Samstag, 21. November 2009

Aufruf zur Fußgängerrevolte

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PARE, so heißt STOP in der argentinischen Höflichkeitsform. Das Schild dient an den Kreuzungen übrigens nur zur Zirde

Der aggressive Unterton im heutigen Eintrag versucht gar nicht erst sich zu verstecken. Dies ist nicht verwunderlich, weil es diesmal um den Verkehr in einer lateinamerikanischen 13-Millionen-Metroploe geht. Das geht zwar ohne Regeln, aber nicht ohne Emotionen.



Der Verkehr in Buenos Aires ist vor allem durch zwei Phänomene geprägt: Unfassbare Rücksichtslosigkeit und unfassbare Hektik. Wer sich brutaler verhält, setzt sich durch. Da Bluffen eine wichtige Rolle spielt, bremsen die Autos nie ab, auch nicht wenn man als Fußgänger/in irgendwo die Straße überquert. Damit signalisieren die Autos dass du divh verdammt noch einmal beim überqueren zu beeilen hast. Wie in allen Staaten denen man als eurozentristischer Chauvinist punktuelle Zivilisationsdefizite attestieren würde (eine überhebliche Herblassung, die mir in Momenten des Zorns manchmal einschießt), haben Fußgänger/innen in Buenos Aires keine Rechte. Zebrastreifen bedeutet nichts, wer selbige glaubt verwenden zu können wird vorher niedergehubt und nachher beschimpft. Weder Autos noch Busse haben Skrupel vor einer roten Ampel mitten am Zebrastreifen stehen zu bleiben. Motorräder rasen zwischen überquerenden Fußgänger/innen wie Irre hindurch. Auch Fußgängerampeln sind keine Garantie auf Sicherheit, vor allem abbiegende Fahrzeuge sind oft der Meinung in diesem Fall Vorrang zu haben.

Es gibt einen Haufen Taxis in Buenos Aires, sie sind hier schwarz-gelb. Taxis sind auch deshalb verhasst, weil sie – wenn leer – vor Kreuzungen immer auf 10 km/h abbremsen um keine Kunden zu verpassen. Das erregt den Zorn der anderen Autofahrer/innen.

Generell fahren die Portenos (so heißen die Einwohner/innen von Buenos Aires) mit Vollgas und Vollbremsung. Sie beschleunigen prinzipiell wie die Irren, fahren mit hoher Geschwindigkeit in die rote Kreuzung und bremsen dann wie verrück an der Ampel ab. Was das für Spritverbrauch und Fahrzeugabnutzung bedeutet kann man sich ausmalen. Für jeden Milimeter Vorsprung wird ein völlig überflüssiger Spurwechsel riskiert. Dabei schneidet man seinen Nachbarn natürlich bei hohem Tempo. Staut es sich hinter der nächsten Ampel schon, fährt man bei Orange selbstverständlich in die Kreuzung. Dass es gleich rot wird und die Querstraße damit total blockiert ist wird ohne Fingerzucken in Kauf genommen. Die Autobusse verhalten sich nicht anders als die PKW oder Motorräder. Besonders schlimm sind die Taxis. Sämtliche Gefährte machen einen Höllenlärm, wobei die alten Lastwagen und Autobusse nur noch von den auffrisierten Mopeden übertroffen werden, die – vorzugsweise nachts – mit ihrem ohrenbetäubenden Gedröhne die Luft zerreißen.


Der Colective Nr. 4 von meinem Balkönchen aus, mit Sicht auf die Kreuzung wo ich wohne, Urquiza und Garay. Mit diesem fahre ich jeden Tag in die Arbeit

Am gefährlichsten sind aber zweifellos die Colectivos, die Autobusse in Buenos Aires. Sie wurden in den 90er-Jahren privatisiert, jetzt ist jede der 180 Buslinien eine Privatfirma. Was ein profitmaximierender städtischer Personenverkehr bedeutet, wird im Folgenden ersichtlich: Die Busse sind zumeist mindestens 20 Jahre alt und hinterlassen immer eine Abgaswolke die jeden VÖST-Schlot staunen lässt. Sie sind vollgestopft mit Menschen, rattern ruckartig mit Höllenlärm durch die Stadt und bewegen sich wie pubertierende Autodromfahrer. Sie rasen bei Rot über die Ampel, überholen sich in engen zweispurigen Einbahnen gegenseitig, schneiden sich untereinander sowie andere Verkehrsteilnehmer/innen. Sie fahren schnell durch enge Gassen und verletzen bei ihren Manövern mit ihren Rückspiegel immer wieder einmal Fußgänger/innen die am einfach am Gehsteig gehen. Die Colectivos kommen in willkürlichen Rhythmen. Typisch ist, dass 15 Minuten keiner kommt und dann zwei auf einmal. Das Steilste was ich erlebt habe waren vier unmittelbar hintereinander. Kommen sie lange nicht, sind sie natürlich besonders überfüllt. Manchmal sind sie so voll, dass sie gar nicht stehen bleiben, was dann weitere 15 Minuten Wartezeit bedeutet. Die Busse bleiben – wie die U-Bahn – nur extrem kurz stehen, ein und aussteigen passiert halb im Fahren, manchmal wird man beim Einsteigen fast hinausgeschleudert, weil der Bus schon mit vollem Karacho losfährt, während man mit einem Bein noch am Asphalt steht. Wie alte Leute damit leben ist mir völlig unklar, man sieht wohl deswegen nur sehr wenige in den Öffis. Bei uns würden Charlie Blecher und Andreas Kohl ob solcher Zustände Volksbegehren, wenn nicht Volksaufstände initiieren.

Die Anzahl an Verkehrstoten ist extrem hoch, aber was soll ein Staat machen dessen Regeln prinzipiell ignoriert werden? Die an jeder Ecke stets gemütlich herumstehenden Polizisten von Buenos Aires kosten diese Zustände nicht einmal ein Achselzucken. Außerdem ist die Exekution von Strafen schwierig. Die Vernetzung zwischen den Behörden der einzelnen Provinzen ist schlecht. Es wird als Innovation gesehen wird, dass auch Nicht-Portenos die Verkehrssünden begehen demnächst abgestraft werden. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass mindestens die Hälfte der Verkehrsteilnehmer/innen aus der Provinz Buenos Aires (14 Mio. Einwohner/innen) und nicht aus Buenos Aires Capital Federal (3 Mio. Einwohner/innen) kommen, macht diesen Umstand besonders delikat.

Ein paar Taxis an meiner Kreuzung. Heute ist ein verregneter Samstag Nachmittag, daher ist relativ wenig los.

Da vom Staat nichts zu erwarten ist, setze ich auf Selbstorganisation und rufe zum zivilen Widerstand zwecks Disziplinierung motorisierter Verkehrsteilnehmer/innen in Buenos Aires auf. Meine Tipps:

Der konsequente Übersteiger: Ein Auto steht mitten am Zebrastreifen vor der roten Ampel, du hast grün. Geh nicht um das Auto herum, sondern steig über die Kühlerhaube

Die Temporegulierungs-Blockade: Ein Auto reduziert nicht das Tempo während man einen Zebrastreifen überquert, weil es kalkuliert, dass es sich ausgeht wenn man selbst einen Zahn zulegt. In diesem Falle empfehle ich breitbeinig und frontal zum Auto stehen zu bleiben um ein Abbremsen zu erzwingen

Der Reflextest: Ein Auto fährt zu schnell in eine Kreuzung mit Zebrastreifen, an dessen Rand man steht um zu queren. Mein Tipp: Das Auto durch einen ruckartigen angedeuteten Schritt schrecken und eine Bremsung provozieren.

Der Disziplinierungs-Kick:Weiters empfehle ich aufbindbare Stahlkappen für Front und Ferse zu kaufen. Alle Gefährte die einen am Zebrastreifen aus der Querstraße kommend schneiden oder hinten zu knapp auffahren, bekommen einen Tritt ins Blech (Motorräder nicht!). Vor allem Taxis.

Die Andeutung der Brandmarkung: Taxis die bereits mehrere Tritte im Blech haben sollte man zum Schein aufhalten, als wollte man ihre Transportdienstleistung in Anspruch nehmen. Beim öffnen der Tür empfiehlt sich ein Spruch wie „Marcardo“ (markiert), ehe man die Tür zuknallt und weitergeht. Das wird die ungeduldigen Taxler von Buenos Aires zur absoluten Weißglut treiben.

Die geduldige Verzögerung: Busse die es besonders eilig haben, kann man durch besonders langsames Ein- und Aussteigen eventuell ein bisschen Geduld beibringen. Vielleicht verliert man eine Zeitschrift in der Türe und muss sie umständlich aufheben.

Der beharrliche Free Ride: Sollte ein Bus wieder einmal willkürlich an einer Haltestelle nicht stehen bleiben empfehle ich – fall es sich ausgeht – bis zur nächsten roten Ampel zu laufen, dort auf die Einstiegsplattform (die 10 cm. Breite sind Platz genug zum Stehen) zu springen und sich an den äußeren Halterungen festzuhalten. Der Busfahrer kann wählen ob er die Tür gleich öffnet, oder du eben ein bisschen draußen mitfährst und bei der nächsten Haltestelle einsteigst.

Das Soli-Drücken: Auch von Innen kann man dieser Anhalte-Willkür des entgegenwirken, indem man – sobald sich abzeichnet dass er nicht stehen bleibt – solidarisch mit den draußen wartenden den Ausstiegsknopf drückt.


Der 32er hinterlässt immer eine feine Rauchwolke die durch mein offenes Fenster dringt um meinen Raum vollständig auszufüllen. Punkto Lärmpegel können Kreissägen bei ihm Nachhilfe nehmen. Er kommt alle zehn Minuten, manchmal beglücken mich gleich drei hintereinander.

Kürzlich habe ich mich über einen Autobus unfassbar geärgert, der mir während des Überquerens einer breiten Straße den Zebrastreifen blockiert hat um sich vor der roten Ampel ordentlich einzubremsen. Im Affektzorn habe ich ihm dem Fahrer und die Scheibe gehaut und siehe da er hat ein paar Meter zurückgeschoben und ich konnte gerade weitergehen. Es zahlt sich also aus sich zu wehren. Diese Kampfschrift an alle Fußgänger/innen von Buenos Aires werde ich irgendwann noch auf Spanisch übersetzen und auf roten Flugzettel in der Avenida Corrientes verteilen.

2 Kommentare:

  1. finalmente un hombre que es suficiente valiente defenderse. Gracias por eso. Espero que le no ocurre nada.

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  2. "Espero que le no ocurre nada."

    Darauf würde ich nicht wetten, Du bist verrückt! :D

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