. Erst eine bürgerliche Industriegesellschaft macht es ökonomisch überhaupt möglich die soziale Frage zu stellen und einen umverteilenden Wohlfahrtsstaat zu installieren.

Der klassische Ökonom David Ricardo (1772 – 1823) gilt als wichtigster historischer Impulsgeber für den Freihandel. Seine unterstellten Handelsvorteile für beide Partnerstaaten haben jedoch nur eingeschränkt Geltung. Handelt die USA mit Angola, dann stehen sich im Boxring der Schwergewichtsweltmeister und ein zartes Kind gegenüber. Wer ungleiches gleich behandelt, behandelt bekanntlich ungleich.

Das politökonomische Programm das mir für Argentinien sinnvoll erschiene, sieht völlig anders aus als die vom Herausgeber des argentinischen Tageblatts geforderte Konzentration auf die Landwirtschaft:

1. Kompromissloser Kampf der Korruption und der Misswirtschaft auf allen Ebenen. Vor allem im Staat und seinen Institutionen, um politisch, juristisch und fiskalisch überhaupt handlungsfähig zu werden.
2. Umfassende staatliche Investitionen in das Humankapital der argentinischen Bevölkerung, sprich deutliche Qualitätssteigerungen in Schulen und Universitäten bei Beibehaltung des freien Bildungszugangs.
3. Massive staatliche Anreize für private Forschung und Entwicklung, umfangreiche öffentliche Direktinvestitionen in diesem Sektor sowie staatsnahe „Start-up“ Projekte in modernen Industrien.
4. Staatliche Investitionsanreize damit die erwirtschafteten Profite nicht in ausländischen Finanzanlagen, sondern in den argentinischen Wirtschaftsstandort investiert werden.
5. Massive Investitionen in die öffentliche Infrastruktur um der wirtschaftlichen Entwicklung ein solides Gerüst zu bieten.
6. Schaffung eines modernen Wettbewerbsrechts sowie umfassender Konsumentenschutzmaßnahmen um die Effizienz und Qualität der heimischen (Oligopol-)Unternehmen zu verbessern.
7. Schaffung einer lateinamerikanischen Freihandelszone ohne Ausnahmen (Super-Mercosur) mit vorübergehenden moderaten Schutzmaßnahmen gegenüber dem Rest der Welt zum Aufbau einer wettbewerbsfähigen lateinamerikanischen Binnenindustrie.
8. Schaffung einer einheitlichen lateinamerikanischen Währung in die die Menschen Vertrauen haben.
9. Kontinuierliche tarifliche und fiskalische Umverteilung der Einkommen auf ein europäisches Gleichheitsniveau. Einerseits aus Gesichtspunkten der sozialen Gerechtigkeit, andererseits zur Schaffung einer stabilen Binnenkonsumnachfrage.
10. Noch eine kulturelle Anmerkung: Geistige Lösung von Europa. Der Westen wird dieses Land niemals retten. Argentinien und Lateinamerika können sich nur selbst helfen.

Zweifellos ist Argentinien kein Entwicklungsland und liegt ökonomisch im internationalen Vergleich im guten Mittelfeld. Der IWF platziert den Staat am Rio de la Plata für 2008 in einer Liste nach BIP pro Kopf gemäß Kaufkraftparität auf Platz 59 von 181 Staaten. Mit rund 14.000 US-Dollar pro Kopf ist es aber immer noch relativ weit entfernt von den westeuropäischen Staaten die zwischen 35.000 und 40.000 Dollar liegen, sowie noch weiter von den USA deren Kaufkraft pro Kopf mit 47.000 Dollar angegeben wird. Punkto Infrastruktur und Industrie ist vieles vorhanden, das Land muss nicht bei Null beginnen. Wenn Argentinien mittelfristig den Anschluss an die westlichen Industriestaaten schaffen will, dann wird das – bei aller Wichtigkeit des interkontinentalen Außenhandels – nur über die Schaffung einer lateinamerikanischen Binnennachfrage funktionieren. Der Welthandel kann den Wohlstand befördern, geschaffen werden kann er aber nur durch den Aufbau einer schlagkräftigen ökonomischen Infrastruktur. Diese darf in der Entstehungsphase auch durch dezente Zölle geschätzt werden. Argentinien und Lateinamerika müssen ihre eigene, hoch entwickelte Industrie schaffen.

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