Donnerstag, 31. Dezember 2009

Sind Patrioten Idioten?

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Kurt Tucholsky: Antimilitarist, Antipatriot und sozialistischer Publizist jüdischer Herkunft. Er war das rote Tuch aller nationalistischen Kräfte der Weimarer Republik.

Patriotismus ist so eine Sache. Der Stolz auf eine konstruierte Zugehörigkeit zu einer Abstraktion namens Nation oder Volk. Die Homogenisierung einer Gruppe die als solche nicht existiert. Das Zugehörigkeitsgefühl zu einem Staatskonstrukt dessen Grenzen aus den blutigen Auseinandersetzungen von Aristokraten oder Faschisten hervorgegangen sind. Die unterstellte Einheitlichkeit von Mentalität, kulturellen Merkmalen, historischen Erfahrungen oder gesellschaftlichen Zielen. Für Karl Popper ist der Nationalismus der vormoderne Wunsch nach kollektiver Stammeszugehörigkeit. Die Geschichte des nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls ist eine Geschichte der Instrumentalisierung durch die Herrschenden. Von den Kriegshetzern von 1914, sowie von Hitler und Stalin einmal ganz abgehen, treibt der Nationalismus auch in modernen westlichen Demokratien bedenkliche Blüten. Wer in den USA 1970 gegen den Vietnamkrieg oder 2003 gegen den Irakkrieg war, wurde zum Vaterlandsverräter gestempelt, ebenso im französischen Algerienkrieg der 1950rt-Jahre. Wer anno 2000 gegen die Schüsselregierung war wurde als Österreich-Vernaderer vorgeführt, wer in Kärnten was gegen St. Haider sagt ist ein Nestbeschmutzer. Nationalismus dient meistens dazu, die Reihen zu schließen und Opposition zu delegitimieren.

Tatsächlich destabilisieren die zunehmende innere Differenzierung der Gesellschaft einerseits, sowie die Globalisierung von Trends und Lebensweisen andererseits das Nationalkonzept nachhaltig. Esoterisch, religiös oder in NGO’s engagierten Menschen, Finanzmarktjoungleure, Models, Manager/innen von Multis und Werbefachleute, Leute die tanzen, extrem-bergsteigen, Musik machen oder Paintball spielen, Homosexuelle, Transsexuelle, Asexuelle, Menschen die sich in virtuellen Welten selbst neu erfinden und Aussteiger/innen, Hippis, Yuppies, Emos und Punks. Sie alle brauchen kein Vaterland. Die Vielfalt individuell gestaltbarer Lebensweisen schafft neue Identitätsmuster, die regionale oder kulturelle Identitäten ergänzen oder ersetzen.


Adel und Nation

„Alles für das Volk nichts durch das Volk“, war die Devise der aufgeklärten Absolutisten, dessen bekanntester österreichischer Vertreter wohl Joseph II. war.

Historisch hat das Nationalbewusstsein jedoch eine wichtige politische Aufgabe erfüllt. Der deutsche Kaiser und der russische Zar waren selbstverständlich Vetter, sämtliche französische Herrscher – ob Bourbonen oder Napoleon – nahmen sich eine Habsburgerin zur Frau und schmückten sich so mit dem Glanz des ältesten Herrschergeschlechts Europas. Der Adel war elitär, unter einander verwandt, internationalistisch und voll ahnungsloser Verachtung für die Lebensrealität des eigenen Volkes (was sich mit dem aufgeklärten Absolutismus ein wenig änderte). Der Adel forderte als internationalistische Elite von seinen Untertanen die Loyalität zum Herrscherhaus anstatt zu einer Nation oder einem Volk ein. Das Bekenntnis zu Volk und Nation in Auseinandersetzung mit der Aristokratie ist somit ein großer historischer Fortschritt, der auch der Nationalbewegung zu verdanken ist. Das Volk wurde in den Mittelpunkt des Interesses gestellt, womit erstmals zumindest theoretisch alle seine Mitglieder gemeint waren. „Deutsch sein heißt frei sein“ war eine Parole der Nationalbewegung im 19. Jahrhundert, sie richtete sich gegen die Herrschaft des Adels, für liberale und demokratische Reformen und galt als Bekenntnis zum gesamten Volk.


Nationalkonservativer Patriotismus

Dieser freundliche, sympathische und vertrauenserweckende Herr war von Beruf Diktator und hat mindestens 3.000 Menschenleben auf dem Gewissen. Auf dem Begräbnis von Augusto Pinochet 2006 nahmen 40.000 Menschen teil. In chilenischen Fußballstadien hört man heute nach gelegentlich: “Chi chi chi Le le le - VIVA CHILE Pinochet“.

Ein patriotischer Pol in Argentinien ist das Militär, es repräsentiert sozusagen den Nationalismus der Rechten, wie wir ihn uns vorstellen. Der diskursive Schwerpunkt liegt dabei eindeutig eher beim Begriff „patria“ (Vaterland), denn beim Begriff „pueblo“ (Volk). Allerdings hat sich das Militär während seiner Diktatur (1976-1982) durch die Menschenrechtsverletzungen, den verlorenen Falklandkrieg sowie durch eine desaströse Wirtschaftspolitik dermaßen selbst diskreditiert, dass der rechte Nationalismus zu einer Randerscheinung wurde. Die Mittel- und Oberschichten wollen mit dem militärischen Nationalismus nichts zu tun haben. Im Gegensatz zu Chile wo ganze Fanclubs von Fußballmannschaften noch Sympathien für Pinochet haben und dies im Stadium auch kundtun, betrachtet die überwiegende Mehrheit der Argentinier/innen die eigene Militärdiktatur als historische Katastrophe. Die nationalnistischen, autoritären und antidemokratischen Kräfte im Umfeld der Militärs sind meiner Einschätzung nach heute politisch fast völlig isoliert.


Antipatriotische Bourgeoisie

Die Selbstwahrnehmung der US-Mittelklasse ist ziemlich genau das Gegenteil der Selbstwahrnehmung der argentinischen Mittelklasse. Die USA als „pais de le mierda“ (Scheißland), als Barbarenland oder als Desaster zu bezeichnen, würde wohl eher auf nachhaltige Empörung stoßen.

Die Mittel- und Oberschichten zwischen 35 und 65, also jene Generationen die derzeit in Argentinien den Ton angeben, sind nicht unpatriotisch, sondern geradezu antipatriotisch. Anfangs habe ich diese Haltung als Ausdruck eines Weltenbürgertums begrüßt, diese Interpretation des argentinischen Antipatriotismus ist aber zu kurz gegriffen. Die Mittel- und Oberschichten verachten Argentinien, weil sie es als ein unzivilisiertes Entwicklungsland betrachten. Besonders gegenüber Westler/innen betonen sie bereits nach wenigen Sekunden ihre Geringschätzung für ihr eigenes Land. „Was sagst du zu diesem Desaster“, war die erste Frage einer Spanischlehrerin (Mitte 40) der Uni von Buenos Aires an mich. Gemeint war Argentinien. Andere Leute bezeichnen ihre Nation als Affenland oder Land der Indianer. Die Menschen tun dies um zu bekunden, dass sie Argentinien mit europäisch/us-amerikanischen Augen sehen, obwohl sie meistens noch nie in Europa oder den USA waren. Sie wollen verdeutlichen, dass sie etwas Besseres verdient hätten und selbst über dem Niveau der argentinischen Gesellschaft schweben. Sie sind zivilisierte, kultivierte und elegante Europäer/innen, die zufälligerweise das Pech hatten, in ein Entwicklungsland am Ende der Welt geboren zu werden. Ich kann dieses Gerede nicht mehr hören und habe bereits eine Armada an Gegenargumenten parat. die wichtigsten in aller Kürze:

Argentinien ist gebildeter, weit weniger xenophob und teilweise liberaler als Europa (in zwei Provinzen gibt es z.B. die Homoehe). Es gibt eine kostenlose, unkomplizierte und hochwertige Krankenversorgung für alle, in den USA wird Obama als Hitler beschimpft wenn er nur an eine kleine öffentliche Versicherung denkt. Es gibt eine bürokratische, aber gute, kostenlose und frei zugängliche Uni, während in Europa die ausgehungerten Unis immer schwerer zugänglich werden. Es gibt U-Bahnen, Stadtbusse, Überlandbusse, Züge und perfekt erhaltene Straßen im ganzen Land, das EU-Land Rumänien, (dessen BIP gleich hoch ist wie jenes Argentiniens) kommt an diese Verkehrsinfrastruktur nicht heran. In allen Megametropolen der Welt gibt es brutalen Raubmord und Vergewaltigungen, auch in New York, London und Paris. In einer 13-Millionenstadt passiert das eben mit einer gewissen Regelmäßigkeit. Die auf Angst und Schrecken ausgerichtete mediale Berichterstattung verzerrt aber die Wahrnehmung und die Relationen.

Die Ablehnung der Mittel- und Oberschichten gegenüber der eigenen Bevölkerung ist der alten Verachtung der Aristokratie für ihre Untertanen gar nicht unähnlich. Es die gefühlte Zugehörigkeit zum westlichen Bürgertum bei gleichzeitigem Hass auf das eigene Volk, vor allem auf die Unterschichten. Diese werden in Argentinien als „Negros“ (Schwarze) bezeichnet. Da Argentinien seine schwarze Bevölkerung im 19. Jh. an den Kriegsfronten aufreiben ließ, ist Negros eher ein soziales denn ein rassisches Schimpfwort. Auch die in der Regel weißen, aber sozial wenig angesehenen Busfahrer werden als „Negros de la mierda“ (Scheiss-Schwarze) beschimpft, wenn sie eine Haltestelle ignorieren. Allerdings sorgt die permanente Migration aus Peru/Bolivien/Paraguay in die Armutsviertel Argentiniens dafür, dass der Anteil indigener Bevölkerung an der Gesamtheit der Armen steigt und Negro eine zunehmend sozialrassistische Note bekommt, die dem österreichischen „Tschusch“ ähnelt.

Diego Maradona, wie ihn die Mittel- und Oberschichten leidenschaftlich hassen.

Die Übersetzung für gute Gesellschaft ist „gente bien“, also gute Leute. Damit grenzt man sich vom Negro-Pöbel ab. Man kann auch sagen, „gente como uno“, also Leute wie einer (selbst), um die Grenze zwischen guter Gesellschaft und Pöbel zu ziehen. Besonders grotesk wird es, wenn Leute aus der Mittel- und Oberschicht sagen: „Los Argentinos no son gente como uno“, also die Argentinier sind nicht Leute wie einer (selbst). Damit grenzt man sich sozial und ethnisch/national ab, weil man mit Argentinier/innen den Pöbel, aber nicht sich selbst meint. Diego Maradona ist ein beliebtes Feindbild der „gente bien“. Vor allem als er nach der haarscharf erzielten WM-Qualifikation im Live-Fernsehen all jenen die nicht mehr an die Mannschaft glaubten ausrichten ließ, „die Damen mögen verzeihen, aber man könne ihm einen blasen“, wurde der Hass auf die „bestia“ und den „negro“ Maradona neu angeheizt. Maradona ist zweifellos nicht der galanteste Stern am Firmament der wohlerzogenen Caballeros, trotzdem repräsentiert er als Herkömmling aus einem Armutsviertel in der Südzone von Gran Buenos Aires wie kaum ein Anderer die enormen sozialen Konflikte Argentiniens.


Sozialpopulistischer Patriotismus


Der autoritäre Sozialpopulist Peron stellte sich gegen die jahrhundertealten Eliten und auf die Seiten des gemeinen Volkes. Gattin Evita – die Ikone des Industrieproletariats – war laut eigener Aussage auf zwei Dinge stolz. Auf die Liebe der Armen und den Hass der Oberschicht.

Der Peronismus und die sich daraus bis heute ableitenden populären, gewerkschaftlichen und politischen Strömungen haben einen starken nationalen Einschlag. Es handelt sich beim Peronismus meinem Urteil nach um eine Verbindung von sozialdemokratischen und nationalen Ideen, wobei der demokratische Rechtsstaat oft als unnötiges Hindernis betrachtet wird. Dem Mussolini-Faschismus wird ebenso wie dem Nationalsozialismus eine gewisse Bewunderung entgegengebracht, obwohl der Peronismus – vor allem im Gegensatz zu seinem italienischen Vorbild – radikal mit den Eliten der Großgrundbesitzer brach. Letztere waren wesentliche Träger des italienischen Faschismus.

Faktum ist, die Gewerkschaften und die Regierung Kirchner stehen in einer patriotischen Tradition, die durch Nationalflaggen und entsprechende auf Volks und Nation bezogene Diskurse immer wieder zum Ausdruck gebracht wird. Der diskursive Schwerpunkt liegt aber eindeutig eher beim Begriff „pueblo“ (Volk), denn beim Begriff „patria“ (Vaterland). Damit wird ausgedrückt, dass man bewusst zum Volk und seinen unteren Schichten steht und sich von den Mittel- und Oberschichten abgrenzt, die Argentinien für ein Affenland halten und immer nur nach Europa und in die USA lugen.


Nationalstolz an der Peripherie

So bestialisch der Nationalismus sich bei uns auch historisch ausgewirkt hat und so sehr mich die nationale Kleinstaaterei im Europa der 2000er-Jahre nervt, man kann zu diesem Thema keine Pauschalaussagen machen. In Ländern der Peripherie, die ständig darunter leider, dass regionale Eliten die Ressourcen und Arbeitskräfte ihres Landes an westliche Konzerne verscherbeln, ist ein Bekenntnis zum Volk und eine nationale Orientierung bei der Handels- Industrie und Sozialpolitik wahrscheinlich ein großer Fortschritt. Das Brasilien Lulas dürfte dafür ein Positivbeispiel sein und auch das bei uns so blutrünstig dargestellte Regime eines Hugo Chavez in Venezuela hat durchaus beachtliche Fortschritte erzielt.

Argentinien hatte in den letzten zehn Jahren nicht so viel Schwung wie andere Staaten Südamerikas. Allerdings stelle ich fest, dass meine Generation ein wesentlich solideres Nationalbewusstsein hat als die antipatriotische Elterngeneration. Ich habe von meinen Alterkolleg/innen unverblümte Kritik, aber noch kaum eine verächtliche Bemerkung über ihr Land gehört. Sie hassen die Korruption, sie wollen sich von unfähigen Unternehmen und Behörden nicht mehr verarschen lassen, sie entrüsten sich über die Armut und sie gehen Leute offensiv an, die Mist auf die Straße werfen. Sie glauben an Argentinien und wollen ihr Land vorwärts bringen. So unterschiedliche ihre politischen und persönlichen Motive sein mögen, die Schnittmenge ihrer Ziele ist groß. Um Argentinien punkto Sozialstaat, Wirtschaftskraft, Menschenrechte, Umweltschutz, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, dort hinzubringen wo sie es haben wollen, wird letztlich ein gemeinsames Nationalbewusstsein und ein gemeinsamer Glaube an das eigene Land notwendig sein. Im Gegensatz zu den chronisch skeptischen Argentinier/innen bin ich überzeugt, dass die Leute meiner Generation erhebliche Erfolge erzielen werden. Das ist es auch, was ich ihnen für die Zehnerjahre wünsche.

Donnerstag, 10. Dezember 2009

Kulinarisches

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Um den wahren Stellenwert den Essen für mich hat möglichst lange hinter politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Pseudoanalysen zu verbergen, habe ich diesen Eintrag viele Monate aufgeschoben. Spätestens mit diesem Text wird aber klar, dass ich den Sozialismus im Zweifelsfall für ein saftiges Steak verkaufen würde. Vielleicht hat der österreichische Ökonom Joseph Alois Schumpeter deshalb von „Beefsteak-Sozialismus“ gesprochen.

Joseph Alois Schumpeter war kein Mann von Bescheidenheit. Er wollte „der größte Liebhaber Wiens, der beste Reiter in Europa und der bedeutendste Ökonom der Welt“ werden. Als Beefsteaksozialisten bezeichnete er Leute, die im Sozialismus ausschließlich die Ausweitung der jährlichen Kaufkraft der Arbeiter/innen sahen.

Wenn wir schon beim Thema Beef sind, möchte ich den unglaublichen Rindfleischverzehr der Argentinier/innen einmal kurz historisch erläutern. Der Grund dafür ist nämlich, dass europäischen Konquistadoren im 16. Jh. Rinder ausgesetzt haben, bevor sie von den Indianer/innen besiegt und verjagt wurden. Als man die Ureinwohner/innen 40 Jahre später unterwarf, fand man ein Riesenland mit einer gewaltigen Anzahl an Rindern vor, die sich ohne natürliche Feinde exponentiell vermehrt hatten. Der Gaucho (Cowboy), seines Zeichens der europäischstämmige Urargentinier, lebte in den Folgejahren als Nomade, der mit dem Gewehr Rinder schoss wenn er Hunger hatte und unter freiem Himmel schlief. Sein Essverhalten ist jenem der heutigen Argentinier/innen nicht unähnlich. Der Rindfleischkonsum betrug in Argentinien in den 1970er-Jahren unfassbare 90 kg pro Kopf (250 Gramm täglich!), heute ist er auf 70 kg gesunken. Das ist immer noch Platz 1 der Welt.

Dieser Wahnsinn, hat meinen Geschmackssinn verändert. Seit Jänner habe ich kein Schweinefleisch mehr gegessen. Im CAINA (meinem Straßenkinderheim), gibt es jeden (!) Tag Fleisch. Sprich Rind und alle zwei Wochen Huhn. Ein einziges Mal, am Tag des Kindes, haben wir aus besonderem Anlass Pizza gemacht, in zehn Monaten der einzige fleischfreie Tag. Selbst ganz kleinen Kindern wird bereits Fleisch verfüttert und im Gegensatz zu den Erinnerungen aus meiner Kindheit, lieben alle Kids im CAINA Rindfleisch.

Anfangs wurde mir gleich klar, dass die Qualität des Fleisches nicht schlecht ist. Ich fand das Essen passabel, aber den Geruch in der Küche ein bisschen abstoßend. Leicht blutiges Rindfleisch das für 50 Personen in Riesenöfen zubereitet wird riecht ein bisschen derb. Nach einigen Monaten, begann sich meine Wahrnehmung des Rindfleisches in kurzer Zeit stark zu verändern und ich entdeckte mich dabei die Speisen immer mehr zu genießen und den Geruch zu mögen. Mittlerweile bin ich süchtig nach Rindfleisch und gratuliere den Köchinnen euphorisch, wenn sie wieder einmal ein besonders gutes Schnitzel, Gulasch, Fleischlaberl oder Ofenfleisch zubereitet haben. Mein Geschmack hat sich zweifelsfrei argentinisiert.


Was ist toll?



Empanadas: Gefüllte Teigtaschen, klassisch mit Faschiertem, mit Schinken und Käse oder mit Zwiebel und Käse. Abwechslungsreich wie ich bin esse ich stets zwei mit Zwiebel-Käse und zwei mit Schinken-Käse. Diese Mahlzeit kostet mich bei Pizza Peppe ums Eck 1,85 Euro. Gut, simpel, preiswert und – im Vergleich zu Hamburgern – einfach zu verzehren.


Choripan: Neben dem Empanada gibt es noch eine außerordentlich erfreuliche Speise der Kategorie Fastfood. Der Hot Dog Argentiniens ist das Choripan. Also ein aufgeschnittenes Brot mit Chorizo, einer verdammt guten Paprikawurst, die vorher gegrillt wird. Das Choripan passt ganz hervorragend zu Bier. Man sollte vermeiden Choripan ohne Bier zu konsumieren und wenn möglich sollte man jedes Biertrinken auch gleich als Gelegenheit für ein Choripan betrachten.


Bife: Auch in Österreich gibt es tolle Steaks, aber hier bekommt man für 4,5 Euro ein köstliches Riesenstück. Ein Freund der mich in Argentinien besucht hat und dessen Namen ich nicht nennen möchte (Hinweis für Insider: er ist laut, hat fast keine Haare mehr und lebt in Preußen) hat vor lauter Begeisterung jeden Tag Mittags und Abends ein solches Steak verdrückt.


Milanesa Napolitana: Die Wörterkombination ist ein Widerspruch, der Italiener/innen in erstauntes Entsetzen versetzt. Ein „naopletanischer Mailänder“ ist so unmöglich wie der Himmel in der Hölle. In Argentinien interessieren die Attitüden der Großeltern nicht mehr. Man isst das sehr dünne Schnitzel (vom Rind versteht sich) mit geschmolzenem Käse und Paradreissauce darüber. Es schmeckt wirklich köstlich.


Dulce de Leche: Diese streichfähige Karamellcreme ist in Argentinien unfassbar dominant. In Mehlspeisen, Torten, Creps, im Eisladen oder beim Frühstücksaufstrich, überall schlägt Dulce de Leche die Wichtigkeit von Schokolade um Längen.


Alfajor: Das wichtigste Biscuit in Argentinien. Es handelt sich um eine Art trockenes Törtchen (ca. 80g) in Schokolade getaucht und selbstverständlich mit Dulce de Leche gefüllt. Ziemlich süß aber wirklich gut. Der Alfajor findet Einsatz beim Frühstück, bei der Nachmittagsjause und ersetzt oft Kekse oder Mehlspeisen. Bei mir findet er überdies als Nachspeise nach jeder Mahlzeit, sowie als willkürliche Zwischenspeise lebhafte Verwendung. Dies dürfte meinen Mitbewohner/innen nicht entgangnen sein, woraufhin man mir zum Geburtstag 90 (!)Alfajores geschenkt hat. Mehr als sechs Wochen hat es leider trotzdem nicht gereicht…


Dany Sahne: Es heißt natürlich nicht so, aber die Produkte vom Typus Dany Sahne sind ausgesprochen köstlich und die Auswahl an verschiedenen Sorten und Anbietern ist erstaunlich groß. Das optimale Zwischendessert, falls man den Alfajor wegen Überfüllung des Magens mit Empanadas ausnahmsweise eine Stunde aufschiebt.


Apfeltorte: Später werden wir noch feststellen, dass die Mehlspeisen die Stärke der Argentinier/innen nicht sind. Eine klare Ausnahme bildet da die argentinische Apfeltorte. Ganz anders als der Apfelstrudel, aber zweifelsfrei eine Delikatesse.


Picada: Die Vorspeisenplatte ist auch etwas Feines. In der bescheidensten Form mit Schinken, Käse und Oliven eine immer wieder gern gesehene Rettung, um bis 23:30 durchzuhalten. Da wird dann endlich warm zu Abend gegessen. Bei Festen und gemeinsamen Abendessen findet man mich pünktlich zu Beginn schon in der Nähe der Picada, der ich bis zum drei Stunden später stattfindenden eigentlichen Abendessen auch stets treu die Wache halte.


Cerveza Artesanal: Spezialbiersorten aus kleinen Brauereien sind wirklich fantastisch. Vor allem wenn es sich um Bier aus Patagonien handelt. Eine Region im Süden, wo irgendwelche versprengten Gruppen von Schotten und Deutschen ihre wohl konservierten kulturellen Fertigkeiten unter Beweis stellen.


Was ist weniger toll?

Abgesehen vom Spezialbier das ziemlich teuer ist, gibt es einige wenige argentinische Standardbiersorten, sie sehr wässrig und wenig voll im Geschmack sind (z.b. Quilmes). Das immer noch recht günstige belgische „Stella Artois“ hat sich daher zu meinem Standardbier entwickelt, was sich auf Grund meines äußerst regelmäßigen Konsums positiv in der Geschäftsbilanz der Brauerei – wenn nicht sogar in der belgischen Ausfuhrstatistik – niederschlagen dürfte.

Es gibt etliche Produkte die anders schmecken, ich habe keine Ahnung wieso. Vor allem Brot, Eier und Gemüse sind bei weitem nicht so geschmackvoll wie bei uns. Das glückliche Freiland-Hendl das aus der österreichischen Fernsehwerbung lugt, ist also möglicherweise mehr als ein Marketingschmäh.


Höchste Vorsicht ist bei Torten geboten. Optisch sind diese üppig bis kitschig, aber geschmacklich enttäuschen sie die Zunge jedes Menschen, der eine Wiener Konditorei schon von innen gesehen hat. Gemäß dem Motto Klotzen nicht Kleckern sind die Torten so mit Zucker und Fett aufmunitioniert, dass sie oft die Genießbarkeitsgrenze überschreiten. Dulce de Leche und fast nicht mehr legale Cremen quellen überall aus dem prachtvollen Monstrum. Statt des Schlagobers gibt es obendrein einen verhärteten Zuckerschaum, der den gefühlten Bombeneinschlag noch einmal potenziert. Dezent ist was anderes


Die legendäre Parilla, also der argentinische Grill, ist meiner Auffassung nach ziemlich überschätzt. Es besteht eigentlich nur darin Rindfleischtrümmer auf einen Holkohlegrill zu legen und abzuwarten. Sämtliche Raffinessen die bei uns selbstverständlich sind, begonnen bei der Marinade, gibt es nicht. Außerdem wird das Fleisch anders geschnitten, ist meiner Meinung nach zu flachsig und kommt geschmacklich letztlich nicht an heimische Barbequeues heran. Zum Glück gibt es aber bei jedem Parilla auch ein Chorcio am Grill, also die zu Beginn erwähnte köstliche Paprikawurst. Und noch etwas schmeckt gegrillt wirklich gut: die argentinische Blutwurst, genannt Morcilla.


Ein völliges Rätsel bleibt mir die Liebe der Argentinier/innen zu einer Süßspeise namens Dulce de Batata, einer Art Süßkartoffelgelee. Sie essen es übrigens mit einem geschmacklosen Weichkäse, was dann endgültig verstört.


Was fehlt?

Was einem als leidenschaftlicher Jausner am meisten fehlt sind Käse und Wurst. Vor allem für Leute wie mich, die trotz Jamie Oliver, neuem Rollenbild und Kochhype noch immer nicht kochen, ist das ein fundamentales Problem. Kauft man nämlich kein Essen auswärts, landet man automatisch bei der Jause. Wie ich in Wien erprobte, kann man sich von der Jause Wochen lang ernähren, Mittags sowie Abends. Man braucht dazu nur ca. alle drei Tage einen Sprung zum Hofer gehen, hat man einen Toaster genügt sogar einmal pro Woche. Bei der argentinischen Auswahl wird es allerdings ein bissl eintönig mit der Jause. Es gibt in Argentinien de facto zwei Käsesorten, eine weiche und eine harte. Beide kommen an den günstigsten Käse vom Hofer geschmacklich nicht heran. Auch die Wurst ist nicht so toll. Die Käse- und Wurstabteilung vom Billa kommt mir mittlerweile vor wie ein unglaubliches Delikatessenparadies und de facto ist sie das auch.

Der Hofer in der Brunnengasse war mein Stammgeschäft und ich fand die Kette immer schon viel besser als ihren Ruf. Hier wird mir klar, was für einen hohen Standard Hofer eigentlich hatte.

Trotz 5700 km Küste gibt es praktisch keinen Fisch. Die Ursache liegt im Eingangs skizzierten Essverhalten punkto Rindfleisch. Es bleibt für Fisch schlicht und ergreifend kein Platz mehr im Bäuchlein.

Was sonst noch fehlt: Es werden deutlich weniger Gewürze verwendet (in Restaurants steht Salz am Tisch aber kein Pfeffer, der hier sehr abgeht) Es gibt weder Feta noch Mozarella. Beim Eis fehlen die Nussorten, die ja eigentlich die besten sind. Ebenso fehlen Kekse, die bis auf einige wüstentrockenen Varianten nicht existieren.


Ein fundamentaler Bestandteil der Küche ist Pizza. Diese halte ich für okay. Sie ist zwar so von Käse und Fett überhäuft, dass man schon während des Essens und spätestens danach schwere Magenprobleme bekommt, aber geschmacklich gibt es immer wieder sehr gute Pizzen. Nicht-argentinische Latinos die in Buenos Aires leben belächeln die argentinische Küche und halten diese für nicht besonders. Böse Zungen unter ihnen meinen, außer Parilla, Pizza und Empanada hätte sie nicht viel zu bieten. Das ist vielleicht übertrieben, aber zu den großen Küchen der Welt zählt die argentinische – diplomatisch ausgedrückt – wohl nicht.