Montag, 18. Mai 2009

Der Tango, die Alte Welt und die argentinische Seele…



In meinem folgenden Eintrag greife ich neben eigenen Erfahrungen auf drei Quellen zurück. Die wichtigste und kompetenteste Quelle ist das Buch „Kulturschock Argentinien“ von Carl D. Goerdeler, das ich jeder Person die sich mit Argentinien beschäftigt empfehlen würde. Der Korrespondent mehrer deutschsprachiger Zeitungen geht mit dem Land hart ins Gericht und wird teilweise zynisch und herablassend, nur selten blitzt ein bisschen Sympathie für die Argentinier/innen und ihre Gesellschaft durch. Trotz des etwas preußisch-arroganten und eurozentristischen Blickwinkelns ist es das informativste Buch über Argentinien. Als weitere Quelle dient Maike Christens „Tango tanzen in Buenos Aires,“ das nahe liegender Weise vor allem den Bereich Tango dieses Eintrags abdeckt. Wichtig für diesen Text ist auch noch der „Lonely Planet Argentinien“, das Standardwerk für Reisende mit viel Interesse und wenig Geld.


Die Psyche einer Gesellschaft


„Ein Argentinier ist ein Italiener der Spanisch spricht und glaubt er sei ein Engländer.“

„Argentinien ist das europäischste Land Lateinamerikas weil seine Bewohner von den lateinischsten Regionen Europas stammen.“

„Der Argentinier ist ein Europäer, dem keiner mehr schreibt.“

Goerdeler ist der Auffassung es gäbe kein anderes Land auf der Welt, dass sich so mit sich selbst und seiner eigenen Identität beschäftigt. „Wer sind wir?“ ist die Frage zu der es in Argentinien massenhaft Literatur gibt. „Sind die Argentinier nun Lateinamerikaner oder Europäer, die durch Zufall in diesen entlegenen Teil der Welt gelangt sind? (…) Die Unsicherheit darüber wer sie nun eigentlich selber sind ist vielleicht der archimedische Punkt, um den sich in Argentinien alles dreht,“ so Goerdeler.

Während sich die Bevölkerung Mexikos teilweise mit Stolz auf ihre aztekischen Wurzeln besinnt, wollen die Argentinier/innen mit denen von ihnen fast vollständig ausgerotteten indigenen Kulturen nichts zu tun haben. Manchmal erzähle ich meinen argentinischen Bekannten, dass die meisten Menschen in Europa keine klare Vorstellung davon haben, wie sich das Lateinamerika zwischen Rio Grande und Feuerland unterschiedet. Für die meisten seien das eben alles irgendwie Latinos. Darauf reagiert mein jeweiliges Gegenüber stets sehr enttäuscht und es wird etwas resignierend und abfällig angemerkt, dass man die Argentinier/innen im Ausland für Indiander und Wilde halte. Man möchte aber in der Welt so gerne als westlicher Industriestaat mit europäischer Kultur wahrgenommen werden.

Der Staatsphilosoph Alberdi machte im 19. Jh. unmissverständlich klar: „In Amerika ist alles, was nicht europäisch ist, barbarisch. Man müsse „Europa nach Amerika bringen“. In der Mitte und im Süden des Landes, wo die Einheimischen als Nomaden lebten, rottete man in mehreren Feldzügen alles aus was man vorfand (Dabei wurden vorwiegend schwarze Soldaten eingesetzt, womit man beträchtliche Teile der Nachfahren der afrikanischen Sklaven auch gleich eliminierte). Im Norden wurden die sesshaften indigenen Kulturen assimiliert. Diese „Zivilisierung“ im europäischen Sinne gelte aber nicht nur bezüglich der Indigenen, auch „aus einem Gaucho (argentinische Cowboy Anmk.) macht man in 100 Jahren keinen englischen Arbeiter“, beschwert sich Alberdi.


Die Cowboys Argentiniens. „Die Gauchos verachten den Tango, sie spucken auf Buenos Aires und das gelackte Gesindel der Großstadt.“ Man weiß nicht ob Goerdeler hier die Gauchos für sich sprechen lässt, aber er bringt’s so schön auf den Punkt, dass wir einmal annehmen wollen es sei was Wahres dran.

„Europa ist das Zentrum der Zivilisation und steht für den Fortschritt der Menschheit. Wir haben keine andere Wahl, uns nach Europa zu orientieren (…)“ so Präsident Sarmiento im 19. Jh. Allerdings meinte Sarmiento damit vorwiegend nicht die armen Migrant/innen aus Italien für die er stets Verachtung überhatte, sondern Menschen aus den seiner Ansicht nach arbeitsamen Regionen Nordeuropas (v.a. Deutschland und Großbritannien). Er ging sogar so weit die europäische Kultur als Gegenmodell zu den spanischen Sitten darzustellen. In den argentinischen Pampas ließen sich bereits die Unterschiede feststellen zwischen „[…] der deutschen oder der schottischen Kolonie südlich von Buenos Aires und dem Dorf, das sich im Hinterland bildet: bei der ersten sind die Häuser gestrichen, die Fassaden immer gepflegt […] und die Einwohner sind in andauernder Bewegung und Aktivität. Sie melken Kühe, produzieren Butter und Käse, und einige Familien haben es sogar geschafft, ein Vermögen zu verdienen und in die Stadt umzuziehen, um ihren Wohlstand zu genießen. Das Dorf der Eingeborenen (bereits seit längerem ansässige Menschen mit südeuropäischen Wurzeln
Anmk.) ist die niederträchtige Rückseite dieser Medaille.“

Dieser "freundliche" Herr Namens Sarmiento war Mitte des. 19. Jh. Präsident Argentiniens und gilt wegen seiner Förderung der Bildung als Pädagoge des Landes. Bildung hieß europäische Bildung wie sein Werk „Civilización y barbarie“ unmissverständlich klar macht. Sein Nachfolger rottete in diesem Sinne gleich alle verbliebenen Indigenen in Patagonien aus.

Der Identitätskonflikt hat sich tief in die Seele der Menschen in Argentinien eingebrannt und hinterlässt bis heute seine Spuren. Schon nach wenigen Minuten erzählen die Argentinier/innen von ihren Vorfahren aus Italien, Spanien oder Deutschland. Sie sind stolz wenn sie „Weichand“ heißen, oder sogar noch Kontakt mit europäischen Verwandten haben.
Argentinien schaut nach Europa und will von Europa anerkannt werden. Erst wenn in Europa argentinische Künstler Anerkennung finden, sind sie auch in der Heimat geachtet. Dies gilt beispielsweise für Fußballstars, einen der prominentsten Exportartikel Argentiniens. Aber es traf auch auf den Tango und seinen berühmtesten Vertreter Carlos Gardel zu und selbst der Hype um Che Guevara wäre wohl in dessen Herkunftsland nicht so ausgeprägt, wenn er nicht in den 1960er-Jahren auf den Straßen Paris’ und Berlins zum Superstar gekürt worden wäre. Goerdelers Conclusio: „Argentinien wollte also niemals die Nabenschnur zu Europa abschneiden. Und das bedeutet, um im Bild zu bleiben, dass die Nation niemals erwachsen wurde, sich emanzipierte, ihren eigenen Weg suchte, sich in Amerika einrichtete. (…) Die mentale Verankerung in die alte Welt ist die Paranoia Argentiniens.“


Der Tango



Was hat das argentinische Identitätsdrama mit dem Tango zu tun? Nun, auf den zweiten Blick mehr als man meinen möchte. Laut Maike Christen sind die Portenos (Bewohner/innen von BsAs) der Meinung, dass Buneos Aires die wahre Hauptstadt Europas sei weil die 14-Millionen Metropole ein Schmelztiegel der Alten Welt ist. Aus diesem Durcheinander europäischer Sprachen, Musiken und Kulturen sei der Tango geboren, „aus der Fusion von Alter Welt und Neuer Welt, aus Armut und Heimatlosigkeit, Sehnsucht und der Suche nach Geborgenheit in der Umarmung eines Tanzes.“ wie Maike Christen ausführt.

Die meist männlichen proletarischen Zuwanderer aus Europa ließen sich in den Vorstädten von Buenos Aires nieder und vermissten ihre zurückgelassenen Frauen sowie ihre Heimatländer. In Cafés und Bordellen versuchten sie ihre Einsamkeit beim Tanz mit Kellnerinnen und Prostituierten zu vergessen. In diesem Milieu wurde aus spanischen, italienischen und afrikanischen Einflüssen (Trommeln) der Tango geboren. „Es war eine kraftvolle Mischung aus Machismo, Leidenschaft und Verlangen. Verzweifelt und aggressiv. (…) Der Tango spiegelte die neuen Erfahrungen der Einwanderer in der Großstadt wieder und erinnerte voller Wehmut an ein aufgegebenes Leben.“ heißt es im Lonely Planet. „Ein Schuss Andalusien, ein wenig Normandie, die Gaucho-Tradition, die Milongas, die man auf dem Lande tanzte, das Schifferklavier (Bandoneon – die Ziehharmonika: der deutsche Beitrag zum Tango!) und natürlich kiloweise Sentimentalität, Tristezza, Heimweh.“ so bringt Goerleder auf den Punkt was seiner Auffassung nach Tango ist.

Migrant/innen aus Südeuropa hoffen im frühen 20. Jh. auf ein besseres Leben in Amerika. Aus Buenos Aires sind auch viele wieder enttäuscht heimgekehrt.

Erst als der Tango in den 10er-Jahren des 20. Jh. seines Siegeszug in Europa (v.a. Paris) und den USA antrat, wurde er auch von der argentinischen Oberschicht akzeptiert. Als die Tangowelle nach Europa Anfang überschwappte, sah sich Papst Pius X. genötigt vor der Immoralität dieses Tanzes zu warnen, die offenbar etwas prüden Heeresleitungen in Berlin und Wien verboten ihren Soldaten Tango zu tanzen.

Carlos Gardel ist eine essentielle argentinische Symbolfigur. Die Popularität des Tangostars war grenzenlos. Als er 1935 bei einem Flugzeugabsturz verunglückte, kam es in den Straßen von Buenos Aires zu enthusiastischen Trauerszenen.

Der Tango hatte seine Blüte in der ersten Hälfte des 20. Jh. Ab den 1950er-Jahren begann er an Bedeutung zu verlieren, der Rock n’ Roll setzt sich auch am Rio de la Plata durch. Unter der Militärdiktatur der 1970er-Jahre wurde der Tanz von den herrschenden Eliten sogar als anrüchig abgelehnt. Der Tango war bis weit in die 1990er-Jahre faktisch tot und hat sein Dasein nur noch in Touristenlokalen gefristet. Die heute 30-60-jährigen haben den Tanz als Junge gar nie gelernt. Gleichzeitig wurde der Tango als Exportprodukt in den Westen allerdings wieder populär und ist vor ca. zehn Jahren in sein Ursprungsland zurückgekehrt, von wo aus er wieder neue Impulse rund um den Globus schickt wie Christen das beschreibt. Goerleder sieht in der jüngsten Renaissance hingegen nur einen touristischen Abklatsch einer längst vergangenen Epoche, die mit dem heutigen Argentinien nichts mehr zu tun hat.

Das Conclusio des bisher Geschriebenen ist, dass der Tango der offensichtlichste Ausdruck einer chronischen Identitätskrise der Argentinier/innen im Allgemeinen und der Portenos im Speziellen ist. Es heißt, der Tango sei ein trauriger Gedanke den man tanzt. Diese Trauer ist die sentimentale Beziehung der Tagelöhner aus Neapel oder Galizien zur Alten Welt. Ein Kernelement argentinischer Kultur ist aus dem Heimweh geboren und diese pathologische Beziehung zu Europa ist bis heute nicht abgerissen.


Meine Tangowelt in Buenos Aires

Die Tangotanzbar nennt sich Milonga und ist eine konzeptuell simple, aber für einen im Wien der 2000er-Jahre lebenden Menschen trotzdem außergewöhnliche Einrichtung. Architektonisch sind Milongas meist in älteren Gebäuden untergebracht, die ihre besten Zeiten schon längst hinter sich gelassen haben. Man muss dazu sagen, dass Argentinier/innen diesbezüglich insofern eher amerikanisch als europäisch sind, als die alte Bausubstanz verfallen lassen oder wegreißen, während sie es todschick finden in einem modernen Wolkenkratzer zu leben. Daher haben die Milongas durchwegs etwas Schäbiges und die alten Bilder und Fotos aus den besseren Zeiten sorgen für ein sentimentales bis verstaubtes Ambiente. Zweifellos haben die Milongas Charme, und der Umstand dass selbiger offensichtlich abbröckelt macht die Angelegenheit fast romantisch. Als „arm aber sexy“, würde der Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit diese Atmosphäre wohl bezeichnen.

Verkehrte Welt: Die schönen alten Häuser werden von den Portenos tendenziell vernachlässigt. Lieber lebt man in den für europäische Geschmäcker nicht gerade ästhetischen Hochhäusern.

Da Portenos absolute Nachtmenschen sind beginnt die Milonga frühestens um 23:00, wobei man vor Ort Getränke und einfache Speisen bekommt. Jetzt im Mai beginne ich auch darunter zu leiden, dass es keine Heizungen gibt. Das Motto lautet „Tanze oder Friere“. Je nach Programm gibt es entweder Musik aus der Dose oder es spielt eine Band. Die Tische sind in U-Form um die Tanzfläche aufgestellt, man sitzt aber immer mit Blick zur Tanzfläche. Kommt man zu zweit sitzt man sich also nicht gegenüber sondern quasi in Reihen nebeneinander. Vor allem jetzt wo die Tourismussaison vorbei ist, hat man angenehm viel Platz. Wenn die Musik beginnt braucht man nicht lange auf Eisbrecher/innen warten, in kürzester Zeit sind die ersten Paare af der Tanzfläche. Einmal aufgefordert tanzt man eigentlich vier Tänze, aber mindestens zwei. Tatsächlich haben nach spätestens zwei Stunden fast alle mit fast allen getanzt, zumindest innerhalb jener Leute deren tänzerisches Niveau dies zulässt. Also jene Leute zu denen ich nicht gehöre. Mit mir tanzen entweder meine mitleidserfüllte Tangolehrerin oder mutige Anfängerinnen die ich aus der Tangostunde kenne.

So sieht eine klassische Milonga aus. Eine der Hauptaufgaben des Mannes ist es dafür zu sorgen nicht zu kollidieren. Echte Profis machen tolle Schrittfolgen auf kleinstem Raum

Während es früher eine richtige Zeichensprache fürs Auffordern gab, fragen die Menschen jetzt einfach ganz locker. Da Tango ein Tanz ist, der aus einer extrem machistischen Tradition stammt, fordern bis heute immer die Männer auf. Es gibt keine Damenwahl. Zwischendurch werden jeweils ein paar Folklorenummern getanzt, die beim Publikum wegen ihrer Einfachheit mindestens so beliebt sind wie der saukomplizierte Tango selbst. Argentinien ist so elegant wie Italien nur mit weniger Geld, insofern ist es angenehm, dass die Tourist/innen einen recht legeren Kleidungsstil in den Milongas durchgesetzt haben. Die Milonga dauert bis vier in der Früh.

Konst und Sarah hatten das Vergnügen in sechs Tagen Buenos Aires zwei Tangostunden zu nehmen und eine Milonga zu besuchen. Hier ihre ersten selbstständigen Schritte in der ungeheizten, dafür aber nicht isolierten Independencia 572. Der Beginn einer großen Showkarriere?

Ich tanze am Dienstag in einer Riesen-WG die aus lauter Lateinamerikaner/innen besteht. Die beiden Tanzlehrer/innen sind allerdings eine Italienern und ein Franzose. Am Freitag tanze ich bei einem argentinischen Lehrer, das Publikum besteht hauptsächlich aus Argentinier/innen und ein paar Franzosen. Wir tanzen gleich unmittelbar vor Ort, dort wo ein paar Minuten nach Ende der Stunde die Milonga beginnt. Die absolut freundliche und unkomplizierte Lockerheit der Portenos überträgt sich in der Klasse immer auch auf die europäischen Tangoneulinge. Da alles super-flexibel ist und man pro Stunde zahlt, gibt es immer nur einen Kern an Leuten die regelmäßig kommen. Das stört aber nicht, im Gegenteil, ich habe die Flexibilität schon genützt um auch einmal Samba, Salsa, argentinische Folklore und Milonga (in seiner Zweitbezeichnung steht das Wort für eine schnelle Version des Tango) zu tanzen. Außerdem habe ich mehrere Tango-Lehrer/innen ausprobieren können.

Die Cochabamba 444 ist derzeit meine Lieblings-Milonga. Der Laden ist eher kleiner, die Atmosphäre sehr familiär und jede/r kennt jede/n.

Jene Tangowelt die ich in Buenos Aires antreffe kommt mir keinesfalls künstlich oder aufgesetzt vor. Es ist definitiv eine Szene die stark expandiert und die in Buenos Aires lebenden Europäer/innen sind dabei eine wichtige Stütze. Vor allem in San Telmo, wo ich mich punkto Tango in erster Linie bewege, ist die Anzahl von französischen Tänzer/innen enorm. Viele junge Argentinier/innen versuchen sich den Tango anzueignen und die europäisch-argentinische Tangomischung die in Buenos Aires in der Luft liegt belebt einerseits einen Supertanz aufs Neue, andererseits experimentiert sie und kreiert etwa im Bereich des Elektrotango neue Genres.

Zum Abschluss dieses Eintrags darf natürlich eine musikalische Untermauerung nicht fehlen. Selbst Carlos Gardel, der größten Tangostar aller Zeiten, verkörpert das argentinische Identitätsproblem. Geboren 1890 in Toulouse geboren, wächst er ab seinem dritten Lebensjahr in Buenos Aires auf und wird sowohl von Frankreich als auch von Argentinien als Teil des jeweiligen kulturellen Erbes betrachtet. Aber er liebt Buenos Aires. Mi Buenos Aires querido

1 Kommentar:

  1. Hallo! In Argentinien war ich noch nie, will aber das Land besuchen und seine Schönheit und Kultur genießen. Lieben Gruß, Bianca

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