Mittwoch, 27. Mai 2009

Auf die Inhaftierten, die Toten und das Vaterland!

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Kürzlich, am 25. Mai (Tag der Mairevolution 1810), hatte ich eine interessante Erfahrung die mir ein weiteres Stück Argentinien eröffnet hat. Ich wurde von einem argentinischen Paar mit dem ich ein freundschaftliches Verhältnis pflege anlässlich des Feiertages zum Essen eingeladen. Auch zwei Freunde von ihnen waren dabei, insgesamt vier argentinische Erwachsene aus der oberen Mittelschicht mit Kindern. Sabina, Edu, Sebi und Dolores sind zwischen Mitte 40 und Ende 50. Es sind Menschen die im zwischenmenschlichen Umgang sehr liebenswert sind, denen aber nichts heilig ist. Eine sehr angenehme Mischung, bei der für mein Empfinden die Freiheit nicht zu kurz kommt.

Die Erklärung der Unabhängigkeit am 25. Mai 1810 als Geburt der argentinischen Nation in einer ihrer berühmtesten Darstellungen von Pedro Subercaseaux.

Ich wusste dass wir auf einem Pologelände essen, weil Sabinas erwachsener Sohn, der in Europa lebt, dort viel geritten ist und die Familie Mitglied in diesem Poloklub ist. Das Gelände ist sehr schön und für Großstädter/innen eine grüne Oase. Auf dem Hinweg wurde mir gesagt, dass der Poloklub im Besitz des Militärs sei. Wir nahmen in einem großen Raum Platz, wo ungefähr noch zehn Tische mit größeren Familiengruppen saßen. Es waren auffallend viele alte Leute dort und die älteren Herren sahen alle aus wie man sich Mitglieder einer Militärjunta vorstellt. Eine Mischung aus SS und Mafiosi, streng, autoritär und elegant. Typen vor denen man Angst hätte, wenn sie 30 Jahre jünger wären.

Polo, der Sport der Wohlhabenderen und richtig Reichen. Einer von vielen englischen Einflüssen in der argentinischen Gesellschaft.

- Sabina: "Das alles hier sind ehemalige Offiziere"
- Ich: "Und das gesamte Gelände gehört dem Militär?"
- Sebi: "Das alles müssen wir mit unseren Steuern zahlen!"
- Edu: "Ich hoffe wir müssen nicht die Nationalhymne singen um das Essen zu bekommen"
- Alle: Gelächter

Das Essen kommt, dazu werden kleine Schleifen (Typus Aidsschleife) ausgeteilt und auf jedem Tisch ein Fähnchen platziert. Alles natürlich in den Nationalfarben Blau-Weiß. In der nächsten dreiviertel Stunde machen Edu und Sebi das, was Argentinier/innen am Liebsten machen. Sie reden ihr Land und ihren Staat in Grund und Boden und erklären dass Argentinien ein einziges, unorganisiertes Desaster ist. Sie erklären mir welche Politiker ihre 21-jährigen Söhne auf welche öffentlichen Spitzenpositionen gesetzt haben, wo die Verwaltung überall illegal mitschneidet und wie die Wahllisten zustande kommen. (Es kandidieren für die nationalen Wahlen alle Bürgermeister und Gouverneure wegen ihrer Bekanntheit, um dann ihr Mandat für den Senat nicht anzunehmen und völlig Unbekannte Leute ins Parlament einziehen. Überdies kandidieren auf vielen Listen auch Verwandte von Regionalpromis, nur weil der Name schon bekannt ist. Das ist in der Tat dreist.) Edu und Sebi fragen mich, ob ich glaube, dass dies in einem anderen Land der Welt möglich ist und noch bevor ich antworten kann, kommen sie zum üblichen Conclusio: Argentinien sei ein Land der Diebe und Räuber.

So fesche Fähnchen wie diese wurden in Blumenvasen den Militärs und uns mit dem Essen mitserviert. Eine skurrile Szene.

In dem Augenblick erheben sich alle ehrfurchtsvoll zur Nationalhymne. Es beginnt eine typische Hymne aus dem Radio zu dröhnen, ich bin zunächst etwas erleichtert dass nicht gesungen, sondern nur zugehört wird. Nach einer Minute setzen allerdings alle beim exakt gleichen Takt ein um lauthals – wie man es sich in Österreich überhaupt nicht vorstellen kann – die Nationalhymne hinauszutrompeten. Es gibt noch eine Instrumentalphase, dann setzen wieder alle im Raum exakt ein und bringen das recht lange Stück zu Ende.

- Dolores: „Mir rinnt es immer kalt runter bei der Nationalhymne (In dem Moment rinnt es mir kalt herunter). Obwohl ich so was von überhaupt keiner Patriotin bin (In dem Moment wird mir wieder wärmer). Aber das Lied ist schön." (Da ich auch Hymnen mag ohne Staatspatriot zu sein, wird mir richtig warm).
- Edu: "Ich hoffe wir müssen nicht die Nationalhymne singen, um die Nachspeise zu bekommen"
- Alle Gelächter
- Ich: „Es gibt so schöne Hymnen, z.b. die Russische (ehem. Hymne der Sowjetunion), die französische oder die Englische.“

Die Gruppe kennt die Englische Hymne nicht. Ich beginne so gut ich kann „God save the Queen“ vorzusummen.

- Sebi: „Möchtest du nach Österreich zurückkehren?“
- Ich: „Ja“
- Sebi: „Falls du das nicht in einem Sarg tun willst, dann hör auf hier die britische Hymne zu singen“
- Alle: Gelächter

Ich vergaß in diesem Moment, dass die britische Hymne bei den Militärs nicht sooooooooo beliebt sein dürfte. Den Falklandkrieg gegen England hatte ihre Militärregierung verloren, die dann noch ob dieses Umstandes abgesetzt wurden. Heute sind die „Malvinas“, wie die Falklandinseln in Argentinien heißen, ein Steckenpferd rückwärtsgewandter Supernationalisten. Diese versuchen den Falklandkrieg als Heldenkrieg gegen die englische Kontrolle der völlig uninteressanten „Malvinas“ darzustellen. Der 4. April ist ein anderer Staatsfeiertag, an dem jährlich der Toten des Falklandkrieges gedacht wird. Dass dieser Krieg nichts anderes war als ein gescheitertes Ablenkungsmanöver einer auf Staatsterror basierenden Militärdiktatur die wirtschaftlich bankrott war, wird meiner Meinung nach zu wenig betont.

„Die Falklandinseln sind argentinisch.“ Die Realitätsverweigerung setzt sich auch auf Landkarten fort, wo die Malvinas stets als argentinisch gekennzeichnet sind.

- Edu: Schau, mit dem Falklandkrieg war es so. Bei Kriegsausbrauch standen die Massen am Plaza de Mayo um nationalistische Parolen zu schwingen (Typus: Herzblut fürs Vaterland) und Staatschef Leopoldo Galtieri ihre patriotische Unterstützung zuzusichern. Ein paar Wochen später, der Krieg war verloren, gingen die Leute durch die Straße und bezeichneten Galtieri als „Hijo de Puta“. So ist Argentinien.“

(„Hijo de Puta“ möchte ich nicht übersetzen, weil Deutsch für so harte Schimpfwörter zu sensibel ist. In Argentinien ist man weniger heikel. Sabina bezeichnete bei anderer Gelegenheit den im Fernsehen sprechenden Präsident Kirchner, ohne mit der Wimper zu zucken als„Hijo de Puta“. Im Beisein ihrer siebenjährigen Zwillinge! Diese gehen übrigens auf eine katholische Privatschule.)

Nach der Nachspeise wurde Sekt ausgegeben. Der ranghöchste pensionierte Militär, immerhin ein Oberst, erhob das Glas und sprach einen Toast, in dem er vor allem über die seiner Meinung nach ungerechte Verfolgung ehemaliger Militärs durch die Justiz sprach. (Die Regierung Kirchner setzt sich intensiv für eine strafrechtliche Verfolgung der Staatsverbrecher ein.) Es schloss mit den Worten: „Auf die Inhaftierten, die Toten und das Vaterland!“


Die Militärdiktatur


Die Skurrilität meines Erlebnisses soll den klaren Blick auf die Brutalität der argentinischen Militärdiktatur nicht bagatellisieren. Das Militärregime, das von 1976 bis 1983 an der Macht war zählt zu den grausamsten seiner Art in Lateinamerika. Mit aktiver Unterstützung der USA wurden in sämtlichen lateinamerikanischen Staaten Militärregimes errichtet, um die wirtschaftlichen Interessen des Westens zu wahren und einen Schwenk Lateinamerikas Richtung Sozialismus und Sowjetunion zu verhindern.

Jorge Rafael Videla, der erste von mehreren Staatschefs der Militärdiktatur, verschleppte, folterte und mordete von 1976 bis 1981.

„Zwei Jahrzehnte – von 1965 bis 1985 – dominierten Militärdiktaturen das politische Gesicht Lateinamerikas. Im Jahre 1976 wurden nur noch (das quasi-autoritär regierte) Mexiko, Venezuela, Kolumbien und Costa Rica nicht von einer Diktatur oder Militärdiktatur regiert.“, schreibt die Webseite über Lateinamerikastudien. Konkret bedeutet dies, dass in folgenden Staaten die Militärs geherrscht haben:

Argentinien
Bolivien
Brasilien
Chile
DomRep
Ecuador
El Salvador
Guatemala
Haiti
Honduras
Nicaragua
Panama
Paraguay
Peru
Uruguay

Das argentinische Militär übernahm 1976 nach einer chaotischen innenpolitischen Phase mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen die Macht. Von Anfang an wurde ein physischer Vernichtungskrieg gegen linke Oppositionelle, Mitglieder von Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen geführt. Aber auch jene die Verfolgten Unterschlupf gewährten waren in höchster Gefahr, sowie alle die verdächtigt wurden die „Subversion“ zu unterstützen. Verdächtig war man beispielsweise allein schon dadurch, dass man jung war oder als Mann einen Vollbart trug. Die Verschleppten wurden in geheime Gefängnisse gebracht, brutal gefoltert und anschließend ermordet. Oft wurden sie unter Drogen gesetzt und von Schiffen oder aus Flugzeugen ins Meer geworfen. Schwangere Frauen, ließ man noch ihre Kinder gebären und tötete sie anschließend. Die Babys wurden angehörigen der Rechten in Argentinien und Uruguay zur Adoption übergeben. Viele Erwachsene haben erst in den letzten Jahren in Erfahrung gebracht, wer ihre Eltern waren. Mittlerweile gibt es eine NGO für in diesem Zeitraum adoptierte Kinder, die Verdacht schöpfen ihre Eltern könnten zu den Verschleppten gehören. Insgesamt wurden 30.000 Menschen von den Militärs ermordet, während dessen Führer in Europa hofiert wurden und mit ihrer ultraliberalen Wirtschaftspolitik zu Liebkindern des Internationalen Währungsfonds avancierten.

Der argentinische Kreuzer Belgrano säuft ab, nachdem er von einem britischen U-Boot versenkt wird. Alleine dabei starben über 300 Menschen.

1982 war die von den Militärs verursachte wirtschaftliche Lage so desaströs, dass es immer häufiger zu öffentlichen Protesten und Streiks kam. Um sich an der Regierung zu halten griffen die Militärs auf ein altbewährtes Mittel zurück, sie konstruierten einen Außenfeind und führten gegen selbigen Krieg. Die südatlantischen Falklandinseln, auf denen nur rund 2000 Menschen leben, sollten zu diesem Zwecke den Briten militärisch entrissen werden. Der Krieg wurde von der Militärjunta mit zuvor in Deutschland und England gefertigtem Kriegsgerät geführt! Wenn Margret Thatcher Argentinien jemals einen Gefallen getan hat dann war es jener, nicht wie die Militärs gehofft hatten auf den bedeutungslosen Felsen zu verzichten, sondern mit einem militärischen Gegenschlag zu reagieren. Dieser kostete zwar 650 Soldaten das Leben, führte aber zum Ende der Militärdiktatur. Leider auch zur Wiederwahl Thatchers im Vereinigten Königreich.

Die Mütter der Plaza de Mayo marschieren nach wie vor jeden Donnerstag am Hauptplatz von Buenos Aires auf um ihre Forderungen kundzutun. Ex-Präsident Kirchner schenkte ihnen auch politisch sein Gehör.

Das Ende der Militärdiktatur in Argentinien ist erst 26 Jahre alt. Heute werden erbitterte Auseinandersetzungen über die strafrechtliche Verfolgung von Angehörigen dieses Terrorregimes geführt. Der ehemalige Staatschef Videla, der für einen Großteil des Grauens verantwortlich war operierte nach dem Prinzip: „Es müssen so viele Menschen wie nötig in Argentinien sterben, damit das Land wieder sicher ist.“ Videla saß nach dem Ende der Diktatur immer wieder im Gefängnis und kam zwischenzeitlich wieder frei, derzeit ist er inhaftiert. Der Kongress hat vor einigen Jahren mehrere Amnestiegesetze aufgehoben und die Regierung Kirchner macht Druck auch die Verfahren gegen niedrigrangige Militärs zu beschleunigen, aber die Richterschaft beklagt sich, dass sie nicht genug Personal hätte um diesen Anforderungen gerecht zu werden. Seit 1977 und bis heute demonstrieren die „Madres de la Plaza de Mayo“, also die Mütter der "Desaparecidos" (Verschwundenen), jeden Donnerstag dafür, dass die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden. Die Madres waren damals 1983 am Sturz der Militärregierung maßgeblich beteiligt und sind bis heute ein politischer Faktor in Argentinien.

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