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Ein Beitrag zur Entwicklungsdebatte mit Fokus auf Lateinamerika
Einleitung
Am 1. April 2010 kehre ich nach 15 Monaten Lateinamerika nach Europa zurück. Vor allem mit meinen argentinischen Freund/innen habe ich in diesem Zeitraum einige heftige Diskussionen über den Charakter der Nord-Süd Beziehungen geführt. Von Vertreter/innen des moderaten Linksperonismus (in etwa vergleichbar mit sozialdemokratischen Standpunkten) bis zu trotzkistisch orientierten Aktivist/innen teilten alle meine Diskussionspartner/innen eine wesentliche geopolitische Überzeugung: Der Norden sei reich, weil der Süden arm ist. Zum Erstaunen meiner Freund/innen, stand ich dieser so konsensualen Auffassung sehr skeptisch gegenüber. Noch eindeutiger habe ich mich gegen die beliebte Auffassung positioniert, dass der Kapitalismus zwangsläufig ein Zentrum und eine Peripherie benötige. Denn mit diesem Gedanken geht einher, dass eine Verbesserung der Situation der Entwicklungsländer überhaupt nur im Falle der Abschaffung des Kapitalismus zu Stande kommen könne.
Mit diesem Artikel, der gleichzeitig der längste und wissenschaftlichste aller Blog-Einträge geworden ist, versuche ich diese Diskussion zu systematisieren. Gleich vorweg: Der Text beruht vielfach auf Einschätzungen und logischen Schlussfolgerungen von Forscher/innen die sich mit dem Thema beschäftigt haben und von mir selbst. Eine solide empirische Fundierung hätte einerseits den Aufwand einer mehrjährigen Forschungsarbeit bedeutet, andererseits werden viele Daten die mich in diesem Zusammenhang interessieren gar nicht erhoben, oder sie betreffen historische Epochen in denen es noch gar keine Datenerhebung gab. Beginnen möchte ich mit einem sanften Einblick in die theoretische Diskussion auf Wikipedianiveau:
1. Einführung in die Entwicklungsdiskussion
Eine Entwicklungstheorie will erklären, warum bestimmte Regionen oder Länder in Wirtschaft und Gesellschaft hinter anderen zurückbleiben und wie man diesen Rückstand mittels Entwicklungspolitik aufholen kann. Endoge Entwicklungstheorien postulieren, dass eine soziale Struktur aus sich selbst heraus die Elemente zu ihrer Überwindung zu erzeugen vermag. Die Ursachen liegen in den Entwicklungsländern selbst, etwa in traditionellen Gesellschaftsstrukturen oder in Korruption. Das zu Grunde liegende Geschichtsverständnis besagt, dass die Entwicklungsländer auf einer historischen Stufe stehen welche die Industrieländer schon hinter sich haben und eine lineare aber langsamere Entwicklung, ähnlich jener der Industriestaaten, einschlagen werden. Exogene Theorien gehen hingegen davon aus, dass die Ursachen des niedrigeren Entwicklungsstandes außerhalb der Entwicklungsländer, genauer gesagt in ihrer Ausbeutung durch die Industrieländer zu suchen sind. Sie heben die Abhängigkeit der Entwicklungsländer von den Industrieländern hervor; die scheinbar in den Entwicklungsländern liegenden Ursachen (wie z.B. Korruption) sehen sie dagegen als Folgen dieser Abhängigkeit. Ein lineares Geschichtsverständnis wird abglehnt (vgl. Wikipedia Entwicklungstheorien).
Endogene Theorien: Modernisierungstheorie
Die Modernisierungstheorie ist eine klassische endogene Entwicklungstheorie, sie geht also davon aus, dass die Hindernisse für Entwicklung in den Entwicklungsländern selbst zu suchen sind. Kern der Modernisierungstheorien ist der postulierte Gegensatz zwischen moderner und traditionaler Welt. Die Modernisierungstheoretiker/innen sehen Tradition als Hindernisse für den take off des ökonomischen Wachstums. Es ist ihnen durchaus bewußt, dass die Modernisierung gewaltige, radikale Veränderungen der 'traditionalen' Gesellschaften bedeuten würde. Sie meinten aber, dass das wirtschaftliche Wachstum diesen Preis wert sei (vgl. Wikipedia Modernisierungstheorie). Im Gegensatz zu neoliberalen Strömungen räumen sie der staatlichen Planung eine wichtige Rolle ein. Die staatliche Führung soll die traditionellen Strukturen überwinden indem sie die politische Institutionenlandschaft des Westens nachahmen und für ein investitionsfreundliches Klima sorgen.
Exogene Theorien: Dependenztheorie
Dependenztheoretische Ansätze sind den exogenen Entwicklungstheorien zuzuordnen. In der Dependenztheorie wird die Welt in zwei Sphären unterteilt, Zentrum und Peripherie. Das Zentrum beherrscht die Peripherie politisch und ökonomisch. Die Herrschaft funktioniert vor allem über einen ungleichen Handel: Die Industriestaaten kaufen billig Rohstoffe und Agrarprodukte in den Entwicklungsländern, verarbeiten diese unter hohem Technologieeinsatz weiter und verkaufen teure Fertigprodukte an die ganze Welt. Die in diesem Zusammenhang relevante Prebisch-Singer-These (1949) besagt, dass Waren aus Entwicklungsländern leichter ersetzbar sind als Waren aus Industriestaaten. Das bedeutet, dass ein Preisanstieg bei Industriegütern zu viel weniger Absatzverlust führt als ein Preisanstieg bei Primärgütern, die dann einfach aus einem anderen Entwicklungsland billig bezogen werden. Damit sind die Produzent/innen von Industriegütern auf dem Weltmarkt nicht nur unabhängiger, sondern vor allem mächtiger. Die Dependenztheorie geht also davon aus, dass die Preise für Rohstoffe und Agrargüter im Zeitverlauf eher fallen, die von Fertigwaren, insbesondere hochwertigen Industrieprodukten, eher steigen. Das Verhältnis von Preisen für Exportgüter zu den Preisen für Importgüter nennt man Terms of Trade, diese fallen zu Ungunsten der Entwicklungsländer. Insgesamt besagt die These, dass es für die Entwicklungsländer zu einer Verschlechterung der internationalen Handelsbedingungen kommt (vgl. Wikipedia Dependenztheorie).
Der US-Soziologe Immanuel Wallerstein entwickelte in den 1970er-Jahren die depedenztheoretische Weltsystem-Theorie. Die kapitalistische Weltwirtschaft habe im 19. Jh. einen Siegeszug erlebt, der keine parallelen Weltsysteme mehr ermöglichte. Es gibt keine dritte Welt, sondern nur eine Weltwirtschaft mit einer komplexen globalen Arbeitsteilung. Die orthodox marxistische Annahme von den linear verlaufenden Entwicklungsstufen mittels derer die ganze Welt nach europäischem Vorbild von der Feudalgesellschaft in die kapitalistische Gesellschaft geführt würde, wurde verworfen. Die bisherige Dependenztheorie würde die Welt zu simpel darstellen, daher wurde die neu Kategorie der Semiperipherie hinzugefügt. Das Zentrum bestehe aus „freien Ländern“, die andere dominieren, ohne dominiert zu werden, während sich die beherrschten Länder in der Peripherie befinden und in der Semi-Peripherie die Länder anzusiedeln sind, die dominiert werden und gleichzeitig andere Länder dominieren. Die semiperiphäre Zone verhindert, dass die Polarisierung zwischen Zentrum und Peripherie zu einer Gefährdung des ganzen Systems führt. Somit nimmt die Semi-Peripherie eine stabilisierende Puffer-Funktion ein. Es besteht eine enge Verbindung zwischen den drei unterschiedenen Sphären, welche sich in einer bestehenden Arbeitsteilung Ausdruck verschafft. Die Peripherie zeichnet sich durch die Produktion von Primärgütern aus, wobei diese Produktion auf einem verhältnismäßig niedrigem Niveau stattfinde. Das Zentrum, das hochwertige Güter herzustellen im Stande ist, ist auf die Rohstoffe und Arbeitskraft der Peripherie angewiesen. Dem Zentrum gelingt es, aus dem ungleichen „Tausch“ mit der Peripherie Mehrwert zu schöpfen (vgl. Wikipedia Welt-Systemtheorie).
2. Marx und Entwicklungstheorie
Marx liefert übrigens – wie bei so vielen Diskussionen – Argumentationsstoff für beide Seiten. Endogene Modernisierungstheoretie und exogene Depdendenztheorie. Für den Modernisierungstheoretiker Marx entwickelt sich die Gesellschaft linear in Stufen von der Urgesellschaft über die Sklaven- und Feudalgesellschaft zur kapitalistischen Gesellschaft. "Das industriell entwickelte Land zeigt dem minderentwickelten nur das Bild der eigenen Zukunft." (Marx, 1867, S. 14) Überdies hemmen laut Marx die trationellen internen Gesellschaftsstrukturen in China oder Russland deren Entwicklung und verhindern den kapitalistischen Durchbruch. Marx stellt die Überwindung und Zerstörung traditionaler Strukturen in diesem Zusammenhang als unvermeidliche Notwendigkeit dar: “Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. (...) Wie sie das Land von der Stadt, hat sie die barbarischen und halbbarbarischen Länder von den zivilisierten, die Bauernvölker von den Bourgeoisvölkern, den Orient vom Okzident abhängig gemacht. (...) Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört.” (Marx/Engels, 1848) . Diese Sichtweise aus dem kommunistischen Manifest entspricht eindeutig einem endogenen Ansatz.
Gleichzeitig betont Marx, dass die Geburt der kapitalistischen Produktionsweise, in Marx Diktion die ursprüngliche Akkumulation, auch durch den Ressourcenabfluss aus den frühen Kolonien gespeist wurde. “Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute, bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation.” (Marx 1867, S. 779) Der Verweis auf die Entstehung des Wucher- und Kaufmannskapitals als Folge von Fernhandel und kolonialer Expansion ist ein dependenztheoretischer Gedanke.
In einem sehr interessanten Artikel schlüsselt Ulrich Menzel von der TU Braunschweig die verschiedenen Marxinterpretationen auf und kommt zu dem Schluss, dass bei Marx der Modernisierungstheoretiker letztlich dominiere. Es lassen sich also bereits hier beide Positionen der Debatte finden, die später mit solcher Intensität, etwa bei Dobb versus Sweezy oder Wallerstein versus Brenner, geführt wurde, nämlich ob primär interne Kapitalakkumulation oder externer Kapitalzufluss, insbesondere aus den Kolonien, die Industrialisierung vorbereitet habe. (vgl Menzel 2000). Diese so genannte “Brenner Debatte” werden wir uns nun genauer ansehen:
I. Die Brenner Debatte
Stellt man die Frage nach dem Ursprung des globalen ökonomischen Ungleichgewichts, wird die Diskussion relativ schnell historisch. Zu welchem Zeitpunkt entwickelte sich einige Erdteile in eine andere Richtung, was waren die Ursachen dafür und aus welchen Gründen kristallisierte sich die uns heute bekannte Teilung der Welt in einen dominierenden Norden und in einen dominierten Süden heraus?
Die ursprüngliche Akkumulation
Schauen wir einmal was good old Karl zu diesem Thema zu sagen hat. Im Kapitel 24 des Kapitals erläutert Marx seine Auffassung von der Entstehung des Kapitalismus. Er nennt dies die ursprüngliche Akkumulation, also sowas wie die erste große Kapitalbereitstellung und Kapitalinvestition. Dabei hat er erst einmal eine gar harmonische Feudalgesellschaft vor Augen. Nach Marx war in allen Ländern Europas die „feudale Produktion durch Teilung des Bodens unter möglichst viele Untersassen charakterisiert“, diese verrichteten unter dem feudalen Verhältnis mehr oder minder frei und selbstständig ihre Tätigkeit, wobei sie mit relativ wenig Arbeitsstunden pro Tag ihr Auskommen fanden (die Anzahl kirchlicher Feiertage im Mittelalter war z.B. sehr hoch). Entscheidende Momente der ursprünglichen Akkumulation, die seit dem 16. Jahrhundert stattfand, seien etwa die Enteignung des Landvolkes von Grund und Boden und die Disziplinierung des Proletariats in das Produktionsverhältnis der Lohnarbeit. Im Mittelpunkt steht die Entstehung von Humankapital. “Vor allem aber die Momente, worin große Menschenmassen plötzlich und gewaltsam von ihren Subsistenzmitteln losgerissen und als vogelfreie Proletarier auf den Arbeitsmarkt geschleudert werden.” Also der Übergang vom Bauern der sich selbst versorgt, hin zu dem in seiner Existenz abhängigen Lohnarbeiter, der über keine eigenen Subsistenzmittel mehr verfügt. ”Die sog. ursprüngliche Akkumulation ist also nichts als der historische Scheidungsprozeß von Produzent und Produktionsmittel.” Als ein wesentliches Element der ursprünglichen Akkumulation bezeichnet Marx gesetzliche Regelungen und Anwendung der Staatsgewalt zur Niederhaltung des Arbeitslohnes und Verlängerung des Arbeitstages. (vgl. Marx 1967)
“Und die Geschichte dieser ihrer Enteignung ist in die Annalen der Menschheit eingeschrieben mit Zügen von Blut und Feuer.” Von ihren Länderein 'verjagt', aus ihrer Lebensbahn und ihren vorherigen Produktionsverhältnissen 'herausgeschleudert', wurden viele Neoproletarier zu Bettlern, Räubern, oder Vagabunden. Mit der Entstehung einer großen Schicht armer und erwerbsloser Menschen wurde Armut kriminalisiert. Marx beschreibt die Entwicklung der englischen Gesetzgebung, darunter fiel beispielsweise die Bestrafung von Vagabunden durch Auspeitschen, Geißelung, Brandmarkung, Ohr Abschneiden und Zwangsarbeit, bis hin zur Hinrichtung. 'So wurde das von Grund und Boden gewaltsam enteignete, verjagte und zum großen Vagabunden gemachte Landvolk durch grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, -gebrandmarkt, -gefoltert.' (vgl. Marx 1967)
Die zuvor zitierte Behauptung Ulricht Menzels, dass bei Marx modernisierungstheoretische Ansätze dominieren, scheint auch mit der Gewichtung des Themas im Kapital übereinzustimmen. Im Kapitel “Die ursprüngliche Akkumulation” beschreibt Marx primär Prozesse innerhalb Europas, also eine interne Kapitalakkumulation. Die koloniale Ausbeutung bekommt ein Unterkapitel und wird als Erklärungsbeitrag, aber nicht als Hauptursache für die Genese des Kapitalismus behandelt.
Brenner versus Wallerstein und Co.
Alle dependenztheoretischen Ansätze gehen davon aus, dass am Beginn der kapitalistischen Entwicklung ein großer Raub steht, der die eigentliche Ursache für die Entwicklung in den Zentren und die Unterentwicklung in der Perpherie darstellt. Damit stellen sie die externe Kapitalakkumulation in den Mittelpunkt. Die gewaltsame Ausweitung der europäischen Märkte stellte die Geburt des Kapitalismus dar, das kapitalistische Lohnsystem als Ablöse des Feudalsystems sei ein Resultat dieser Expansion. In Folge der Expansion habe sich eine auf Handel basierende internationale Arbeitsteilung ergeben, die für Autoren wie Wallerstein und Co. mit dem Kapitalismus gleichzusetzen ist. For Wallerstein, then, the growth of the world division of labour is the development of capitalism (Brenner 1977, S. 54).
Die Brenner Debatte, eine innermarxistische Diskussion aus den 1970er-Jahren, ist in diesem Zusammenhang hochinteressant. Die Sozialwissenschaftler Immanuel Wallerstein, Paul Sweezy und André Gunder Frank vertraten den neomarxistischen Mainstream und argumentierten dependenztheoretisch. Die Entwicklung des Wohlstands in den Zentren sei der Grund für die Entwicklung der Unterentwicklung in der Peripherie. Der Wohlstand und die Macht der USA seien eine Funktion der Armut und Schwäche von Vietnam, Nicaragua und Angola. (vgl. Blogger Louis Proyect) “In the words of André Gunder Frank,‘economic development and underdevelopment are the opposite faces of the same coin’. (...) Thus they cannot be viewed as the product of supposedly different economic structures or systems . . . One and the same historical process of the expansion and development of capitalism throughout the world has simultaneously generated—and continüs to generate—both economic development and structural underdevelopment.’” (Brenner 1977, S. 28) In dieser Diskussion wurde die Geburt des Kapitalismus – aus Sicht der Dependenztheorie unmittelbar verbunden mit dem Kolonialismus – ein zentraler Streitpunkt. Die Gegenpositionen des Historikers Paul Brenner lassen sich in drei wesentliche Argumente zusammenfassen:
1. Die nicht ökonomisch determinierten Klassenverhältnisse bestimmten den Produktionsmodus und nicht umgekehrt
Brenners Kritik am dependenztheoretischen Ansatz von Paul Sweezy, André Gunder Frank und Immanuel Wallerstein richtet sich in einem ersten Schritt vor allem dagegen, dass die genannten Autoren den Ursprung des Kapitalismus nicht in der Herausentwicklung der Lohnarbeit, sondern in der Expansion des Welthandels sehen. “Consistently he (Wallerstein Anmk.) argues that since ‘production on the market for profit’ determines capitalist economic development, the problem of the origins of capitalism comes down to the origins of the expanding world market” (Brenner 1977, S.33). Brenner stellt klar, dass technischer Fortschritt die ökonomische Entwicklung beschreiben, aber nicht deren Ursachen erklären kann. Er wendet sich weiters gegen ökonomisch-deterministische Erklärungen, die die spezifische Klassenstruktur einer Gesellschaft als Resultat ökonomischer Bewegungen sehen. Die Entwicklung des sozialen Gefüges sei kein Resultat einer Angebot-Nachfrage-Logik. Die Machtverhältnisse der Klassen im Spätmittelalter seien nicht Resultat ökonomischer Bedingungen sondern unabhängig davon stattfindende politische Prozesse. Economic development can only be fully understood as the outcome of the emergence of new class relations (...) These new class relations were themselves the result of previous, relatively autonomous processes of class conflict. (Brenner 1976, S.37)
Brenner erläutert seine Auffassung von der Genese des Kapitalismus. Für das Spätmittelalter konstatiert er, dass die Auseinandersetzungen zwischen Feudalherrn und Bauern in West- und Osteuropa einen unterschiedlichen Ausgang genommen haben. Westlich der Elbe inklusive England hätten sich die Bauern gegenüber ihren Lehensherrn durchgesetzt und konnten um 1500 als frei bezeichnet werden. Östlich der Elbe behielten allerdings die Feudalherrn die Oberhand, was die ökonomische Entwicklung Osteuropas auf Jahrhunderte prägen und zur Rückständigkeit verdammen sollte. (Brenner 1967, S.56-58)
Brenner betont, dass er die Malthuszyklen für das Mittelalter als durchaus brauchbaren Erklärungsansatz betrachtet. Auf 150-200 Jahre der Prosperität würden Phasen der Not und des Hungers folgen. Dadurch wäre die im Verhältnis zu den Kapazitäten der landwirtschaftlichen Nahrungsmittelherstellung überschüssigen Bevölkerung wieder dezimiert worden. Dieses Muster wurde jedoch im frühneuzeitlichen England erstmals durchbrochen: “By the end of the seventeenth century English population had returned to its high, late thirteenth-century levels, but there was nothing like the demographic pattern of seventeenth-century France, no phase B following inescapably from phase A. Instead, we have the final disruption of the malthusian pattern and the introduction of a strikingly novel form of continued economic development.” (Brenner 1976, S.42)
Den Grund für diese epochale Neuentwicklung sieht Brenner in der vom Festland unterschiedlichen Entwicklung der britischen Klassenkämpfe. Während etwa in Frankreich die Bauern ihren kleinstrukturierten Besitz gegen die Gutsherren verteidigen konnten, wurde diese Auseinandersetzung in England verloren. Damit war erstmals die Basis für die neue Produktionsweise der Lohnarbeit geschaffen und der Grundstein für die Entstehung großer landwirtschaftlicher Einheiten und umfangreicher Investitionen gelegt. Thus, in my view, it was the emergence of the classical landlord-capitalist tenant-wage labour structure which made possible the transformation of agricultural production in England, and this, in turn, was the key to England's uniquely successful overall economic development. (Brenner 1976, S.63). Die nun erstmals nachhaltigen und kontinuierlichen Produktivitätsfortschritte ermöglichten nicht nur die stetige Abwanderung von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft, sondern unterstützten auch einen permanent wachsenden Binnenmarkt. Eine wesentliche und stabilisierende Zutat für das industrielle Wachstum in dem krisenhaften Umfeld des 17. Jh.
Brenner betrachtet die Etablierung eines Wettbewerbssystems als wesentlichen Antrieb für die Produktivitätsentwicklung in England. Dieses hätte sich in Frankreich auf Grund des unterschiedlichen Ausgangs der Klassenkämpfe nicht entwickelt. “In other words, the peasant did not have to be competitive, because he did not really have to be able to "hold his place" in the world of the market” (Brenner 1976, S.72). Die Ablöse der Kleinbauern durch die Gutsherrenwirtschaft habe die ökonomische Entwicklung beschleunigt. “Thus, ironically, the most complete freedom and property rights for the rural population meant poverty and a self-perpetuating cycle of backwardness. In England, it was precisely the absence of such rights that facilitated the onset of real economic development.” (Brenner 1976, S.75) Letztlich weist Brenner der landwirtschaftlichen Revolution die zentrale Rolle für die kapitalistische Entwicklung zu: It was indeed, in the last analysis, an agricultural revolution, based on the emergence of capitalist class relations in the countryside which made it possible for England to become the first nation to experience industrialization. (Brenner 1976, S.68)
Es sind bei Brenner also die Auseinandersetzungen zwischen den Klassen die jene sozialen Strukturen schaffen, die dann ein gewisses ökonomisches Regime ermöglichen,“it is the structure of class relations, of class power, which will determine the manner and degree to which particular demographic and commercial changes will affect long-run trends in the distribution of income and economic growth and not vice versa. (Brenner 1976, S. 31)
2. Die Dynamik des Kapitalismus, und somit der Wohlstand der Zentren, beruhen auf der Produktivitätssteigerung der Lohnarbeit und nicht auf der Expansion des ungleichen Welthandels, selbst wenn letztere beschleunigend wirkt
Im Mittelpunkt der Kritik von Brenner steht die Nicht-Berücksichtigung der Innovation, die für Brenner mit der kapitalistischen Akkumulationsdynamik hergeht und einem spezifischen Klassenverhältnis entspringt. Nämlich einem postfeudalen Lohnarbeitsverhältnis. “Wallerstein does not, in the last analysis, take into account the development of the forces of production through a process of accumulation by means of innovation” (Brenner 1977, S.30). Brenner kritisiert, dass die Genese der kapitalistischen Produktivität ausschließlich quantitativ betrachtet wird, wo doch die qualitative Dimension die entscheidende sei. “Wallerstein must end up by sketching a conception of the development of the productive forces which does not really incorporate qualitative advance, specifically by way of the growth of labour productivity. The picture of development which Wallerstein lays out is essentially quantitative.” (Brenner 1977, S.56) Somit würden Wallerstein und Co. den Schlüssel zur wirtschaftlichen Dynamik des Kapitalismus verkennen: “As a result, they failed to focus centrally on the productivity of labour as the essence and key to economic development.” (Brenner 1977, S.91). Brenners Betonung der Produktivitätsentwicklung stellt eindeutig die interne Kapitalkkumulation in den Mittelpunkt.
Die von Wallerstein und Co. ins Zentrum gerückte weltweite Arbeitsteilung sei zwar eine Mitursache der Unterentwicklung, aber die Unterentwicklung ist keine unerlässliche Bedingung für die Dynamik des Kapitalismus. In consequence, they (Wallerstein und Co. Anmk.) move too quickly from the proposition that capitalism is bound up with, and supportive of, continuing underdevelopment in large parts of the world, to the conclusion not only that the rise of underdevelopment is inherent in the extension of the world division of labour through capitalist expansion, but also that the ‘development of underdevelopment’ is an indispensable condition for capitalist development itself. (Brenner 1977, S. 27). Blogger Louis Proyect zieht einen technischen Vergleich. Mit der Entwicklung der Lohnarbeit in England war der Motor der kapitalitischen Maschine geschaffen und lief von selbst. Die zugefügten Ressourcen aus den Kolonien wirkten als Superbenzin und erhöhten die Leistung des Motors. Aber der Motor bestand bereits.
3. Der ungleiche Welthandel verstärkt die Unterentwicklung an der Peripherie, ist aber nicht ihre eigentliche Ursache. Diese ist vielmehr in der spezifischen regionalen Klassenstruktur zu suchen.
Der Welthandel verstärkt und verfestigt für Brenner die Entwicklung der Unterentwicklung und das ökonomische Ungleichgewicht, ist aber nicht deren Ursache. Das macht er am Beispiel Polens (als Teil der osteuropäischen Peripherie) im Spätmittelalter klar: In sum, the growing connection of Poland with the world market—the growing impact of trade—did, in accord with Marx’s generalization,‘facilitate the production of surplus destined for exchange in order to increase the enjoyments, or wealth of the producers (here meant are owners of the products)’. On the other hand, as Marx also theorized, growing production for exchange was ‘incapable by itself of promoting and explaining the transition from one mode to another’. (Brenner 1977, S.70)
Die Unterentwicklung der Peripherie ist vor allem in der dortigen Klassenstruktur begründet. Weil es sich an der Peripherie um Feudal- oder Sklavensysteme handelt, kommt es zu keiner Entwicklung eines kapitalistischen Lohnverhältnisses (freie Lohnarbeit), die laut Brenner die Basis für die kapitalitische Akkumulation darstellt. Die Exportorientierung Osteuropas im Spätmittelalter lag für Brenner somit nicht an der Abhängigkeit vom Primärgüterhandel mit dem Westen, sondern an der eigenen rückständigen Feudalstruktur. Indeed, it would be more correct to state that dependence upon grain exports was a result of backwardness; of the failure of the home market - the terribly reduced purchasing power of the mass of the population, which was the result of the dismal productivity and the vastly unequal distribution of income in agriculture, rooted in the last analysis in the class structure of serfdom. (Brenner 1976, S.60) Wirtschaftliche Rückständigkeit ist für Brenner also nicht das Resultat eines überregionalen ökonomischen Regimes, sondern der regionalen Machtverhältnisse zwischen den Klassen. Dementsprechend beruht wirtschaftliches Wachstum im Kern nicht auf ungleichem Tausch oder Raub (etwa durch Transfer von Mehrwert von der Peripherie ins Zentrum), sondern auf der Entwicklung der Produktivität. Neither development in the core nor underdevelopment in the periphery was determined by surplus transfer. Economic development was a qualitative process, which did not merely involve an accumulation of wealth in general, but was centrally focused on the development of the productivity. (Brenner 1977, S. 67)
Nochmals die drei für mich wesentlichen Brenner-Aussagen zusammengefasst:
1. Die nicht ökonomisch determinierten Klassenverhältnisse bestimmten den Produktionsmodus und nicht umgekehrt
2. Die Dynamik des Kapitalismus, und somit der Wohlstand der Zentren, beruhen auf der Produktivitätssteigerung der Lohnarbeit und nicht auf der Expansion des ungleichen Welthandels, selbst wenn letzterer beschleunigend wirkt
3. Der ungleiche Welthandel verstärkt die Unterentwicklung an der Peripherie, ist aber nicht ihre eigentliche Ursache. Diese ist vielmehr in der spezifischen regionalen Klassenstruktur zu suchen.
II. Wer hat den Wohlstand geschaffen?
So wie ich Marx und Brenner verstehe, leugnen beide einen dynamischen Beitrag der Peripherie zur Entwicklung der Zentren nicht, sehen die Hauptursache für die Entwicklung des Kapitalismus jedoch in der inneren Dynamik der Zentren. Sie stellen die interne Kapitalakkumulation in den Vordergrund. Im Sinne der zuvor gennanten Metapher dergemäß der Kapitalismus der Zentren den Motor und die kolonialen Ressourcen das Superbenzin darstellen, nenne ich diese Sichtweise die Motorenthese. Der Motor fährt auch ohne Kolonialressourcen, die Zuführung derselben machen ihn allerdings schneller. Um nun endlich Farbe zu bekennen deklariere ich mich als Anhänger der Motorenthese und werde begründen wieso.
Der einflussreiche marxistische ökonom Ernest Mandel (1923-1995, führendes Mitglied der IV. Internationale) vertritt Thesen die jener der Dependenztheorie sehr ählich sind. Die enorme Kapitalzufuhr als Folge der kolonialen Raubzüge sei die eigentliche Ursache für die Entstehung des Kapitalismus und die anschließende Industriealisierung. Er nennt in diesem Zusammenhang Zahlen, die das Ausmaß der Ausbeutung der externen Akkumulation dokumentieren sollen. Etliche andere Autor/innen schlagen in eine ähnliche Kerbe, einen guten Überblick für diese Denkrichtung gibt ein ganz kurzes aber sehr kompaktes Posting auf www.politik.de. Schon alleine das verwende Zahlenmaterial steht allerdings auf sehr wackeligen bis abenteuerlichen Beinen, weil es für die Frühzeit natürlich keine angemessenen Wirtschaftsstatistiken gibt. Zwei wesentliche Faktoren für die koloniale Bereicherung Europas werden genannt: Die Ausbeutung von Edelmetallen und die Sklavenarbeit. Dazu möchte ich nun einige eigene Anmerkungen machen:
1. Gold und Silber
Es ist unbestritten, dass das aus Amerika herangeschaffte Gold und Silber positive Wohlstandseffekte für Europa hatte. Allerdings wird dieser Effekt vor allem von ökonomischen Leihen stark überschätzt. Dies liegt daran, dass Gold und Silber automatisch mit Reichtum gleichgesetzt wird. Als Äquivalent von Reichtum oder Wohlstand sind Gold und Silber aber ebenso wertvoll oder wertlos wie Papiergeld. Wieso drucken wir nicht unendlich viel Geld, wenn Geld Wert hat? Weil Geld grundsätzlich neutral, also nur ein Äquivalent für gesellschaftliche Ressourcen ist. Reichtum bestand und besteht nämlich nicht aus Edelmetallen, sondern aus dem volkswirtschaftlichen Reichtum. Sprich aus dem Gebäudebestand, aus Straßen, Maschinen, aus dem technologischen Niveau, der Arbeitskultur etc. Wie die klassische Ökonomie völlig richtig feststellt, kann nur die Arbeit (bei Sraffa Arbeit und Maschinen) Werte schaffen. Silber, Gold, Geld, Salz, Muscheln oder sonstige Währungen der Menschheitsgeschichte können die durch Arbeit geschaffenen Werte nur abbilden. Mehr Silber hat langfristig nicht zu mehr Reichtum geführt, sondern zu einer Entwertung dieses Zahlungsmittels. Die Silberinflation des 16. Jh. war so gewaltig, dass sie ganz Europa und China erfasste. Der Wohlstand Spaniens hat sich meiner Meinung nach also nicht erhöht weil man durch Gold und Silber reicher wurde, sondern aus zwei anderen Gründen:
a) Die eben angenommene Neutralität des Geldes gilt in der langen Frist. Kurzfristig kann eine pure Ausweitung der Geldmenge in gewissen wirtschaftlichen Situationen sehr wohl stimulierende volkswirtschaftliche Effekte haben. Es dauert nämlich eine Zeit bis die Akteur/innen begreifen, dass die Geldmenge ausgeweitet wurde, bzw. dass die Preise steigen. In diesem Zeitraum wo die nominelle Geldmenge für die reale Geldmenge gehalten wird (Geldillusion), können durch höhere volkswirtschaftliche Aktivität auch nachhaltig positive Effekte erreicht werden. Vereinfacht: Akteur X bekommt dank Geldpresse mehr Zahlungsmittel in die Hand und konsumiert diese, worauf Akteurin Y mehr investiert und neue Arbeitskräfte einstellt. Erst danach passen sich die Preise an die neue Geldmenge an, die Volkswirtschaft produziert aber durch den Geldtrick bereits auf höherem Level. Logischerweise werden die Akteur/innen nicht mehr mitspielen, wenn dieser Trick jedes Jahr angewandt wird, daher die Einschränkung auf die kurze Frist. Ich halte es für plausibel, dass die extreme Ausweitung der Silbermenge vor allem zu Beginn stimulierende Effekte auf die spanische und europäische Volkswirtschaft hatte. Einige Kriege dürften auf Basis der Geldillusion finanziert worden sein. Ich glaube nicht, dass die Geldillusion in der Lage war oder ist, ein nachhaltiges Wachstum langfristig zu tragen. Letzteres lässt sich im Spanien der Neuzeit auch nicht beobachten.
b) Gold und Silber sind mehr wert als Papiergeld. Wie alle Edelmetalle können Gold und Silber im (früh)industriellen Prozess verwertet werden. Diese Funktionalität verleiht ihnen Wert, so wie auch andere Rohstoffe von Wert sind. Da beide aber vornehmlich in der Luxusproduktion eingesetzt wurden, war ihre volkswirtschaftliche Produktivität aber stark eingeschränkt. Selbst heute werden nur 12% des gewonnen Goldes in der Industrie (Elektronik, Optik, Medizin) verwendet (vgl. Wikpedia Gold). Der Rest wird zu Schmuck verarbeitet.
2. Sklavenarbeit
Eindeutiger ist die Lage in Bezug auf die Sklavenarbeit. Arbeit schafft definitiv Werte und alle in den Kolonien geschaffenen und nach Spanien transferierten Werte haben den Wohlstand Spaniens mit Sicherheit erhöht. Das sind neben Gold und Silber vor allem Nutzpflanzen, Gewürze, Früchte, Zucker etc. Überdies hat der Handel mit diesen Kolonialwaren dazu geführt, dass Spanien mehr Güter von europäischen Partnern beziehen konnte. Ich gehe davon aus, dass diese Handelsüberschüsse neben der unmittelbaren Geldillusion die wichtigste Finanzquelle für spanische Kriege waren. Von Nöten wären nun einige Daten um das Ausmaß der kolonialen Wohlstandsförderung abzuschätzen. Etwa der Warenkorb eines spanischen Durchschnittshaushaltes im 16. Jh. Wie viel Prozent dieses Warenkorbs bestünde aus Kolonialwaren? Hier muss ich mutmaßen uns sage, der Anteil ist extrem gering (Wenn er auch bei einer extrem kleinen Elite beachtlich gewesen sein mag). Ich glaube, dass die Masse des spanischen Volkes die Nahrungsmittel, die Baumaterialien für die Behausung oder die Textilien aus Spanien oder maximal von den europäischen Handelspartnern bezog. Ich glaube koloniale Ressourcen dienten nicht dem Massenwohlstand sondern eher der Luxusproduktion. Zusammenfassend scheinen mir vier positive Effekte des Kolonialhandels(raubzugs) plausibel:
• Die Geldillusion als Folge der Ausweitung von Gold und Silber dürft zumindest bis zur großen Silberinflation positive Impulse auf das spanische Wachstum gehabt haben und eine wichtige Finanzquelle für die Kriegsführung gewesen sein.
• Gold und Silber haben als Edelmetall gewisse Verwendungsmöglichkeiten, allerdings vorwiegend im wenig produktiven Luxusbereich
• Die anderen von Spanien bezogenen Ressourcen erhöhten den spanischen Wohlstand, davon profitierte allerdings vorwiegend eine kleine Elite
• Die Überschüsse aus dem Verkauf von Kolonialwaren an europäische Partner sind evident, diese Ressourcen dürften allerdings ebenfalls zu beachtlichen Teilen für Kriegs- oder Luxusproduktion verwendet worden sein.
Conclusio
Dass Spanien im Gegensatz zu England seine Überschüsse für Krieg und Luxus verwendete (Bau von Prunkstädten wie Toldeo, Kriege Karl V. gegen Frankreich und das osmanische Reich) anstatt sie volkswirtschaftlich sinnvoll zu investieren, ist letztlich ein Beweis für die “Motorenthese”. Wenn der Motor der kapitalistischen Maschine nicht vorhanden ist, helfen auch koloniale Ressourcen nichts. Die Industrialisierung, der wirklich epochemachende Schritt Richtung Wohlstand, fand 200 Jahre später in England statt. Spanien verlor seine Rolle als Weltmacht. Europa wurde meiner Meinung nach reicher durch die Ressourcenzufuhr aus den Kolonien, der jedoch entscheidende industrielle Reichtum ist aber weitgehend unabhängig von Kolonialressourcen. Auch ohne Entdeckung Amerikas wäre der Kapitalismus in England entstanden. Mit wahrscheinlich deutlich schwächerer Dynamik
3. Welches Gewicht hatte der Kolonialhandel für den Wohlstand der Kolonialmächte?
Springen wir nun ins Deutschland des Jahres 1900 und schauen wir was die damalige deutsche Sozialdemokratie zum Thema Kolonien zu sagen hatte. Der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Eduard Bernstein (ein Befürworter des Kolonialismus) betont, dass die Rolle der Kolonien nicht überschätzt werden darf. Viel stärker als die Expansion des Welthandels in die Peripherie würde sich die Intensivierung des Handels im industrialisierten Kern auswirken. “In der Handelsstatistik der großen Industrieländer spielt der Export in die alten, längst besetzten Länder bei Weitem die größte Rolle. England exportiert nach ganz Australasien (sämtliche australische Kolonien, Neuseeland &c.) noch nicht so viel an Werth, wie nach dem einen Frankreich; nach ganz Britisch Nordamerika (Kanada, Britisch Kolumbia &c.) noch nicht so viel wie allein nach Rußland; nach beiden Kolonialgebieten zusammen, die doch auch schon ein respektables Alter haben, noch nicht so viel wie nach Deutschland. Sein Außenhandel mit allen seinen Kolonien, das ganze ungeheure indische Reich eingeschlossen, macht noch nicht ein Drittel seines Handels mit der übrigen Welt aus (…) Die extensive Erweiterung des Weltmarkts vollzieht sich viel zu langsam, um der faktischen Produktionssteigerung genügenden Abfluß zu gewähren, wenn eben nicht die schon früher einbezogenen Länder ihr einen immer größeren Markt darböten.” (Bernstein 1899, S. 21-22)
Auch heute noch ist es so, dass trotz aller Globalisierung große Volkswirtschaften wie Europa oder die USA rund 80% ihrer Wirtschaftsleistung intern umsetzen und somit tendenziell geschlossene Volkswirtschaften sind. Der Import an Waren (ohne Dienstleistungen) in die EU machte 2008 nur 12,5 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung (BIP) aus (Eurostat und eigene Berechnungen). Die größten Handelspartner waren in diesem Jahr übrigens die USA, gefolgt von China und Russland, alles keine klassischen Entwicklungsländer. Natürlich ist in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt, dass die Importe aus Entwicklungsländern oft zu unfairen Dumpingpreisen eingekauft werden. Wieder fehlt mir ein entscheidendes empirisches Element, nämlich ein gerechter Preisdeflator. Also ein Deflator mit dem alle Preise von günstigen Produkten aus der Peripherie so ausgewiesen werden, als würden sie in Europa hergestellt. Dann hätte man Kostenwahrheit bei den Importen. Aus Mangel an empirischen Material mutmaße ich wieder. Ich sage, die Preise der Importgüter würden sich im Falle plötzlicher Autarike deutlich, aber nicht drastisch erhöhen. Nicht zuletzt weil sie in wesentlich Sektoren wie Energie (Öl, Gas) sowieso sehr hoch sind. Die hohe Produktivität und der gewaltige Technologieeinsatz mit dem Europa die verlorengegangenen Waren im Falle der Autarkie produzierte, würden die Preissteigerungen meiner Meinung nach unter 100% halten. Allerdings nur in dem von der Autarkie betroffenen Importsektor. Dessen mit Abstand größter Brocken ist der Warenhandel, der nur 12,5 Prozent des BIP ausmacht. Eine Preisverdoppelung in diesem übschaubaren Segment wäre ein schwerer Schlag, aber nicht das Ende der Geschichte. Genauer werde ich dieses Gedankenexperiment aber im kommenden Kapitel ausführen.
Noch weiter ging Karl Kaustky, Chefideologie der SPD und Gegner des Kolonialismus. Mit statistischen Aufschlüsselungen über die Ausweitung der Eisenbahnkilometer belegt Kautsky beeindruckend, dass die Ausdehnung des Weltmarkts und der Produktion NICHT in den Kolonien, sondern im Zentrum stattgefunden hat. Das Wachstum der auswärtigen Märkte und der Produktion fielen nur zufällig mit der Periode des Imperialismus zusammen. Die große Popularität der Kolonien bei der Bourgeoise sei dementsprechend ungerechtfertigt. Die Kolonialabenteuer hängen gemäß Kautsky eng mit den enormen Militärausausgaben zusammen. Die Kosten für die Überseekriege würden die Erträge sogar bei weitem übertreffen. Kautsky sagt also, dass sich Kolonien wegen der administrativen und militärischen Kosten wirtschaftlich gar nicht rentierten, im Gegenteil. (Kautsky 1909, S. 76-77). Ähnlich argumentiert Bernstein die britischen Kolonien betreffend: Nun kann man es gewiß als sehr zweifelhaft bezeichnen, ob das englische Volk in seiner Masse von der Herrschaft Englands über Indien wirtschaftlichen Vorteil hat. Nach meiner Ansicht ist das Gegenteil der Fall, und schon aus diesem Grunde würde ich, wenn ich Engländer wäre, alle Bestrebungen unterstützen, die auf Herbeiführung der Selbstregierung der indischen Völkerschaften abzielen.” (Bernstein 1907, keine Seitenangabe) . Bernstein und Kautsky sehen den wirtschaftlichen Beitrag der Kolonien als Nebenerscheinung und versuchen damit auch der damaligen Euphorie der bürgerlichen Schichten für die koloniale Expansion entgegenzuwirken. Wie Marx und Brenner betonen beide die Dynamik in den Zentren und stützen meiner Meinung nach die Motorenthese.
4. Wer hat den Wohlstand geschaffen?
So weit wie Kautsky und Bernstein, die Kolonien als wirtschaftliches Verlustgeschäft darzustellen, möchte ich gar nicht gehen. Ich glaube schon, dass Europa von den Kolonien merklich profitiert hat. Vor allem für die letzten Jahrzehnte der Globalisierung, wo man ohne die Kosten einer Kolonialverwaltung die Peripherie ausbeuten konnte, liegt völlig auf der Hand dass auch (!) andere für unseren Wohlstand gearbeitet haben und noch immer arbeiten. Doch wenn der Beitrag der Kolonien zur wirtschaftlichen Entwicklung nicht so groß war wie das oft angenommen wird stellt sich eine einfache Frage: Wer hat den Wohlstand in Europa geschaffen? Wer hat die Städte und Straßen errichtet, die Kanalsysteme, die Wasserleitungen (Wiener Hochquellwasser), die Eisenbahn- und U-Bahnnetze? Wer hat die Flüsse reguliert, die Spitäler und Schulen gebaut und die Landwirtschaft technologisiert? Wer hat die Fabriken gebaut, die Autos, Waschmaschinen und Radios produziert und die Maschinen hergestellt um Autos, Waschmaschinen und Radios herzustellen? Wer hat das Eisen am Erzberg abgebaut, in Linz zu Stahl gegossen und in den zahlreichen Betrieben der Metallindustrie veredelt? Wer hat die Kohle aus den Tiefen des Ruhrgebiets geholt, die dazu notwendig war? Meine Antwort ist klar: Es waren die arbeitenden Menschen in Europa. Und zwar weitgehend unabhängig davon, was 90% aller Menschen in Indien, China oder Afrika in diesem Zeitraum gemacht haben. Ich glaube, um es auf den Punkt zu bringen, dass unser Wohlstand in erster Linie das Resultat der Mühen mehrerer Generationen arbeitender Menschen in Europa ist. Oder etwas pathetischer, in der sozialistischen Phraseologie des 19. Jh.: Den europäischen Wohlstand haben der europäische Bauer und die europäische Arbeiterin geschaffen. Selbstverständlich unter kapitalistischer Anleitung. Die technischen und organisatorischen Innovationen sind ein direktes Resultat des unternehmerischen Wettbewerbs. Verrichtet haben die Arbeit aber logischerweise die arbeitenden Menschen.
Es besteht kein Zweifel daran, dass der kapitalistischen Maschine immer wieder Superbenzin zugefügt wurde. Nicht nur Ressourcen aus den Kolonien, auch beispielsweise der Marschallplan war für Europa eine extrem wertvolle ökonomische Injektion. Aber Kredite alleine sind noch keine Garantie für Wohlstand. Die eigentliche Leistung besteht letztlich darin, diese kreditbasierte Injektion auch zu verwerten. Die politisch oft vereinnahmte Aufbaugeneration hat zwar den Krieg geführt der alles zerstörte, sie hat aber im Anschluss zweifellos die Leistung des Wiederaufbaus vollbracht. Ohne Sklaven und ohne Migration, mit ihren eigenen Händen. Erst als das Werkel so gut lief, dass Arbeitskräftemangel herrschte, begann man Migrant/innnen ins Land zu holen. Auf die Frage unter welchen inneren und äußeren Bedingungen einige Regionen der Welt die Chance der Industrialisierung ergreifen können und unter welchen nicht, also was letztlich die Determinanten des Wachstums sind, werde ich in Kapitel IV eingehen.
5. Conclucio
Meine Schlussfolgerungen waren für meine lateinamerikanischen Freund/innen ein kleiner Schock, denn sie kratzen an den politischen Vorstellungen, wenn nicht an der politischen Identität vieler denkender Menschen in Lateinamerika. Trotzdem bin ich von folgendem überzeugt: Sie müssten nicht arm sein, damit wir reich sind. Oder anders ausgedruckt: Wir bräuchten das globale Ungleichgewicht für unseres Wohlstand gar nicht. Wir wären ohne den Rest der Welt nicht so reich wie wir heute sind, aber wir wären trotzdem recht wohlhandend. Hätte ich die Daten würde ich folgende Rechnung für England anstellen: Von der Summe aller Importe aus der Peripherie 1600 - 2000 (Durchschnitt über 400 Jahre gemessen am BIP) würde ich die Summe aller Militär- und Administrationsausgaben (am BIP) für die Kolonien abziehen. Damit ergäbe sich ein langjähriger Überschuss aus der Kolonialproduktion gemessen am BIP. Beträgt dieser z.b. 10%, würde ich vom kumulierten britischen Wachstum 1600-2000 genau 10 Prozent abziehen. Diese Daten existieren nicht einmal, stattdessen will ich aber ein einfaches Gedankenbild anbieten: Wäre Europa niemals in die Welt gesegelt, wir wären heute vielleicht so wohlhanbend wie 1970. Oder 1980, oder 1960. Um den Motor zum Laufen zu bringen wäre die Ausbeutung der Peripherie nie von Nöten gewesen. Die Kolonialressourcen haben die Maschine mit Superbenzin gefüttert und die Entwicklung beschleunigt. Unter diesen Gesichtspunkten ist es moralisch besonders pervers, das globale ökonomische Herrschaftsregime aufrecht zu erhalten. Wir beziehen nicht das Brot aus der dritten Welt, sondern die Butter. Das ist pure Dekadenz.
III. Gedankenexperiment: Europäische Autarkie
Um wirklich abzuschätzen ob wir reich sind weil sie arm sind, muss man sich einem umfassenden Gedankenexperiment hingeben. Ich versuche dieses möglichst vollständig, logisch und schlüssig darzustellen, sage aber gleich dass der Mangel an empirischem Unterefutter seine entscheidende Schwäche ist. Wenn wir reich sind weil sie arm sind, müssten wir auf uns allein gestellt logischerweise verarmen. Daher möchte ich skizzieren was passieren würde, wenn Europa ab sofort von jeder Interaktion mit der Außenwelt abgeschnitten wäre. Sprich, im Falle absoluter Autarkie. Nochmals betone ich, dass die drei größten Handelspartner der EU keine klassischen Entwicklungsländer, sondern die USA, gefolgt von China und Russland sind. Das bedeutet im Falle von Autarkie müsste man in erster Linie Produkte aus diesen Staaten ersetzen. Um keinerlei Zweifel aufkommen zu lassen, möchte ich aber ein Szenario vollständiger Autarkie durchspielen.
Was passiert also wenn Europa morgen von der Außenwelt abgeschnitten würde? Die Exportindustrie müsste sich wegen des Verschwindens ihrer Märkte völlig umorientieren. Wesentlich entscheidender ist aber der Wegfall aller Importe. Das betrifft meiner Meinung nach folgende Sektoren, die ich in Folge einzeln abhandeln möchte:
- Energieträger (Öl, Gas etc.)
- landwirtschaftliche Produkte (Früchte, Soja etc.)
- Rohstoffe (vor allem Metalle)
- einfache Fertigprodukte (Textilien, Spielzeug etc.)
- technologische Halbfertigprodukte (Bestanteile für Autos, Maschinen, Elektronik etc.)
Im Fremdenverkehr sehe ich übrigens keine Probleme, weil der Massentourismus am Mittelmeer und in den Alpen primär ein europäischer Binnentourismus ist.
1. Energieträger
Ein wunder Punkt der europäischen Volkswirtschaft sind die Energieträger. Erdöl und Gas importieren wir in großen Mengen, beides schlagartig zu ersetzen wurde bedeuten, eine grüne Revolution in ein paar wenigen Jahren umzusetzen. Energieautarkie ist kurz- wie mittelfristig schlicht unmöglich. Damit bekommt mein Experiment eine wesentliche Einschränkung: Der Import von Energie muß für mindestens zwei Dekaden aufrecht erhalten werden. Allerdings stört diese Einschränkung meine Grundthese nicht. Der Energiesektor ist nämlich der einzige Bereich, in dem Kostenwahrheit, wenn nicht Überteuerung vorherrscht. Ich spreche hier nicht von ökologischer, sondern von ökonomischer Kostenwahrheit. Also von jenen Kosten die im Falle einer Energieförderung in Europa entstehen würden. Wir zahlen also jetzt schon mindestens faire Preise, sowohl das russische Gas, als auch das arabische Öl sind nicht gerade umsonst. Da wir uns also im Energiebereich nicht auf Kosten anderer Volkswirtschaften bereichern, können wir diesen Sektor aus dem Autarkiemodell ohne Probleme ausklammern. Dass sich grauenhafte Diktaturen wie die saudische durch den Energiehandel finanzieren, ist vielmehr eine politische Frage, aber keine primär ökonomische. Der Imperialismus ist ein politisches Modell, das älter ist als als der Kapitalismus, selbigen überleben wird und im Realsozialismus mindestens genauso ausgeprägt war.
2. Landwirtschaft
Es ist völlig unbestritten, dass viele landwirtschaftliche Produkte aus den Ländern des Südens kommen. Doch es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass die europäischen Konsument/innen auf selbige angewiesen sind. Europa kann sich mit den vorhandenen Kapazitäten spielend selbst ernähren. Erinnern wir uns an die Butterberge und Milchseen, als Auswüchse der landwirtschaftlichen Überproduktion. Denken wir daran, dass die Staaten Landwirte subventionieren, die Flächen nicht bewirtschaften. Überdies ist die Agrarpolitik der EU nach wie vor stark auf den Schutz der heimischen Landwirtschaft ausgerichtet. Es wird politisch also eher versucht sich abzuschoten, günstige Produkte aus der dritten Welt zu beziehen. Darüber hinaus trägt die Landwirtschaft in Westeuropa nur minimale 1-2 Prozent zur Wertschöpfung bei, ebenso gering ist die Anzahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft. Die Ausgaben für Lebensmittel betragen in Österreich nur 11 Prozent des verfügbaren Einkommens der Menschen (1950 übrigens noch 45%) . Eine völlige Abschotung vom Weltmarkt hätte meiner Einschätzung nach im Bereich Landwirtschaft fünf Effekte:
a) Ein Rückgang der exotischen Produkte (Bananen, Kokosmilch etc.) zu Gunsten genuin europäischer Produkte
b) Ein dezenter Anstieg der landwirtschaftlichen Nutzflächen (auch Glashäuser etc.) auf Kosten des Waldes was kein Problem darstellt, weil der Trend der letzten Jahre genau umgekehrt war.
c) Ein dezenter Anstieg der landwirtschaftlichen Beschäftigung und Wertschöfpung um ein paar zehntel Prozentpunkte
d) Ein Preisanstieg von einigen zig Prozent, sowie ein entsprechender Anstieg der Lebensmittelausgaben am Gesamteinkommen um einige wenige Prozentpunkte. Ein Trend, den die Sozialpolitik für jene Einkommensgruppen die das stark spüren auffangen müsste.
e) Eine Kürzung der Agrarsubventionen, weil die europäischen Bauern ohne Konkurrenz von außen Preise setzen werden, von denen sie leben können. Die frei gewordenen Mittel könnten einen Teil des zuvor genannten Lebensmittel-Sozialprogramms abdecken.
Faktum ist, die Landwirtschaft wäre kurzfristig ein wichtiges, aber mittelfristig kein großes Problem für Europa.
3. Simple Fertigprodukte
Im Bereich der simplen Fertigprodukte mach ich mir am wenigsten Sorgen. Wenn man für einen Nikeschuh aus Südostasien jetzt schon 100 Euro zahlt, dann wird man diesen wohl leicht in Europa herstellen können. Einziger Unterschied: Da die europäischen Arbeiter/innen in der Produktion ein vernünftiges Gehalt verdienten, würde die enorme Profitmarge für den Konzern schlagartig reduziert. Außerdem fielen die Transportkosten um die halbe Welt weg. Klar ist, dass die Nachfrage nach Beschäftigten in klassischen Arbeiterberufen wie der Texilindustire wieder ansteigen würde. Was passiert derzeit mit den Profiten von Nike und Co.? Ich habe natürlich keine Zahlen, nehme aber an, dass sie zum Teil in den Sektor der Finanzindustrie fließen und zum Teil in die Luxusartikelbranche. Der Gedankte, dass diese Sektoren ein bisschen weniger gefüttert würden macht mich nicht unfassbar traurig.
4. Technologische Halbfertigprodukte
Im Bereich der technologischen Halbfertigprodukte (Autoteile, Elektrobestanteile) kann man wegen des hohen technologischen Niveaus in Europa alles leicht ersetzen, es wird jedoch merkliche Preisanstiege geben. Umso näher eine Industrie am Konsumenten, umso eher ist es möglich mittels Marketing irrwitzige Preise zu verlangen (siehe Nike). Unternehmen die Produkte von einer Zwischenindustrie beziehen sind weniger dumm, die zahlen nicht mehr als ihre Einkäufe wert sind. Ich nehme an die Verlagerung der Halbfertigindustrie würde zu einem großen Preisanstieg führen, weil die Produktion in China wirklich wesentlich billiger ist und die Verlagerung nach Europa nicht durch eine simple Kürzung der Gewinne – wie bei der Textilindustire – abgefedert werden könnte. Die Gewinnmargen für Autoteile sind einfach nicht so hoch wie beim Nikeschuh. Der enorme Druck dürfte wohl kurzfritig zu einigen technologischen Innovationen führen, trotzdem würde dieser Sektor eine deutlich höhere Nachfrage nach Arbeitskraft generieren als die anderen genannten Sektoren und wegen der merklich höheren Preise einer Produktion in Europa einiges vom aktuellen europäischen Wohlstand auffressen.
5. Rohstoffe
Bezüglich Rohstoffen habe ich nach meinem bescheidenen Wissen und einer Grobrecherche im Internet einen oberflächlichen Überblick. Was ich jetzt schon sagen kann, dieser Bereich wäre der heikelste, wenn es zu einer Autarkie Europas käme. Folgende Rohstoffkategorien lassen sich unterscheiden:
- Energierohstoffe (habe ich bereits abgehandelt)
- Bau- und Keramikrohstoffe (Schotter, Kies etc.) sind in Europa zur Genüge vorhanden
- Chemische Rohstoffe (Kalk, Salz etc.) ebenso
- Metallrohstoffe sind der heikle Punkt
Zu den Metallrohstoffen ein paar Fakten:
- Eisenerz: Die bedeutendsten Eisenerzlieferanten waren 2009 China (588 Millionen Tonnen), Brasilien, Australien, Indien und Russland. (zusammen Anteil von 82% an Weltförderung). Schweden folgt auf Platz 10 als erstes europäisches Land, mit 23 Millionen Tonnen.
- Aluminium: Die bedeutendsten Förderländer für Bauxit (Grundstoff für Aluminium) waren 2008 Australien (63 Millionen Tonnen), China, Brasilien, Guinea, Jamaika und Indien. Kamerun. Griechenland folgt auf Platz 10 mit 2 Millionen Tonnen.
- Kupfer: Je etwa 20% der heutigen Weltvorräte an Kupfererzen liegen in Afrika, in Südamerika und in den USA. Im Jahre 2009 war mit großem Abstand Chile (5,32 Millionen Tonnen) das bedeutendste kupfererzfördernde Land, gefolgt von Peru, den USA, China und Indonesien. Polen folgt auf Platz 10 mit 440.000 Tonnen.
Für Wolfram, Zink, Blei und Zinn ergeben sich quasi identische Daten. Viele europäische Standorte sind bereits ausgebeutet, so etwa der Erzberg, dessen Vorräte 2020 zu Ende gehen werden. Der Metallrohstoffsektor ist ganz offensichtlich der heikelste, weil ein Äquivalent zur viel versprechenden grünen Revolution im Energiebereich gar nicht existiert. Ich glaube es käme im Falle von Autarkie zu drei wesentlichen Veränderungen, die ziemlich hohe volkswirtschaftliche Kosten hätten:
- Wiederauferstehung der wegen Unwirtschaftlichkeit geschlossenen europäischen Rohstoffförderung, soweit diese noch nicht völlig ausgbeutet ist.
- Massives Wachstum der Recyclingindustrie und der Forschung in diesem Bereich. Ob Rohstoffautarkie in Europa möglich ist hängt wohl zu einem großen Teil von den Möglichkeiten des Recyclings ab. Das Potential kann ich technisch nicht einschätzen
- Große Forschungskonzentration auf die Rohstoffsubstitution, um mit den vorhandenen Ressourcen fehlende zu ersetzen.
Die Rohstoffe sind mein schwächstes Glied in der Kette, weil ich ihre Ersetzbarkeit nicht einschätzen kann. Klar ist nur eines: Falls es möglich ist wird es teuer, weil Rohstoffe nicht von Kosument/innen, sondern von Firmen gekauft werden, die sich nicht durch Werbung manipulieren lassen. Sprich, alleine mit einer Reduktion der Marge für den Hersteller (siehe Nike), kann ich das Problem nicht lösen. Die wieder enstehende Arbeiterschaft im Ruhrgebiet und in Mittelengland würde wohl etwas hohere Löhne und Arbeitsstandards verlangen, als die armen Schweine in den chinesischen oder russischen Minen. Gleichzeitig bräuchte man beachtliche Ressourcen für die Recycling- und Rohstoffsubstitutionsindustrie.
Zusammenfassend halte ich die Energieträger für langfristig ersetzbar, die in Europa vorhandenen Metallrohstoffe allerdings für tendenziell unausreichend. In allen anderen Sektoren glaube ich, dass Europa nach einem großen schmerzlichen Kraftaufwand von rund einem Jahrzehnt wieder stabile ökonomische Strukutren entwickelt hätte. Vielleicht auf einem etwas niedrigeren Wohlstandsniveau als vor der Autarkieumstellung. Wie stark das die Menschen spüren würde aber zu einem großen Grad an der politischen Lenkung liegen, die in dieser Umbauphase unerlässlich wäre. Was wäre dazu notwenig?
1. Schaffung von Arbeitskraft
Ganz offensichtlich würde in allen fünf Sektoren (Landwirtschaft, Rohstoff-, Energie-, Fertig-, und Halbfertigindustrie) eine massive Nachfrage nach Arbeitskräften entstehen. Große Teile des ausgelagerten Proletariats würden wieder in Europa gebraucht. Hier dürfte natürlich helfen, dass etliche Ressourcen die derzeit für die Exportindustrie aufgewendet werden nun frei wären. Diese Arbeitskräfte werden aber nicht genügen. Darüber hinaus ein paar naheliegende Maßnahmen:
- Reduktion der Arbeitslosigkeit auf Null
- Erhöhung der Arbeitszeit auf (Hausnummer) 45 Wochenstunden
- Arbeiten bis 65 für Frauen und Männer ohne Umgehungsmöglichkeit
- Angleichung der Frauenerwerbsquote an jene der Männer
- Akzeptanz einer massiven Arbeitsmigrationswelle
2. Umschichtung von sinnlosen in sinnvolle Sektoren
Die europäische Politik müsste massiv intervenieren, um eine gewisse Prioritätensetzung zu gewährleisten. Bei knappen Mittel würde eine Aufrechterhaltung einer aufwendigen Kosmetikindustrie bedeuten, dass sich zwar die Wohlhabenderen Komsmetikartikel leisten können, gleichzeitig aber Defizite in der Grundversorgung für weniger Wohlhabende zu Tage treten dürften. Das bedeutet man müsste auf Basis einer “normativen Liste” das Marktgeschehen in gewisse Bahnen leiten. Kosmetik- Finanz- Luxusgüterindustrie und Konsorten müssten mit gewaltigen Besteuerungen und gesetzlichen Einschränkungen auf ein absolutes Minimum reduziert werden. Die ehemals ausgelagerten und nun zurückkehrenden Industrien (Textil, Halbfertigindustrie etc.) müssten dagenen von Seiten des Staates mit günstige Bedinungen rechnen können. Im Rohstoffsektor wäre sogar ein unmittelbares staatliches Engagement denkbar.
3. Exportsperre
Die europäische Politik müsste natürlich mittels Intervention die Exporte auf ein Minimum einschränken. Das heißt ein enormes, staatlich begleitetes Zurückfahren jener Kapazitäten, in denen Europa im Export stark ist. Also z.B. Autos. Es dürfte nicht mehr exportiert werden als um jene Defizite in der Zahlungsbilanz auszugleichen, die durch die Energieimporte entstünden.
Ich glaube, dass das Wohlstandsniveau der europäischen Durchschnittsfamilie nach zehn Jahren wieder hergestellt wäre. Allerdings bei höherer Arbeitszeit. Für die oberen Mittelschichten und die Oberschichten würden – bei gezielter politischer Steuerung – einige Annehmlichkeiten wegfallen. Hausangestellte und besondere Dienstleistungen (Gartendesigner, Wellnesstrainer etc.) dürften wegen der hohen Steuerbelastung unleistbar, Luxusartikel nur noch begrenzt verfügbar werden. Das Durchschnittsniveau der restlichen Haushalte könnte nur bei massivem Fokus auf Verteilungsfragen aufrecht erhalten werden. Wenn es die Eliten schaffen wesentliche Teile der Beschäftigten in unproduktiven Sektoren zu halten die nur der Elite nützen (Golfplatzwart, Luxusrestaurantplatzzuweiser etc.), wird die Wohlstandreduktion die Mittel- und Unterschichten stark treffen. Wegen der enormen Nachfrage nach Arbeitskräften und einer langen Phase permanenter Vollbeschäftigung ist es aber sehr wahrscheinlich, dass die Unter- und Mittelschichten viele Verteilungskämpfe für sich gewinnen könnten.
Ein autarkes Europa wäre extrem interessant, weil es Kostenwahrheit schaffen würde. Und zwar gemessen in Arbeitskraft. Wie viel und welche Form der Arbeitskraft braucht man wirklich, um ein europäisches Wohlstandsniveau aufrecht erhalten zu können. Ohne Schummeln mittels Auslagerung und Ausbeutung. Ich würde Daumen mal Pi schätzen, dass man bei kluger politischer Intervention einen Anstieg der gesamten volkswirtschaftlichen Arbeitsstunden um 20-30% schaffen kann. Innerhalb von zehn Jahren könnte man wieder 80-90% des ursprünglichen Wohlstandsniveaus erreichen. Das bedeutet bei geschickter Verteilungspolitik für die Durchschnittshaushalte einen absoluten Wohlstandsverlust von Null. Relativ gesehen würde Europa natürlich – vor allem gegenüber den USA – deutlich zurückfallen.
IV. Meine Sicht: eine historisch-endogene Betrachtungsweise
Völlig richtig sagt Wallerstein, dass wenn man soziale Phänomene untersuchen möchte, gelte es, zuallererst diese in den historischen Kontext einzubetten: „one cannot analyze social phenomena unless one bounds them in space and time.“ Die historische Betrachtungsweise muss nicht die einzige Methode sein, aber sozialwissenschaftliche Paradigmen die selbige ausblenden, verzichten auf eine wesentliche, wenn nicht die entscheidende empirische Quelle. Damit manövrieren sie sich an den Rand der spekulativen Prophezeihung. Die Geschichte ist die Mutter aller Sozialwissenschaften. Und weil seriöse Marxist/innen diesen Grundsatz ernster nehmen als Vertreter/innen anderer Paradigmen, greife ich als Nicht-Marxisit in dieser Diskussion in erster Linie auf marxistische Quellen zurück. Die Modernisierungstheorie hat gute Argumente. Doch wäre sie weniger ahistorisch, so müsste sie einige davon massiv in Frage stellen und stark modifizieren. Weil es eine Geschichte und komlizierte pfadabhängigie Entwicklungen gibt und weil nicht alle Staaten jeden Tag aufs neue in einer neutralen Black Box starten, können nicht nur innere Faktoren die ökonomische Verfasstheit einer Gesellschaft bestimmen. Nicht zuletzt werden die inneren Faktoren von den äußeren massiv beeinflusst. Ein Muli der mit Millionen Dollar auf politische Entscheidungen in einem Entwicklungsland Einfluss nehmen will nützt nicht nur vorhandene Korruption, er verursacht auch neue.
Wo ich der Modernisierungstheorie aber trotzdem zustimme ist, dass die inneren Faktoren letztlich etwas ausschlaggebender sind als die externen. Darum bekenne ich mich als Vertreter endogener Entwicklungstheorien. Gleichzeitig möchte ich aber die wichtige historische Dimension nicht ausblenden, weshalb ich meinen Zugang als historisch-endogen bezeichnen würde. Ich habe versucht die für mich relevanten Einflussfaktoren zu strukturieren und komme auf sechs wesentliche Determinanten für die wirtschaftliche Entwicklung, die alle bis zu einem gewissen Grad selbst miteinander zuammenhängen. Vier sind interne Faktoren, zwei sind externer Natur. Diese Determinanten werde ich nun einzeln unter die Lupe nehmen.
• Die Struktur der sozialen Klassen
• Regionale kulturelle Spezifika
• Tradition und Moderne
• Bürgerlichen Rechte & Freiheiten
• Die Position im globalen Wirtschaftsgeflecht
• Die außenpolitische Situation
1. Die Struktur der sozialen Klassen
Ich muss zugeben, Brenner hat mich mit seinem Pochen auf die Relevanz der Klassenstrukturen weitgehend überzeugt. Ganz vereinfacht gesagt glaube ich, dass sich in den Zentren das liberale Bürgertum im 18. und 19. Jh. völlig vom Adel und seiner Feudalstruktur befreit hat, was den Weg für eine moderne, postfeudale kapitalistische Gesellschaft bereitete. David Ricardo und seine Verbündeten im Kampf für den Freihandel haben sich gegen den Großgrundbesitz duchgesetzt. Die ökonomisch wenig produktivie Grundrente wurde durch den Profit ersetzt, der bei entsprechender Reinvestition (in Marx Diktion Akkumulation) hohe volkswirtschaftliche Renditen abwirft.
Die exportorientierte Peripherie der Welt des Jahres 2010 wird letztlich noch von einer dem Adel nicht unähnlichen Oligarchie von Großgrund- und Rohstoffbesitzern beherrscht, oder zumindest stark geprägt. Von dieser sozialen Klasse und ihrer antiquierten Wirtschaftsstruktur muss man sich befreien. Ökonomien mit teilfeudaler Prägung wie dies bei der lateinamerikanischen Exportindustrie punkto Rohstoffen und landwirtschaftlichen Produkten der Fall ist, werden immer rückständige Zulieferer bleiben. Insofern hat Brenner recht wenn er darauf hinweist, dass die Klassenstruktur eine (oder die?) wesentliche Determinante für die ökonomische Entwicklung ist. Es ist heute, wo die US-gestützten Diktaturen in Lateinamerika Vergangenheit sind nicht primär der Westen, der Lateinamerika zum Exporteur von Billigprodukten degradiert, obwohl er vom globalen Ungleichgewicht zweifellos profitiert und selbiges politisch aktiv aufrecht erhält. Trotzdem ist es primär die spezifische, halbfeudale lateinamerikanische Klassenstruktur, die Unterdrückung verursacht. Auch wenn sich diese Ausbeuterklasse durch die Nachfrage aus dem Westen finanziert. Genauer habe ich diese Gedanken in einem Blogartikel zur argentinischen Wirtschaft dargelegt.
2. Regionale kulturelle Spezifika
Gewisse historisch gewachsene institutionelle Pfadabhängigkeiten bilden im Laufe der Zeit regional unterschiedliche kulturelle Muster heraus, die eventuell unter dem Begriff Mentalität subsumiert werden können. Dabei geht es um keine völkerpsychologischen Analysen, niemandem liegen kulturelle Charakteristika im Blut. Mentalität betrifft auch nie alle Mitglieder einer Gesellschaft gleichermaßen, überdies ist sie prinzipiell wandlungsfähig. Trotz ihres Charakters als gewachsene und veränderbare Konstruktionen, erweisen sich regionale kulturelle Muster oftmals als recht stabil.
Ich glaube es gibt schlicht und ergreifend regional herausgebildete kulturelle Muster die besser, und welche die weniger gut mit der kapitalistischen Produktionsweise harmonieren. In Japan und den Tigerstaaten (Taiwan, Südkorea, Hongkong und Singapur) zeigte sich, dass die kollektivistischen Gesellschaftsstrukturen und die vorherrschende Disziplin für die kapitalistische Massenproduktion gut adaptierbar waren. Nordkorea beweist wiederum, dass eine spezifische politische Situation die kulturellen Voraussetzungen ausstechen kann. Ein anderes Beispiel sind die USA. Ihr Aufstieg von einer britischen Kolonie zur führenden Weltmacht ist mit der Weltsystemtheorie nur schwer erklärbar. Vor allem vor dem Hintergrund, dass die ebenfalls um 1800 unabhängig gewordenen spanischen Kolonien in Lateinamerika eine ganz andere Entwicklung nahmen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass neben klassenspezifischen oder geopolitischen auch regionale kulturelle Ursachen eine wesentliche Rolle bei der ökonomischen Entwicklung spielen. Max Webers protestantische Ethik – diese charakterisiert letztlich eine sozioökonomische Grundeinstellung mit starker Verbreitung in Nordwesteuropa – ist in diesem Zusammenhang beispielsweise ein interessanter Erklärungsversuch für die Entstehung des Kapitalismus. Vor allem auch in Abgrenzung zum geldkritischen Katholizismus Südeuropas.
3. Tradition und Moderne
Dieses Argument übernehme ich im wesentlichen von der Modernisierungstheorie. Ich glaube, dass ein Gegensatz zwischen Tradition und Moderne besteht, wobei die traditionalen Strukturen wie Clans oder Sippschaften tendenziell entwicklungshemmend (in einem westlichen Sinne) sind. Ich glaube dass die kapitalistische Produktionsweise und die mit ihr einhergehende Gesellschaftsstruktur regional sehr unterschiedliche Typen von “Moderne” hervorbringt, dass aber alle gewisse Charakteristika teilen. Dazu zählen beispielsweise Urbanisierung, Massenproduktion, Massenkonsum, Massenmedien, Massentourismus, Frauenerwerbstätigkeit oder Zunahme der tertiär gebildeten Menschen. Das sind Phänomene, die sich in den alten Zentren, aber auch in China, Indien oder Lateinamerika beobachten lassen. Diese Phänomene sind Ursache und Folge wirtschaftlicher Entwicklung. Sie sind Folge einer gewissen Produktionsweise, gleichzeitig Ursache für die Zerstörung traditionaler, ländlicher und bestimmter patriarchaler Strukturen. Ein Fortschreiten der Moderne geht Hand in Hand mit einem Anstieg des Wohlstandsniveaus.
Ich glaube nicht nur dass der Wohlstand – den die Modernisierungstheorie ins Zentrum ihrer Betrachtungen rückt – die Überwindung traditionaler Strukturen wert ist. Vielmehr gehe ich davon aus, dass die Herausentwicklung von Menschenrechten, Rechtsstaat und Demokratie unter den Bedingungen einer regulierten Marktwirtschaft am besten gedeihen (ein ökonomisches Level das allen Mitgliedern einer Gesellschaft eine menschenwürdige Existenz erlaubt ist aber natürlich eine wesentliche Grundlage für einen demokratischen Rechtsstaat.). Insofern unterliegen meinem modernisierungstheoretischen Paternalismus mehr kulturell-politische denn ökonomische Motive. Allerdings betrachte ich die Koexistenz von Marktwirtschaft und bürgerlichen Rechten weniger als Einbahnstraße, denn vielmehr als Wechselwirkung.
4. Bürgerliche Rechte & Freiheiten
Regulierte Marktwirtschaften schaffen nicht nur günstige Bedingungen für bürgerliche Rechte, wahrscheinlich schaffen bürgerliche Freiheiten, Rechtssicherheit und politische Partizipation auch günstige Bedingungen für das Gedeihen von Marktwirtschaften. Gleichheit vor dem Gesetz, eine unabhängige Justiz, und Redefreiheit sorgen für ein Umfeld von Angstfreiheit und Sicherheit. Auch für Leute mit unkonventionellen Ideen und Experimentierfreude. Ein innovationsfreundliches Umfeld, wie man das in der BWL bezeichnen würde. Die Ökonomin Deirdre Mc Closeky geht sogar so weit die die industrielle Revolution als rhetorisch zu bezeichnen. „Die Orte, an denen Redefreiheit herrschte, waren die ersten die zu Wohlstand kamen: Holland, Schottland, England, Belgien und die Vereinigten Staaten.“ (vgl. Mc Colseky (2009), S. 119)
China wird oft als Beispiel dafür genannt, dass Kapitalismus und demokratischer Rechtsstaat nicht automatisch Hand in Hand gehen. Dabei wird ein wesentliches Argument übersehen. Der Kapitalismus in Europa entwickelte sich unter den Bedingungen adeliger Herrschaft. Der demokratische Rechtsstaat wurde erst im Laufe der Zeit erkämpft, nicht zuletzt flankiert durch die sozialen Veränderungen die die kapitalistische Entwicklung mit sich brachte. Europa entwickelte letztlich erst 1945 solide demokratische Rechtsstaaten. Da war der industrielle Kapitalismus aber schon 200 Jahre alt. China wird im 21. Jh. nicht die exakt gleiche Entwicklung nehmen wie Europa in den letzten 250 Jahren. Nichtsdestotrotz bin ich überzeugt, dass wir in den kommenden Jahrzehnten beobachten werden, wie das wachsende chinesische Arbeiterschaft soziale Rechte und der wachsende chinesische Mittelstand politische Rechte erkämpfen wird. Bei allen Rückschlägen, die es zwischendruch geben wird. Ich kenne China nur aus den Medien, aber aus diesen Informationen schließe ich, dass gewisse Anzeichen für die von mir genannte Entwicklung bereits vorhanden sind. (Fußnote: Manfred Nowak, Sonderbauftragter der UNO über Folter, ist niemand der sich ein Blatt vor den Mund nimmt. Im Bezug auf China ist er ganz vorsichtig optimistisch.)
Noch ein wesentliches empirisches Argument ist zu beachten: Es gibt in der Geschichte viele Kapitalismen ohne demokratische Elemente, das sind v.a. halbfeudale oder peripherere Kapitalismen. Etwa das zaristische Russland vor der Revolution, Spanien bis tief ins 20. Jh. oder die US-Vasallendiktaturen in Lateinamerika. Um das Argument zuzuspitzen muss klar gesagt werden, dass auch einige hoch entwickelte Kapitalismen keine Demokratie brauchen bzw. brauchten – der wilhelminische Kapitalismus, die NS-Herrschaft und analog dazu die erste Epoche der japanischen Shōwa-Zeit oder eben China heute. Der nun nahe liegende Umkehrschluss, dass nur weil der Kapitalismus keine Demokratie braucht die Demokratie keinen Kapitalismus benötige, ist allerdings falsch. Empirisch betrachtet brauchte und braucht die Demokratie den Kapitalismus als unabdingbare Voraussetzung. Es wird der Leserin/dem Leser kein Gegenbeispiel einfallen. Es gibt einen Kapitalismus ohne Demokratie, aber es gibt keine Demokratie ohne Kapitalismus.
5. Die Position im globalen Wirtschaftsgeflecht
Es ist die Schwäche der Modernisierungstheorie so zu tun, als gäbe es nur interne Faktoren und die Weltwirtschaft, bzw, Zeit und Raum überhaupt, wären ohne Einfluss auf eine Volkswirtschaft. Die heutige globale Situation ist vor allem das Resultat einer unheiligen Allianz zwischen korrupten und skrupellosen regionalen Eliten in der Peripherie sowie multinationalen Konzernen mit ebenso wenig Skrupel. In den Zentren sind die Eliten auf die Produktivität ihrer eigenen Bevölkerung angewiesen. Nur bei hoher gesamtgesellschaftlicher Produktivität, wächst auch der Reichtum der Reichen. (Fußnote: Das gilt im Falle konstanter funktionaler Einkommensverteilung, wie sie Joseph. A. Schumpeter 1942 für den Kapitalismus konstatierte. Seit der neoliberalen Wende wächst der Reichtum der Reichen nicht nur wegen steigender Produktivität, sondern auch durch Umverteilung von Unten nach Oben.) Ganz anders stellt sich die Situation an der Peripherie dar. Der exportierende Großgrundbesitzer bezieht sein Einkommen sowie seine Importe aus den produktiven Zentren, die Produktivität seiner eigenen Volkswirtschaft ist für ihn irrelevant. Weil die Zentren so reich sind haben die Eliten an der Peripherie kein Interesse ihr eigenes Brot zu backen. Im Gegenteil, sein eigener Wirtschaftszweig könnte im Falle einer erfolgreichen Binnenindustrialisierung an Bedeutung verlieren oder langfristig sogar verschwinden. Habe ich keine eigenen Rohstoffe, muss ich in meine eigene Bevölkerung investieren um wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Japan und Deutschland sind die entsprechenden Musterbeispiele. Habe ich Rohstoffe, kann ich diese an den Westen verschleudern und mit den Einnahmen meinen Luxus und die Unterdrückung meiner Vasallen finanzieren. Damit wird letztlich nahtlos an eine Kolonialstruktur angeknüpft, in der die Ausbeutung vor Ort noch unmittelbarer und offensichtlicherer war. Letztlich hat die europäische Expansion diesem globalen ökonomischen Ungleichgewicht den Boden bereitet. Das alles ist Faktum.
Es ist aber auch eine Schwäche der Dependenztheorie so zu tun, als wären alle von mir genannten kulturellen und klassenspezifischen Faktoren, sowie die Dynamik der kapitalistischen Produktivität irrelevant und als würde nur die weltwirtschaftliche Position bestimmen, wie der Wohlstand einer Gesellschaft beschaffen ist. Natürlich haben die transnationalen Konzerne, die Staaten der Zentren und die von ihnen dominierten internationalen Organisationen (WTO, IWF, Weltbank) eine unglaubliche Macht über die Entwicklungsländer. Aber Beispiele wie Venezuela oder Bolivien zeigen, bei aller Kritik die man im Detail anbringen kann, dass diese Macht nur real ist, wenn sie einen Brückenkopf vor Ort findet. Wenn die regionalen Eliten mit dem Westen uneingeschränkt kooperieren, ist ein ausbeuteurischer Ausverkauf der Ressourcen und Arbeitskräfte eines Landes die logische Folge. Wenn von diesen Eliten jedoch Bedinungen gestellt oder gar diktiert werden, dann können die Handelsbeziehungen auf ein faires Niveau gebracht werden. Damit ist die interne Klassenstruktur eine, wenn nicht die entscheidende Determinante. Wer setzt sich durch? Die feudalen Großgrundbesitzer die ihre Vasallen auf der Bananenplantage auspressen, oder ein unternehmerisches Bürgertum (oder auch Staatsunternehmen), die eine starke Binnenindustrie aufbauen wollen? Es steht außer Frage, dass der Westen die erste Partei unterstützt, weil er Interesse an billigen Rohstoffen, aber nicht an hochwertiger Konkurrenz hat. Ich glaube nur, dass es mit politischen Mittel trotzdem möglich ist sich eine andere, eine autonomere Position in der Weltwirtschaft zu erkämpfen. Die globale Wirtschaftsstruktur hat zwar einen gewaltigen Einfluss und ich sage nicht, dass es einfach ist. Die Lösung liegt aber meiner Auffassung nach letztlich im Land selbst. Im Ausgang der politischen Auseinandersetzungen vor Ort.
6. Die außenpolitische Situation
Es ist nicht immer alles möglich. Betrachten wir etwa die geopolitische Situation im 20. Jh. wird schnell klar, dass Lateinamerika in der bipolaren Welt des Kalten Krieges wenig Chancen auf Autonomie hatte. Die USA hatten nicht nur wirtschaftliche, sondern vor allem politische Interessen in der Region. Um einen kommunistischen Dominoeffekt zu verhindern in dem ein Staat nach dem anderen der sowjetischen Hemisphäre zufällt, war aus US-Sicht jedes Mittel legitim. Bürgerkrieg, Mord, Folter, Putsch und Diktatur. Ein sozialdemokratischer Hybrid im Sinne Westeuropas stand als Modell nicht zur Wahl, nicht zuletzt mangels moderner Industriearbeiterschaft. Ein bisschen Sozialismus spielte es nicht, die Alternative zur US-Kolonie war der Eintritt in die kommunistische Hermisphäre. Feudalherrschaft der Großgrundbesitzer oder real existierender Sozialismus, schwarz oder weiß, ganz oder gar nicht. In dieser radikalen entweder-oder Sichtweise waren sich der CIA, die lateinamerikanischen Eliten und die Revolutionären einig. Die USA gewann die Auseinandersetzung in Lateinamerika mit 20:1, lediglich Kuba wechselte in die sowjetische Hermisphäre. In der zunehmenden multipolaren Welt des 21. Jh., in der es nicht mehr um alles oder nichts geht, ist auch mehr Sozialismus möglich als zuvor. Wer kann sich noch um Chavez kümmern, wenn der neue Hauptfeind längst nicht mehr Kommunisten sondern Taliban sind?
V. Endogen oder exogen? oder Wo liegt der Schlüssel?
Die entscheidende Frage lautet: Wo liegt der Schlüssel für die Emanzipation der Länder des Südens? Haben die exogenen Entwicklungstheoretiker/innen rund um Wallerstein und Mandel Recht, dann ist das globale Ungleichgewicht die wesentliche Hürde für die Entwicklung des Südens. Für die Unterdrückung der Entwicklungsländer sind in diesem Fall die externen Faktoren die entscheidenden. Für die Vertreter/innen exogener Entwicklungstheorien handelt es sich beim globalen Kapitalismus um ein einziges geschlossenes Weltsystem, das auf Expansion von ungleichem Tausch und Raub basiert. In diesem Fall liegt der Schlüssel aber in den Zentren, von denen die Unterdrückung ausgeht. Wenn man dies glaubt, muss man das gesamte Weltsystem verändern, damit alle seine Teile verändert werden können. Wird das kapitalistische Weltregime in seinen Herzkammern und an seinen Gliedern fundamental reformiert, gibt es Raum für eine globale, auf Fairness basierende Wirtschaftsordnung. Die verschärfte Variante, also eine vulgärdependenztheoretische Interpretation ging sogar noch weiter. So behaupten viele Menschen, dass der Kapitalismus zwangsläufig ein Zentrum und eine Peripherie benötige. Mit diesem Gedanken geht einher, dass eine Verbesserung der Situation der Entwicklungsländer überhaupt nur im Falle der Abschaffung des Kapitalismus erreicht werden könne.
Wenn Leute die wie ich endogene Faktoren in den Vordergrund stellen Recht haben, dann sind die internen Faktoren entscheidend. In diesem Fall liegt der Schlüssel in der Peripherie. Diese kann nämlich – und das ist was Politik real leisten kann – selbst wählen wie ihre Integration in den Weltmarkt aussieht. Ich glaube eine Strategie der Autarkie großer Einheiten (z.B. Südamerika) wäre theoretisch möglich, aber mit noch wesentlich mehr Problemen verbunden als das zuvor skizzierte autarke Szenario für Europa. Wir müssten “nur” die einfachen Zulieferindustrien ersetzen. Sie hingegen müssten eigene High Tech Branchen aus dem Boden stampfen. Das würde wohl für eine Generation Krise, Mangelwirtschaft und Stagnation bedeuten.
Es gibt sanftere Formen um eine eigene starke Wirtschaft aufzubauen, die trotzem das Prädikat “radikale Reformen” verdienen. Ich denke da an die Besteuerung von Billigexporten, den Schutz eigener Industrien mittels dezenter Zölle, das Kopieren westlicher Vorbilder im japanischen Stil etc. Ich betone, dass es dafür großer Einheiten bedarf. Argentinien ist mit seinen 40 Millionen mit Sicherheit zu klein. Brasilien ist mit seinen 190 Millionen vielleicht das einzige Land Südamerikas, das es auch alleine schaffen könnte. Ansonsten bin ich der Auffassung, dass es einer lateinamerikanische Zollunion (absolutes Binnenzollverbot), einer lateinamerikanischen Währung und gezielter Investitionen eines staatlichen Gefüges mit kontinentaler Potenz bedarf (Anschubfinanzierung im High Tech Sektor etc.) um diese Unabhängigkeit zu Stande zu bringen. Nochmals verweise ich auf meinen diesbezüglichen Blogeintrag.
Politische Ableitungen
Letztlich führt die Unterscheidung zwischen endogener und exogener Entwicklungstheorie zu sehr unterschiedlichen politischen Ableitungen. Alle Leute die der exogenen Entwicklungstheorie das Wort reden, sich einen Kapitalismus ohne Peripherie nicht vorstellen können und Reformen an der Peripherie innerhalb kapitalistischer Parameter für unmöglich halten, schwimmen leztlich in konservativem Fahrwasser. Auch die Großgrundbesitzer glauben, dass es im Kapitalismus naturgegeben ein unten und oben gibt, dass die Peripherie zur exportierenden Zulieferindustrie verdonnert ist und soziale Reformen unter diesen Umständen unmöglich sind. Denn diese Situation entspricht ihrer feudalen Interessenslage. Nur die Ableitungen sind unterschiedlich. Die Konservativen, denen die Welt gut passt wie sie ist, halten Reformen für unmöglich, weil sie den Status quo aufrecht erhalten wollen. Die Revolutionäre halten Reformen für unmöglich, weil sie glauben dass nur eine politische Beseitigung des Kapitalismus wirklich Veränderungen bringen kann. Damit haben Großgrundbesitzer und Revolutionäre eine Ausrede, wieso konkrete Reformen sinnlos sind.
Als Sozialdemokrat glaube ich, dass das konkrete Handeln im hier und jetzt immer die einzig mögliche und einzig sinnvolle Variante ist. Weder kann man auf die Kumulierung revolutionäres Bewusstseins in den Zentren, noch in der Peripherie hoffen. Schon gar nicht auf ein weltweit synchrones Auftreten der beiden. Als Sozialdemokrat glaube ich auch, dass Verbesserungen innerhalb des Kapitalismus erreicht werden können. Die dazu notwendigen enormen politischen Interventionen, sind letzten Endes sowohl im Zentrum als auch an der Peripherie möglich. Eine radikale Reformagende halte ich für den vielversprechendste Weg.
Intervention von Außen?
Ein Frage die noch offen ist wäre, ob die von mir vorgeschlagene radikale Reformpolitik nicht zu Interventionen des Westens führen würde. Wie könnte eine Emanzipation Lateinamerikas durch den Westen aufgehalten werden? In den 1960er-1980er Jahren wurden in den meisten lateinamerikanischen Staaten brutale Militärdiktautren mit Unterstützung der USA installiert. Dadurch wurde die revolutionäre Linke Lateinamerikas, die letzte große Emanzipationsbewegung des Kontinentes, vernichtet. Eine Wiederholung dieser Vorgangsweise halte ich in Argentinien für ausgeschlossen. Das Land am Rio de la Plata ist bestimmt keine lumpenreinen Demokratie, aber nicht zuletzt auf Grund der Erfahrungen mit der eigenen Militärdiktatur doch extrem US-kritisch, antimilitaristisch und immun gegenüber autoritären Tendenzen. Argentinien ist in dieser Hinsicht vielleicht besonders weit, aber ich hatte während meiner Reise auch in anderen Staaten nicht das Gefühl, dass die Errichtung einer US-gestützten Diktatur ein Kinderspiel wäre.
• Uruguay ist Argentinien ähnlich, hat 2005 den ersten linken Präsidenten seiner Geschichte gewählt und 2010 einen ebenfalls linken Nachfolger gekürt.
• Chile glaubt zwar dass die Diktatur ökonomisch erfolgreich war, sieht dies aber nicht als Rechtfertigung für Mord und Folter. Die Aufarbeitung kommt langsam in Gange.
• Brasilien ist zu stark und zu selbstbewusst, außerdem ist der gemäßigt linke Präsident Lula jetzt schon eine lebende Legende.
• Venezuela, Ecuador und Bolivien gehen derzeit sowieso in die gegenteilige Richtung
• In Peru wurde die landbesitzende Oligarchie in den 1960ern von einer linksautoritären Militärdiktatur enteignet, womit die Trägerklasse einer Diktatur de facto fehlt. Auch die Menschen dort sind nicht gerade große US-Fans.
• Kolumbien ist als letzter verlässliche Stützpunkt der USA die große Ausnahme in Südamerika. Dort braucht man gar keine Diktatur erreichten
• Über Zentralamerika kann ich nichts sagen, dort war ich nicht.
Prinzipiell muss man sagen, dass Südamerika in den letzten 30 Jahren mit Sicherheit stärker und selbstbewusster geworden ist. Ich glaube, die Zeiten für Militärdiktaturen sind vorbei.
Viele Menschen in Lateinamerika glauben, dass im Falle einer radikalen Emanzipation eine gezielte militärische Invasion des Westens zu erwarten wäre. Doch alles was ich bis jetzt über Krieg gelernt habe ist, dass selbst die USA, also die beste Streitmacht der Menschheitsgeschichte, nicht in der Lage sind auch nur kleine Staaten wie den Irak (29 Millionen Einwohner/innen) militärisch völlig zu kontrollieren. Ebenso wenig das 25-Milllionen Afghanistan. Von Vietnam ganz zu schweigen. Darum wird es, das traue ich mich mit Sicherheit zu sagen, niemals zu einer Invasion des 74-Millionenstaates Iran kommen. Natürlich könnte man die dortige Armee in wenigen Wochen besiegen, aber die Kontrolle über das Land könnten ein paar 100.000 US-Soldaten niemals erlangen. Der Iran ist auf jeden Fall militärisch einige Nummern zu groß, selbst für die USA. Derzeit ist er aber auch ökonomisch einige Nummern zu groß. Die USA sind verschuldet wie nie und müssen schon zwei Kriege aufrecht erhalten. Selbst Busch war nicht so verrückt, in dieser Situation einen weiteren Krisenherd aufzureißen.
Und Venezuela? Nur weil Chavez ein lautes Organ hat, bedeutet das noch lange keine reale Kriegsgefahr. Ich halte es für ökonomisch und militärisch völlig ausgeschlossen, dass die USA im 27-Millionenstaat Venezuela militärisch intervenieren werden. Und Venezuela ist nur ein Staat von vielen, Bolivien und Ecuador haben bereits die Weichen in Richtung radikale Emanzipation gestellt. Was wenn noch weitere hinzukommen? Um einen halben Kontinent militärisch zu kontrollieren, müssten die USA die Wehrpflicht wieder einfürhen und ihre Wirtschaft ähnlich wie während des 2. Weltkriegs völlig auf Krieg ausrichten. Selbst bei diesen innenpolitisch undurchsetzbaren Maßnahmen wäre ein langfristiger Erfolg extrem unwahrscheinlich.
Ich halte militärische Interventionen dieser Dimension aber auch politisch für ausgeschlossen. Einerseits ist Lateinamerika schon stark genug, dass man dort heute nicht einfach machen kann was man will ohne mit schwerwiegenden Nachteilen zu rechnen. Auch die USA wollen es sich nicht mit dem steil aufsteigenden 190-Millionen Imperium Brasilien verscherzen. Außerdem ist die geopolitische Situation eine andere als noch vor einigen Jahren. Die Emanzipation Europas bewies im Irakkrieg erstmals ihre Existenz und China ist sowieso schon längst ein großer Akteür. In einer zunehmend mulitpolaren Welt, können die USA nicht walten und schalten wie sie wollen. Hinzu kommt noch das Faktum, dass wir unter der Präsidentschaft von Barack Obama ohnehin keine Abeuteuer zu erwarten haben. Ich glaube, dass der Westen Einfluss auf politische Prozesse in Lateinamerika nehmen wird. Ich glaube jedoch nicht, dass bei einer zunehmenden Emanzipation Lateinamerikas eine militärische Intervention überhaupt zur Diskussion stünde.
Conclusio:
Ich denke von Außen sind im Falle einer lateinamerikanischen Emanzipation weder Diktaturen, noch militärische Interventionen zu erwarten. Mit Sicherheit aber Widerstand wenn westliche Wirtschaftsinteressen zur Disposition stehen. Der Westen wird, wie schon immer, die Oligarchien stützen, weil diese für ein “investitionsfreundliches Klima” sorgen. Venezuela, Bolivien und Ecuador zeigen aber, dass die Unterstützung des Westens die Oligarchie nicht unbesiegbar macht. Die lateinamerikanischen Staaten haben eine Chance sich aus eigener Kraft zu emanzipieren. Die Opferrolle in der sich viele denkende Menschen in Lateinamerika oft sehen, halte ich dementsprechend für kontraproduktiv. Diese Denkweise schiebt dem Westen die Handlungsmacht zu und stärkt den Eindruck der eigenen Ohnmacht. Das Wissen um die offenen Venen Lateinamerikas geht nicht selten mit einer gewissen passiven Lethargie einher. Niemand wird die Notwendigkeit eines profunden historischen Bewusstsein mehr betonen als ich. Entscheidend sind aber die Ableitungen. Die Revolutionäre der 1960er- und 1970er-Jahre stehen politisch weit von dem entfernt was ich denke, denn ich bewege mich mit meinem radikalen Reformprogramm stets auf dem Boden der öko-sozial regulierten Marktwirtschaft. Zugutehalten kann man der Che Guevara Generation jedoch, dass sie eine klare, aktive Agenda für eine lateinamerikanische Emanzipation aus der Unterdrückungsgeschichte ableitete. Die Gewissheit, es aus eigener Kraft schaffen zu können. Das war alles andere als ein Opferdenken, es war die Kühnheit, die Geschichte selbst in die Hand zu nehmen.
Sind wir reich weil sie arm sind? Ich sage tendenziell nein.
Sind sie arm weil wir reich sind? Ich sage unter anderem
Sind wir reicher weil sie arm sind? Ich sage ja.
Sind sie arm weil wir ein ungleiches Weltwirtschaftssystem aufrecht erhalten? Ich sage unter anderem.
Wird der Westen dieses System jemals von sich aus aufgeben? Ich sage tendenziell nein.
Können sich die Staaten der Perpherie selbst aus dieser Lage befreien? Ich glaube ja.
Literatur
• Bernstein, Eduard: Die Kolonialfrage und der Klassenkampf (1907): http://www.marxists.org/deutsch/referenz/bernstein/1907/11/kolonial.htm
• Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie (1899): http://www.marxists.org/deutsch/referenz/bernstein/1899/voraus/index.html
• Brenner, Robert: Agrarian Class Structure and Economic Development in Pre-Industrial Europe (1976)
• Brenner Robert: The Origins of Capitalist Development a Critiqü of Neo-Smithian Marxism (1977): http://www.scribd.com/doc/24231932/Robert-Brenner-The-Origins-of-Capitalist-Development-a-Critiqü-of-Neo-Smithian-Marxism
• Deirdre Mc Colseky: Ökonomen leben in Metaphern (2009) In Diaz-Bone/Krell: Diskurs und Ökonomie
• Eurostat: Ameco-Datenbank der EU-Kommission: http://ec.europa.eu/economy_finance/ameco/user/serie/SelectSerie.cfm
• Kautsky, Karl: Der Weg zur Macht (1909): http://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1909/macht/index.htm
• Marx Karl: Das Kapital (1867): http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_000.htm
• Marx Karl, Engels Friedrich: Kommunistische Manifest (1848): http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_459.htm
• Menzel Ulrich: Die drei Entwicklungstheorien des Karl Marx (2000): http://www.inwent.org/E+Z/zeitschr/ez100-4.htm
• Lebensmittelministerium: http://www.lebensministerium.at/article/articleview/59230/1/17624/
• Nowak Manfred: Interview in der Wiener Zeitung (2007): http://www.wienerzeitung.at/DesktopDefault.aspx?TabID=4664&Alias=wzo&cob=295247&Page15308=9
• politik.de posting: http://www.politik.de/forum/wirtschaft-und-sozialsystem/98994-entstehung-des-kapitalismus-und-koloniale-ausbeutung.html
• Proyect Louis : The “Brenner Thesis”: http://www.columbia.edu/~lnp3/mydocs/origins/brenner_thesis.htm
• Wikipedia (deutsch)
Montag, 29. März 2010
Donnerstag, 11. März 2010
Lärm im öffentlichen Raum
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Den heutigen BLOG untermale ich - abgesehen von diesem Bildchen - mit Fotos von meiner Abschlussreise durch Südamerika.
Nachtruhe, Lärmschutzwand, amtliche Grenzwerte für den maximalen Verkehrslärmpegel, akustisch abgedichtete Lokale am Gürtel, Lärmbelästigungszulage für Bedienstete der Heereszeuganstalt (?) Wien. In München wurde sogar das Mobiltelefonieren in öffentlichen Verkehrsmitteln verboten. In unseren Breiten wird das Thema Lärmbelästigung sehr ernst genommen. Dies gestaltet sich in Argentinien etwas anders. Als an Ruhe gewöhnter Mitteleuropäer muss man hier einiges ertragen. Allerdings kann man sich auch so manches leisten, das in Wien undenkbar wäre. Einige Beispiele, wie in Argentinien mit dem Thema Lärm umgegangen wird:
Eine Sanddüne in der Atacamawüste (Chile).
Fernsehen in Bars
In allen Bars und Kneipen, selbst in besseren Restaurants wird man von einer den ganzen Tag laufenden Fernsehkiste beschallt. Was man bei uns als Störung, Zumutung oder gar als barbarische Unkultiviertheit wahrnehmen würde, ist für Argentinier/innen nicht mehr als ein bisschen harmloser Hintergrundsound.
Öffentlicher Verkehr
In den gesteckt vollen Zügen und Bussen im gesamten Großraum Buenos Aires, ist es Gang und Gäbe, dass (vor allem Jugendliche – Gott bin ich alt) mittels Handy ihre Lieblingsmusik in voller Lautstärke abspielen. Meist handelt es sich dabei um Reggaeton, eine zweifelhafte Mischung aus Hip Hop, Latino und Technobeats. Besonders schön wird das Konzert, wenn mehrere dieser Süßen ihre Geräte gleichzeitig auf “Vol. max” stellen und vielleicht noch ein weiterer verhaltensorigineller Fahrgast seinen Klingelton wechseln möchte und zu diesem Behufe eine kleine öffentliche Hörprobe aller seiner 2000 Varianten zum Besten gibt.
Der 6000 Meter hohe Vulkan Licancabur in der Atacamawüste.
CAINA
Den durchschnittlichen Lärmpegel in meinem Straßenkinderheim (CAINA), können sich bestenfalls Pädagog/innen in Einrichtungen für verhaltensauffällige Kids vorstellen. Die Kinder waren aber gar nicht das Lauteste. Jeden Mittwochvormittag findet eine Filmvorführung mit Beamer statt. Während ich abwusch, wurden die Kinder mit tausenden Dezibel von den Maschinengewehren diverser US-Actionhelden beschallt. Dieser lächerliche Hintergrundlärm war jedoch harmlos, mir schauderte während des Spülens des 63. Bechers vielmehr vor dem, was danach kam. Zu Mittag gibt es ein Quiz, bei dem die Kinder während des Essens Fragen zum Film beantworten. Zu diesem Zwecke stiegen stets zwei Sozialarbeiter/innen auf einen Tisch und mir die Schweißperlen auf die Stirn. Die beiden Ankünder/innen versuchten sich nun Gehör zu verschaffen, was im Beisein von 50 Latino-Straßenkindern naturgemäß eine Herausforderung darstellte. Die mir an Körpergröße und Gewicht deutlich überlegene Sozialarbeiterin Guadalupe ließ ihrem Organ freien Lauf und während ich mir die Zeigefinger tief ins Innenohr stieß ertönte das, was im CAINA als “sirena” bekannt und berüchtigt ist. Dies war nur der Einstieg in eine ohrenbetäubende viertel Stunde, in der eine Art Dialog zwischen den durch den Raum brüllenden Sozialarbeiter/innen und den durch den Raum brüllenden Kindern stattfand. Unterbrochen nur durch tobenden Applaus (im schlimmsten Fall begleitet durch rhythmische Schläge von 100 Gabeln und Löffeln auf die Tische), wenn eine Gruppe eine Frage richtig beantwortete. Nach diesem Event gönnte ich mir immer im zweiten Stock eine Zigarillo, im Nähraum bei der Waschmaschine, wo die Kinder keinen Zutritt haben und die Näherin Nora leise Kirchenmusik aus dem Radio hörte.
Ein Loch in der Wüste. Vor dem Loch ein Gringo aus dem Bilderbuch
Verkehrslärm
Die letzten zwei Monate in Wien habe ich am Lerchenfeldergürtel gewohnt, mein Schlafzimmerfenster lugte direkt zu der mit ihren acht Spuren wohl größten innerstädtischen Straße Österreichs. Den Verkehrslärm habe ich allerdings nur als leises Rauschen im Hintergrund wahrgenommen. Schon mehrfach habe ich über die unfassbare Lautstärke geschrieben, die in Buenos Aires durch veraltete Motoren in Pkws, Stadtautobussen, und Lastwägen verursacht wird. Die Busse fahren übrigens die ganze Nacht und mangels Organisation oft 45 Minuten nicht, dafür dann drei Stück hintereinander. Der 32er, der seine Station direkt vor meinem Zimmerfenster hat, beschleunigt dann seinen Motor (gefühltes Baujahr 1928) um 4:00 Früh um aus der Station zu fahren. Wenn drei 32er gleichzeitig eintreffen, wäre man schon dazu geneigt mit einer Nacht in den Schützengräben von Verdun zu tauschen. Die Fenster bestehen selbstverständlich nur aus einer Scheibe und sind extrem schlecht abgedichtet, was das akustische Vergnügen erhöht. Besonders freundlich gesinnt ist man den an Lautstärke alles übertreffenden Mopedfahrern, die auch um Fünf in der Früh keine Skrupel haben zu zeigen, was ihr Gerät drauf hat. Mehrfach dachte ich da an den Kauf eines kleinen feinen Luftdruckgewehrs.... Wieso sich die Bewohner/innen von Buenos Aires diese Belästigung gefallen lassen, ist mir ein Rätsel. Ich brauchte Wochen, um mich beim Schlaf einigermaßen an den Lärm zu gewöhnen.
Der atemberaubende Colca Canyon in Arequipa Peru
Nochmals Colca Canyon
Kino im Bus
Es gibt kaum Züge in Argentinien, alle Überlandstrecken fährt man im Bus. Auf den langen Strecken wird man unterhalten und zwar mit hoch qualitativen Filmen. Laute und billige Actionstreifen aus den 80er-Jahren rangieren ganz oben auf der Liste. Natürlich gibt es keine Kopfhörer, das bedeutet alle haben das Vergnügen, den von den Busfahrern sorgfältig ausgewählten Filmen zu lauschen. Aber keine Sorge, Argentinier/innen sind Nachtmenschen. Nach dem Abendfilm, der um 22:00 mit dem Abendessen serviert wird, gibt es zum Glück noch einen Nachtfilm. Niemand wird der Zumutung preisgegeben, vor 2:00 einschlafen zu müssen. Papa und mein Brüderchen Wastl hatten besonderes Glück. Die Busfahrer wählten den stets dezenten und unscheinbaren Einschlaffilm Terminator 4 für die Abendvorführung. Aber noch besser war ihr Nachtangebot, das sie in unmittelbarem Anschluss spielten. Ob man es glaubt oder nicht: Terminator 4.
Die peruanische Seite des Titicacasee auf 3800 Meter
Discoterrasse
Die Terrasse auf dem Dach unseres Hauses befand sich in einem dicht besiedelten Gebiet, umringt von so manchem Hochhaus. Faktum ist, jeden Lärm den wir machten, wurde von mehreren hundert Nachbarn wahrgenommen. Als wir in meiner ersten Woche an einem Samstag bis 7:00 zu Rock, Techno-, Latino und Pop tanzten war ich noch erstaunt, dass niemand die Polizei rief. Als in den Foglemonaten zig musikunterstützte Grillabende, lautstarke politische Diskussionen, inbrünstige Theaterproben, dröhnende Tanzpartys, Gehversuche im Tangoschritt oder gewöhnliche Abendessen (in Argentinien nicht vor 23:00) an jedem beliebigen Wochentag auf unserer Terrasse stattfanden, wurde mir langsam klar: In Buenos Aires kann man in der Nacht so viel Lärm machen wie man will. Konsequenterweise haben wir uns auch nie aufgeregt, wenn die unter uns eingemietete Familie aus Peru alle paar Wochen im Rahmen eines Festes bis 6 Uhr Früh lautstarke Tanzmusik aus den Anden abspielte. Es gibt also auch ein paar Vorteile an der argentinischen Lärmkultur.
Der Marsch auf den 6075 Meter hohen Vulkan Chanchani (Arequipa, Peru) war dann etwas gar abenteuerlich. Das Grinsen auf dem Foto ist pure Schauspielerei.
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Den heutigen BLOG untermale ich - abgesehen von diesem Bildchen - mit Fotos von meiner Abschlussreise durch Südamerika.
Nachtruhe, Lärmschutzwand, amtliche Grenzwerte für den maximalen Verkehrslärmpegel, akustisch abgedichtete Lokale am Gürtel, Lärmbelästigungszulage für Bedienstete der Heereszeuganstalt (?) Wien. In München wurde sogar das Mobiltelefonieren in öffentlichen Verkehrsmitteln verboten. In unseren Breiten wird das Thema Lärmbelästigung sehr ernst genommen. Dies gestaltet sich in Argentinien etwas anders. Als an Ruhe gewöhnter Mitteleuropäer muss man hier einiges ertragen. Allerdings kann man sich auch so manches leisten, das in Wien undenkbar wäre. Einige Beispiele, wie in Argentinien mit dem Thema Lärm umgegangen wird:
Eine Sanddüne in der Atacamawüste (Chile).
Fernsehen in Bars
In allen Bars und Kneipen, selbst in besseren Restaurants wird man von einer den ganzen Tag laufenden Fernsehkiste beschallt. Was man bei uns als Störung, Zumutung oder gar als barbarische Unkultiviertheit wahrnehmen würde, ist für Argentinier/innen nicht mehr als ein bisschen harmloser Hintergrundsound.
Öffentlicher Verkehr
In den gesteckt vollen Zügen und Bussen im gesamten Großraum Buenos Aires, ist es Gang und Gäbe, dass (vor allem Jugendliche – Gott bin ich alt) mittels Handy ihre Lieblingsmusik in voller Lautstärke abspielen. Meist handelt es sich dabei um Reggaeton, eine zweifelhafte Mischung aus Hip Hop, Latino und Technobeats. Besonders schön wird das Konzert, wenn mehrere dieser Süßen ihre Geräte gleichzeitig auf “Vol. max” stellen und vielleicht noch ein weiterer verhaltensorigineller Fahrgast seinen Klingelton wechseln möchte und zu diesem Behufe eine kleine öffentliche Hörprobe aller seiner 2000 Varianten zum Besten gibt.
Der 6000 Meter hohe Vulkan Licancabur in der Atacamawüste.
CAINA
Den durchschnittlichen Lärmpegel in meinem Straßenkinderheim (CAINA), können sich bestenfalls Pädagog/innen in Einrichtungen für verhaltensauffällige Kids vorstellen. Die Kinder waren aber gar nicht das Lauteste. Jeden Mittwochvormittag findet eine Filmvorführung mit Beamer statt. Während ich abwusch, wurden die Kinder mit tausenden Dezibel von den Maschinengewehren diverser US-Actionhelden beschallt. Dieser lächerliche Hintergrundlärm war jedoch harmlos, mir schauderte während des Spülens des 63. Bechers vielmehr vor dem, was danach kam. Zu Mittag gibt es ein Quiz, bei dem die Kinder während des Essens Fragen zum Film beantworten. Zu diesem Zwecke stiegen stets zwei Sozialarbeiter/innen auf einen Tisch und mir die Schweißperlen auf die Stirn. Die beiden Ankünder/innen versuchten sich nun Gehör zu verschaffen, was im Beisein von 50 Latino-Straßenkindern naturgemäß eine Herausforderung darstellte. Die mir an Körpergröße und Gewicht deutlich überlegene Sozialarbeiterin Guadalupe ließ ihrem Organ freien Lauf und während ich mir die Zeigefinger tief ins Innenohr stieß ertönte das, was im CAINA als “sirena” bekannt und berüchtigt ist. Dies war nur der Einstieg in eine ohrenbetäubende viertel Stunde, in der eine Art Dialog zwischen den durch den Raum brüllenden Sozialarbeiter/innen und den durch den Raum brüllenden Kindern stattfand. Unterbrochen nur durch tobenden Applaus (im schlimmsten Fall begleitet durch rhythmische Schläge von 100 Gabeln und Löffeln auf die Tische), wenn eine Gruppe eine Frage richtig beantwortete. Nach diesem Event gönnte ich mir immer im zweiten Stock eine Zigarillo, im Nähraum bei der Waschmaschine, wo die Kinder keinen Zutritt haben und die Näherin Nora leise Kirchenmusik aus dem Radio hörte.
Ein Loch in der Wüste. Vor dem Loch ein Gringo aus dem Bilderbuch
Verkehrslärm
Die letzten zwei Monate in Wien habe ich am Lerchenfeldergürtel gewohnt, mein Schlafzimmerfenster lugte direkt zu der mit ihren acht Spuren wohl größten innerstädtischen Straße Österreichs. Den Verkehrslärm habe ich allerdings nur als leises Rauschen im Hintergrund wahrgenommen. Schon mehrfach habe ich über die unfassbare Lautstärke geschrieben, die in Buenos Aires durch veraltete Motoren in Pkws, Stadtautobussen, und Lastwägen verursacht wird. Die Busse fahren übrigens die ganze Nacht und mangels Organisation oft 45 Minuten nicht, dafür dann drei Stück hintereinander. Der 32er, der seine Station direkt vor meinem Zimmerfenster hat, beschleunigt dann seinen Motor (gefühltes Baujahr 1928) um 4:00 Früh um aus der Station zu fahren. Wenn drei 32er gleichzeitig eintreffen, wäre man schon dazu geneigt mit einer Nacht in den Schützengräben von Verdun zu tauschen. Die Fenster bestehen selbstverständlich nur aus einer Scheibe und sind extrem schlecht abgedichtet, was das akustische Vergnügen erhöht. Besonders freundlich gesinnt ist man den an Lautstärke alles übertreffenden Mopedfahrern, die auch um Fünf in der Früh keine Skrupel haben zu zeigen, was ihr Gerät drauf hat. Mehrfach dachte ich da an den Kauf eines kleinen feinen Luftdruckgewehrs.... Wieso sich die Bewohner/innen von Buenos Aires diese Belästigung gefallen lassen, ist mir ein Rätsel. Ich brauchte Wochen, um mich beim Schlaf einigermaßen an den Lärm zu gewöhnen.
Der atemberaubende Colca Canyon in Arequipa Peru
Nochmals Colca Canyon
Kino im Bus
Es gibt kaum Züge in Argentinien, alle Überlandstrecken fährt man im Bus. Auf den langen Strecken wird man unterhalten und zwar mit hoch qualitativen Filmen. Laute und billige Actionstreifen aus den 80er-Jahren rangieren ganz oben auf der Liste. Natürlich gibt es keine Kopfhörer, das bedeutet alle haben das Vergnügen, den von den Busfahrern sorgfältig ausgewählten Filmen zu lauschen. Aber keine Sorge, Argentinier/innen sind Nachtmenschen. Nach dem Abendfilm, der um 22:00 mit dem Abendessen serviert wird, gibt es zum Glück noch einen Nachtfilm. Niemand wird der Zumutung preisgegeben, vor 2:00 einschlafen zu müssen. Papa und mein Brüderchen Wastl hatten besonderes Glück. Die Busfahrer wählten den stets dezenten und unscheinbaren Einschlaffilm Terminator 4 für die Abendvorführung. Aber noch besser war ihr Nachtangebot, das sie in unmittelbarem Anschluss spielten. Ob man es glaubt oder nicht: Terminator 4.
Die peruanische Seite des Titicacasee auf 3800 Meter
Discoterrasse
Die Terrasse auf dem Dach unseres Hauses befand sich in einem dicht besiedelten Gebiet, umringt von so manchem Hochhaus. Faktum ist, jeden Lärm den wir machten, wurde von mehreren hundert Nachbarn wahrgenommen. Als wir in meiner ersten Woche an einem Samstag bis 7:00 zu Rock, Techno-, Latino und Pop tanzten war ich noch erstaunt, dass niemand die Polizei rief. Als in den Foglemonaten zig musikunterstützte Grillabende, lautstarke politische Diskussionen, inbrünstige Theaterproben, dröhnende Tanzpartys, Gehversuche im Tangoschritt oder gewöhnliche Abendessen (in Argentinien nicht vor 23:00) an jedem beliebigen Wochentag auf unserer Terrasse stattfanden, wurde mir langsam klar: In Buenos Aires kann man in der Nacht so viel Lärm machen wie man will. Konsequenterweise haben wir uns auch nie aufgeregt, wenn die unter uns eingemietete Familie aus Peru alle paar Wochen im Rahmen eines Festes bis 6 Uhr Früh lautstarke Tanzmusik aus den Anden abspielte. Es gibt also auch ein paar Vorteile an der argentinischen Lärmkultur.
Der Marsch auf den 6075 Meter hohen Vulkan Chanchani (Arequipa, Peru) war dann etwas gar abenteuerlich. Das Grinsen auf dem Foto ist pure Schauspielerei.
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