Sonntag, 7. Juni 2009

Das argentinische Europadorf

.
.

Anlässlich der heutigen EU-Wahlen ein paar Worte zu Europa, von dem ich einmal weit weg sein wollte. Es ist mir definitiv nicht gelungen. Darüber dass Buenos Aires eigentlich eine südeuropäische Stadt ist habe ich bereits geschrieben. Mehr dazu etwa im Eintrag vom 18. Mai.

Nun, der viel wichtiger Grund für meine sehr europäische Existenz hier sind allerdings die Europäer/innen selbst, die fast die Hälfte meines sozialen Umfeldes ausmachen. Die andere Hälfte sind Lateinamerikaner/innen. Die sozialen Konstellationen sind natürlich nicht separiert sondern meist bunt gemischt und es gibt etliche interkontinentale Pärchen. Auf einer Party die wir kürzlich in unserer „Casa“ veranstaltet haben waren 80 Leute aus 20 Nationen. Obwohl wir hier im Haus alle viel Kontakt mit Leuten aus Argentinien, Kolumbien, Peru und Brasilien haben, ist mein Leben in Buenos Aires europäischer als in Europa, wo ich ja zum allergrößten Teil nur mit Österreicher/innen zu tun habe.

Von wo kommen die touristischen Exilant/innen?

Genug von Berlin? von Antwerpen? Oder von Lunz am See? Warum nicht einige Zeit ganz woanders leben und ganz anderes erleben? Denkt sich das Europäerlein, und fährt in die europäischste Stadt außerhalb des alten Kontinents um hauptsächlich andere Leute aus Europa kennen zu lernen.

Wie sich die hier lebende Ausländerschaft zusammensetzt ist statistisch mit Sicherheit nicht erfasst. Mit den wirklich großen Gruppen von Arbeitmigrant/innen aus Bolivien oder Peru habe ich natürlich keinen Kontakt. Ich lebe hier in einer jungen und studentischen Tourismus- und Abenteuerwelt, die wenig mit der sozialen Realität der lateinamerikanischen Menschen zu tun hat und die sich freut, dass der Euro gegenüber dem Peso tendenziell steigt (seit ich hier bin von 4,3 auf 5,3). In den Zeiten wo unsere argentinischen Freund/innen nicht gerade 40 Wochenstunden arbeiten müssen um ihr Abendstudium zu finanzieren, verbringen wir auch gerne unsere verhältnismäßig reichliche Freizeit mit ihnen. Diese wiederum können sich nur wundern, dass drei Monate Gelegenheitsjobs in Hamburg genug sind um sechs Wochen durch Lateinamerika zu reisen, dass man sein Auslandsjahr im Rahmen des Studiums an der Uni Utrecht in Buenos Aires verbringt, dass es möglich ist sich einfach einmal ein halbes Jahr Auszeit vom Stress in London zu nehmen um in einem Sozialprojekt mitzuarbeiten oder dass man sein Studium in Barcelona spontan für einige Monate unterbricht um in Buenos Aires einen Theaterworkshop zu besuchen und Abends Tango tanzen lernt. Diese kleine Gesellschaft westlicher Wohlstandskinder auf Abenteuerurlaub setzt sich meiner Auffassung nach folgendermaßen zusammen:

Die Arbeitsmigrant/innen kommen z.B. aus Peru, Bolivien oder Paraguay. Sie haben es nicht ganz so lustig in Bunoes Aires wie die Kinder aus dem Westen.

- Die mit Abstand größte Gruppe kommt aus (West-)Europa. Dabei führt definitiv Frankreich vor Deutschland und dem UK. Der schicke kleine Tangobezirk San Telmo ist meiner Meinung nach eine Pariser Enklave in Lateinamerika. Südeuropa ist tendenziell schwächer vertreten als Nordeuropa. Aus Osteuropa habe ich in den vier Monaten die ich hier bin nur drei Menschen getroffen, zwei Pol/innen und einen Slowenen. Die Europäer/innen hier sind 20-35 Jahre alt, gebildet, weltoffen, sprachgewandt, linksliberal, alternativ, künstlerisch und/oder sozial engagiert.

- Die zweitgrößte Gruppe sind junge Lateinamerikaner/innen die in Buenos Aires studieren. Vor allem Kolumbien, aber auch Brasilien und Mexiko sind in meiner Wahrnehmung stark vertreten. Diese Leute kommen meist aus wohlhabenderen Familien und sind etwas konservativer und deutlich eleganter als die Europäer/innen. Mit uns teilen sie eine gewisse ökonomische Sorglosigkeit, da ihre Eltern den Aufenthalt finanzieren oder sie auf Grund ihres kulturellen Kapitals schon vernünftige Jobs haben.

- Die kleinste Gruppe ist der restliche angelsächsische Okzident, vor allem US-Amerikaner/innen - die in meiner Wahrnehmung viel geringer vertreten sind als z.b. Frankreich alleine - Menschen aus Kanada, Australien und Neuseeland. Diese Gruppe unterscheidet sich soziokulturell nicht stark von den hier lebenden Europäer/innen, die Anzahl der Sprachlehrer/innen ist aber meiner Einschätzung nach relativ größer, jene von Abenteurern, Schauspieler/innen und Tänzer/innen geringer.

- Menschen aus Japan und den anderen ostasiatischen Industriestaaten habe ich hier noch überhaupt keine getroffen.

Die erweiterte EU existiert nur am Papier, aber nicht was den Wohlstand betrifft. Einen längeren Ausflug nach Buenos Aires können sich nur Menschen aus Westeuropa gönnen.

Ein Zeitungsbericht vom 11. Mai bestätigt meine Prognose tendenziell. Allerdings sind darin nur die ausländischen Studierenden und die Teilnehmer/innen an Sprachkursen berücksichtigt. Interessant ist der Umstand, dass sich die Zahl ausländischer Studierender 2009 in Buenos Aires im Vergleich zur Krise 2001 verdreifacht hat. Das liegt schlicht und ergreifend daran dass Argentinien seit damals ein recht preiswerter Boden geworden ist. Noch Ende der 1990er-Jahre war Preisniveau vergleichbar mit Österreich. Deutlich über 50% der rund 23.000 Bildungstouristen sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. Aus Europa kommen 40% der Studierenden, aus den USA 25% und aus Brasilien 16%. Das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung freut sich, dass Buenos Aires in Mode ist. Die Zahl der Latinos dürfte sich wahrscheinlich gegen 30% bewegen (ich gehe fix davon aus, der Großteil der im Artikel nicht aufgeschlüsselten Studierenden kommt aus LA). Damit stimmt die Reihenfolge meiner Schätzung zumindest mit den Daten für die Studierenden recht gut überein.

Das europäische Babylon


Die Verständigung klappt sehr gut. Alle die hier leben verstehen und sprechen das recht simple Exilantenspanisch. Selbst die in Buenos Aires lebenden Menschen aus Frankreich und Italien sprechen zwei bis drei Sprachen, Leute aus dem deutschsprachigen Raum, aus Benelux oder Skandinavien sprechen vier oder fünf. Nur die englischen Natives können meist außer ein paar Brocken schlechten Spanisch nicht viel. Schuld hat aber nur zum Teil der offenbar katastrophale Sprachunterricht in den USA und im UK. Ein wichtiger Grund ist, dass die englischen Natives selten gefordert bzw. gezwungen sind eine andere Sprache anzuwenden weil sie sich mit der ihren fast überall durchschlagen können. Es ist außerdem erstaunlich wie viele Leute in der Schule Deutsch gelernt haben. Noch erstaunlicher ist der Umstand, dass einige sogar ein paar Brocken sprechen und manche wenige sogar sehr gut. Nach Englisch ist sie in vielen europäischen Staaten die zweite Fremdsprache in der Schule (wie bei uns kann man meist wählen), in den USA und dem UK teilweise sogar die erste.

Der deutschsprachige Raum erfasst in Europa fast 100 Millionen Menschen und Deutsch ist nach Russisch die zweitgrößte Sprache des Kontinents. Wahrscheinlich nicht zuletzt aus historisch bedingter Vorsicht unterschätzt man oft die Bedeutung der deutschen Sprache. Leider haben die Nazis es geschafft, dass sie im Ausland bis heute im ersten Gedanken mit dem Geschrei Hitlers assoziiert wird.

Die vier Klassiker die hier von Europäer/innen in unterschiedlichem Ausmaß beherrscht werden sind Englisch, Spanisch, Französisch und Deutsch. Das sind zum Glück auch jene in denen ich mich mehr oder weniger gut zurechtfinde. Aus einer haarsträubenden Mischung dieser vier Sprachen, die auf Kosten jeder einzelnen zu einem fürchterlichen Kauderwelsch zusammenwachsen, unterhalte ich mich mit Leuten aus dem gesamten Okzident.

Erst hier wird mir klar, dass Deutsch für Menschen mit Interesse an Sprachen von diesen vier die optimale Muttersprache ist. Es ist die am schwierigsten zu erlernende, die man einfach mit seiner Kindheit aufsaugt. Für Menschen mit slawischer Muttersprache ist es meiner Beobachtung nach besonders einfach sich Fremdsprachen anzueignen. Aber es bestätigt sich für mich seit Jahren auch immer wieder, dass es den Menschen mit germanischen Muttersprachen (Deutsch, Niederländisch, Dänisch etc.) offenbar unfassbar viel leichter fällt Fremdsprachen zu erlernen als Menschen mit romanischen Muttersprachen (französisch, spanisch, italienisch) und englischen Natives. Unter den germanischen Sprachen ist der große Vorteil des Deutschen gegenüber Norwegisch oder Schwedisch allerdings, dass man Zugang zum größten Sprachraum der Europäischen Union hat. Englisch zu lernen fällt uns recht leicht, Englisch als Muttersprache zu haben bedeutet aber wenig Gelegenheit andere Sprachen erlernen zu können. Mit Deutsch kommt man außerhalb des deutschsprachigen Europas nicht weit, da heißt es dann „Lern oder Stirb,“ Hat man zum Ziel Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch zu beherrschen ist Deutsch meiner Einschätzung nach die Ausgangsbasis mit den wenigsten Widerständen.

Die Exil-Europäer/innen

Es sind Trommelevents wie dieser sonntägliche Marsch durch die Calle „Defensa“, bei dem man mit Sicherheit zahlreiche Europäer/innen trifft.

Die Europäer/innen die hier leben haben oft schon eine interkulturelle Vergangenheit. Die Französinnen in meinem Haus haben ein Auslandsjahr in England verbracht bzw. in Neuseeland gearbeitet, meine Tangokollegin aus Sizilien hat 12 Jahre in Berlin gelebt, eine Pariser Grafikdesignerin hat zuvor ein paar Jahre in Los Angeles gewohnt. Die meisten haben zumindest mehrwöchige Auslandsaufenthalte oder mehrmonatige Weltreisen hinter sich.

Es handelt sich fast durch die Bank um interessante Persönlichkeiten, die mir sämtliche Fragen zum dänischen Sozialsystem, zur britischen Identitätskonstruktion, zur belgischen Innenpolitik, zu den schwedischen Trinkgewohnheiten oder zur historischen Bedeutung von Toulouse im Mittelalter beantworten (es gibt folglich fast so viele europäische Fragen wie lateinamerikanische, mit denen ich mich hier auseinandersetze, wobei sich zweitere eher auf dem „Was ist eigentlich Ecuador?-Niveau“ abspielen) Die Europäer/innen in Buenos Aires sind Studierende, Künstler/innen, Filmproduzent/innen, Intellektuelle, Theaterleute, Tänzer/innen, Abenteurer/innen und Sozialarbeiter/innen. Ihr geographisches Zentrum ist das eigentlich eher abgelegene San Telmo.

Es ist nicht gerade die schlechteste Auswahl an Persönlichkeiten aus dem alten Kontinent, die sich hier findet. Dies veranlasst die Argentinier/innen regelmäßig überzogene Rückschlüsse auf Bildung und Benehmen der Europäer/innen generell zu ziehen. Tatsächlich handelt es sich durchwegs um kosmopolitische Menschen mit Interesse an der Welt, die das internationale Flair unserer hiesigen Exil-Gesellschaft sehr genießen. Unisono stellen sie fest, dass sie so etwas wie eine europäische Identität erst hier entdeckt haben, oder wenn selbige schon vorhanden war diese durch den Aufenthalt in der Ferne vertieft wurde. Ein Partyveranstalter aus Florenz brachte das diffuse Zusammengehörigkeitsgefühl folgendermaßen auf den Punkt: "As an European you are just part of the club." Es ist unbestreitbar, dass ich mich in meinem lateinamerikanischen Europadorf recht wohl fühle.

San Telmo ist schon fast ein Arrondissment von Paris. Hier leben etliche junge Menschen aus ganz Europa, vor allem aus Frankreich und darunter wieder mehrheitlich Menschen die zuletzt in Paris gewohnt haben. Es ist schön, ein bisschen verfallen und preiswerter als die schicken Stadtteile Recoleta und Palermo.

Hier eine Liste von europäischen Staaten aus denen mir bisher Menschen in Buenos Aires über den Weg gelaufen sind: Frankreich, Frankreich, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien, Spanien, Polen, Niederlande, Belgien, Irland, Schweden, Dänemark, Slowenien, Island Schweiz, und natürlich Österreich. Darüber hinaus habe ich in Argentinien Leute aus den USA, Kanada, Australien, Neuseeland, Kolumbien, Brasilien, Mexiko, Bolivien, Peru, Paraguay, Kuba, Chile, Israel, Ägypten und Südafrika getroffen.

Aus gegebenen Anlass für meine europäische Existenz die ich nicht los werde und wahrscheinlich gar nicht los werden will, hier eine fesche Version der Europahymne: Ode to Joy

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen