Mittwoch, 28. Oktober 2009

Die Arbeit im CAINA (Teil 3)

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Hier ein paar der entzückenden, handzahmen, höflichen und in jeder Hinsicht zuvorkommenden Besucher/innen des CAINA.

Diesen Eintrag über das CAINA (mein Straßenkinderheim) möchte ich mit einer kleinen Anekdote beginnen. Ein Bursche von 17 Jahren saß kürzlich beim Mittagessen im CAINA neben mir. Als ich ihm auf Nachfrage erklärte, dass ich aus „Austria“ sei, kam nicht die Standardantwort „Ahhh, Australiano?“, sondern zu meiner großen Überraschung die Frage ob ich aus „Viena“ käme. Ich bejahte dies, worauf mir der junge Herr auf Deutsch einen „Guten Tag“ wünschte. Es gibt viele Menschen in Argentinien die Hallo, Dankeschön, Guten Tag oder Tschüss sagen können, aber für gewöhnlich sind das keine Straßenkinder. Ob meiner sichtlichen Erstauntheit erklärte mir der Bursche, dass seine Nachbarin Wienerin gewesen sei. Ich stelle ihn sofort auf die Probe, er konnte ohne Probleme Servus, Bitte und Danke auf Spanisch übersetzen. Es stellte sich heraus, dass die Frau – eine alte Dame – bereits vor einigen Jahren verstorben war. Sie hatte mehrere Jahre neben der Wohnung der Familie des Burschen gelebt und ausschließlich Deutsch mit ihren Nachbarskindern gesprochen. Diese waren jung, aufnahmefähig und hatten offensichtlich passiv einiges verstanden. Wir identifizierten noch ein paar Wörter, bis er mir sagte, sie habe stets einen Satz laut ausgesprochen, wenn es schlecht roch. Ich bat ihn gespannt mir selbigen wiederzugeben und hörte mit vorerst ungläubiger Fassungslosigkeit folgende Laute: „Pfui Deife“

Luis ist sozusagen mein bester Freund unter den Kids, leider wurde er 19 und darf jetzt nur noch einmal pro Monat zu Besuch kommen. Er ist zweifacher Vater mit zwei verschiedenen Mädchen. Mit der 17-jährigen Maria die im September ein Töchterchen von ihm bekommen hat, lebt er jetzt auch mehr oder weniger zusammen.

Es hat mich vor Lachen fast vom Sessel geworfen. Auf die Bitte mehrer anwesender Sozialarbeiter/innen zu erklären was mich so belustige konnte ich nur auf die Unerklärbarkeit dieser Komik verweisen. Wie soll man einer Person die nicht aus Österreich kommt, geschweige den Deutsch spricht das Kuriosum erläutern, von einem 17-jährigen argentinischen Straßenkind in einem Tageskinderheim in Buenos Aires einen dermaßen ur-österreichischen Ausspruch entgegengeschleudert zu bekommen? Wie originell „Pfui Deife“ sowohl im Klang, als auch mit seiner typisch österreichischen Verniedlichung – die in diesem Falle sogar vor dem Satan nicht Halt macht – eigentlich ist wurde mir erst durch dieses Erlebnis klar. Da der Ausspruch heute in Österreich nicht gerade zum Standardrepertoir des Jugendslang der späten 2000er-Jahre gehört, habe ich für mich beschlossen ihn ob seines spezifischen Witzes bewusst in meinen aktiven Wortschatz zu integrieren. Die alte störrische Wienerin, die sich – wie viele Menschen aus ganz Europa (vor allem die Italienerinnen) – bis zum Schluss geweigert hat ihre Muttersprache abzulegen, hat es sich verdient ihren antiquierten aber großartigen Ausdruck nicht aussterben zu lassen.

Kenntnisse der Geographie finde ich - wie dem aufmerksamen Teil meiner Leser/innen EVENTEULL schon aufgefallen ist - besonders wichtig. Daher habe ich dem CAINA zwei Landkarten mit zwei Erdteilen geschenkt, die zufällig mit jenen übereinstimmen die mich besonders interessieren. Dafür kann man jetzt Geographie-Ratequiz machen.


Der heitere Einstieg ist in Wirklichkeit nur ein Köder für diesen recht stark statistisch unterminierten Artikel. Vielen Volkswirt/innen sind Statistiken ja lieber als jeder Erklärungstext, für den weniger auf Zahlen fokussierten Teil der Leserschaft habe ich den Grafiken jedoch einige kompakte Erklärungen hinzugefügt, die wie saftige Bratenhäppchen ganz sanft auf der Zunge zergehen.

Erst einmal möchte ich zwei Herren vorstellen, die für eine Privatfirma im städtischen Dienst jeden Tag ins CAINA kommen und Lebensmittel bringen. Der eine älter, der andere jünger, aber beide kräftig, bärtig und etwas verschwitzt, was mich und die Köchinnen nicht davon abhält sie jeden Tag mit dem obligatorischen Wangenküsschen und einem „hola amigo“ – wir kennen uns ja nicht beim Namen – zu begrüßen. Die beiden Herren haben eine Liste, mit 14 „Comedores“ (öffentliche Küche) der Zone Südost, die sie jeden Tag beliefern. Ihr nicht zu verachtender Körperumfang lässt darauf schließen, dass sie auch in den anderen 13 Comedores – so wie bei uns – ein kleines Imbisshäppchen verschlingen.

Rosa und ich beim Abwaschen. Rosa kommt aus Lanus im südlichen Vorortegürtel. Nach der Arbeit im CAINA schuftet sie im Pizzalieferladen ihres Mannes. Ebenso an den Wochenenden. Einen freien Tag hat Rosa nie.

Die beiden haben mir mitgeteilt, dass es in ihrer Firma insgesamt acht „Camiones“ (Lastautos) gibt, sowie vier weitere Firmen die Lebensmittel für öffentliche Einrichtungen ausliefern. Angenommen die anderen Firmen haben auch acht Camiones und beliefern 14 Comdores, ergibt eine grobe Überschlagsrechnung, dass die Stadtregierung an rund 560 Orten öffentlich warmes Essen ausgibt, inklusive Spitäler, Horte etc. Einen städtischen Beamten der kürzlich zur Kontrolle der Lebensmittellieferung kam habe ich gefragt, wie viele dieser Orte dezidiert der Armenausspeisung dienen. Er sagte alles zusammen (Kinder, Kleinkinder, Alleinerzieherinnen sowie normale Comedores für jedermann) seien es mindestens 300. Das ist auf den ersten Blick für die Bundeshauptstadt ohne Vororte (ca. 3 Millionen Einwohner/innen) gar nicht so wenig, allerdings stehen dem alle Menschen gegenüber die in Buenos Aires im Elend leben. Das sind nach meinen bisherigen Informationen, Einschätzungen und Erfahrungen nicht mehr als fünf Prozent der Bevölkerung. Das stimmt auch mit der für 2008 geschätzten Zahl von 167.000 Menschen die in „Villas“ (Elendsviertel) leben recht genau überein. Natürlich sind nicht alle Menschen in Villas auf die öffentliche Ausspeisung angewiesen, trotzdem kämen gemäß dieser Zahlen auf jeden Comedor rund 550 Menschen. Ausgehend vom CAINA rechne ich dass pro Comdedor durchschnittlich weniger als 50 Menschen täglich essen (2008 waren es im Schnitt 40). Diese Zahl ist weit entfernt von 550, allerdings kommen nicht immer die gleichen Leute. In den letzten Jahren suchten jährlich rund 1000 verschiedene Kinder das CAINA auf. Wenn wir diese Zahl als Richtwert auf alle angenommenen 300 Comedores hochrechnen, stehen den 167.000 Bewohner/innen von Elendsviertel rund 300.000 Menschen gegenüber, die zumindest einmal jährlich an einer öffentlichen Ausspeisung teilnehmen. Ich betone nochmals, dass es sich hier um Einschätzungen und Daumen mal π-Rechnungen handelt, aber zumindest die Größenordnungen scheinen mir recht plausibel.

Die Anzahl von Mädchen auf der Straße und im CAINA steigt. Das ist nicht nur ein schlechtes Zeichen, es heißt auch, dass sich weniger Mädchen Gewalt und sexuellen Missbrauch, vor allem von ihren Vätern, gefallen lassen.

Im Folgenden sichten wir einiges an statistischem Material, das sich unmittelbar auf das CAINA bezieht. Im Jahr 2008 besuchten durchschnittlich 40 Kinder pro Tag das CAINA, insgesamt kamen von Jänner bis September 779 verschiedene Kinder. Die Daten für 2008 gehen aus mir unerklärlichen Gründen nur bis September, insgesamt werden es im Vorjahr wohl rund 1000 Kids gewesen sein. Aus Tabelle 1 geht hervor, dass das Aufsuchen des CAINA (das seit 1992 existiert) sehr stark konjunkturabhängig ist. Die soziale Situation spitzte sich schon vor der Krise zu und führte zwischen 1997 und 2001 zu einer Verdoppelung der Kinder die das CAINA aufsuchten. Nach der Zusammenbruch 2001 stieg die Anzahl nochmals um 50% auf den bisherigen Rekordwert von 1438 Besucher/innen im Jahr 2003. In den wirtschaftlich prosperierenden Folgejahren nimmt der Zustrom wieder deutlich ab. Unabhängig von der Konjunktur zeigt sich, dass die Besucher/innen des CAINA deutlich weiblicher wurden und ihren Anteil von 1997 bis 2008 um fast zehn Prozentpunkte von 15,3 auf 24,5 Prozent steigerten. 2006 lag ihr Anteil sogar bei 28,5 Prozent.

Tabelle 1: Gesamtzahl der versorgten Kinder pro Jahr sowie Geschlechtsstruktur


Die Alterstruktur der Kinder ist in Tabelle 2 aufgeschlüsselt, auch hier zeigt sich ein konjunkturunabhängiger Trend. Das Durchschnittsalter der Kids die das CAINA besuchten stieg von 1997 bis 2008 von 14,4 Jahre auf 15,4 Jahre um exakt ein Lebensjahr an. Das ist ein massiver Anstieg, in der Tabelle ist auch aufgeschlüsselt dass es vor allem die 16 bis 18-jährigen sind, die zugenommen haben, während die 12 bis 15-jährigen deutlich weniger wurden.

Tabelle 2: Altersstruktur der Kinder

Interessant ist auch wo die Kinder ihren letzten Wohnort angeben, dies ist in Tabelle 3 aufgeschlüsselt. So gut wie alle Kinder wohnen in Buenos Aires Capital Federal (ohne Vorstädte). Den größten Brocken (13%) macht der ursprünglich arme, aber touristisch und künstlerisch immer mehr durchsetzte Schick-Bezirk San Telmo aus, an dessen Grenze sich auch das CAINA befindet. Gefolgt von Retiro (12%), einem ganz zentral gelegenen Bezirk der neben besonders noblen Wohngegenden auch die Villa 31 beherbergt, das größte Elendsviertel des Zentrums. Danach folgt der als besonders gefährlich geltende Bezirk Constitución (9%), der im Westen unmittelbar an San Telmo angrenzt.

Tabelle 3: Letzter von den Kindern angegebener Wohnort

Ein völlig anderes Bild ergibt sich, wenn man schaut wo die Kinder ursprünglich herkommen. Sie leben zwar de facto alle in Capital Federal (ohne Vororte, 3 Millionen Einwohner/innen), kommen aber vorwiegend aus dem 10-Millionen Einwohner/innen starken Vorortegürtel (Gran Buenos Aires). 2008 kamen nur 7,7 Prozent der Kids ursprünglich aus Capital Federal, aber 81,7 aus dem Vorortegürtel. Dabei führen interessanterweise die sehr weit außen liegenden Randbezirke des buenosairschen Agglomerationsmonsters, nämlich Quilmes (Süden) und Moreno (Westen). 7,7 Prozent kamen aus weiter entfernt liegenden Teilen der Provinz Buenos Aires, 2,8 Prozent aus dem „Interior“, also aus Provinzen außerhalb der Provinz Buenos Aires. Nur 0,1 Prozent, sprich nur eine einzige Person aus außerhalb Argentinien. Obwohl es geschlossene bolivianische und peruanische Stadtviertel gibt, habe ich noch kein einziges völlig indigenes Kind im CAINA angetroffen (die Mehrzahl der Kids hat allerdings irgendeinen nicht-europäischen Einschlag). Wo die Kids der meist auch im oder am Rande des Elend lebenden Migrant/innen hingehen weiß ich nicht, ins CAINA jedenfalls nicht.

Noch eine Gegebenheit scheint mir interessant. Meine Lieblingsköchin Maria lebt in La Boca, jenem Stadtteil der neben dem vielleicht berühmtesten Fußballklubs Argentiniens auch etliche soziale Probleme beheimatet. La Boca liegt ganz am Südostrand der Hauptstadt und gilt als besonders gefährlich, obwohl es oder keine Villa (Slum) gibt. Maria ist 39 und wurde kürzlich Großmutter. Ihr 17-jähriges Töchterchen hat ein Baby bekommen. Das ist nichts außergewöhnliches für das soziale Umfeld in La Boca, an dessen unmittelbarer Grenze das CAINA liegt. Auch die Kinder im CAINA kann das nicht verwundern, sind doch etliche 17-jährige Mädchen Stammgäste die bereits doppelte Mütter sind. Auch Celia aus der „Roperia“ (Gewandabteilung) lebt in La Boca, ebenso wie Nora. Letztere arbeitet erst seit ein paar Jahren im CAINA, ihr 22-jähriger Sohn der jetzt als Pizzalieferant beschäftigt ist kennt den Laden schon wesentlich länger. Er war selbst sechs Jahre lang Straßenkind. Worauf ich hinaus will ist der Umstand, dass die Straßenkinder offenbar nicht ausschließlich aus den Villas (Slums) kommen, sondern ihre Gewohnheiten und Lebenswesen mit fließenden Grenzen bis tief in die Arbeiterschicht verankert sind.

Damit man mich von den Kindern unterscheiden kann trage ich Bart und Hemd. Täte ich das nicht, man hielte mich in CAINA ob meines jugendlichen Aussehens für ein „chico de la calle“ und ich dürfte die Küche – meinen Arbeitsplatz – gar nicht betreten.

Zum Abschluss noch eines der Lieder, die quasi täglich im Caina gespielt werden: Quiero ser tu amigo nada más

Montag, 19. Oktober 2009

Was ist amerikanisch an Argentinien?

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Amerikanisch ist ein schwieriger Begriff. Die Menschen in Argentinien sind zu Recht angefressen, wenn man von Amerikaner/innen spricht, und die USA meint. Immerhin leben 2/3 der 900 Millionen Amerikaner/innen nicht in den Vereinigten Staaten. Das sollten US-Bürger/innen und Europäer/innen eigentlich bei ihrem Sprachgebrauch berücksichtigen. In Argentinien gibt es neben dem tendenziell abwertenden „Yankees“ (argentinisch: „Schankies“) zwei wichtige Begriffe für die US-Bürger/innen. Das sehr treffende „estadounidense“ und das aus der Sicht Mexikos und Kanadas auch nicht ganz gerechtfertigte „norte americano“.

Mit der Fragestellung „Was ist amerikanisch“ an Argentinien meine ich auf den ersten Blick „US-amerikanisch.“ Es gibt aber durchaus Parallelen, die wohl für mehrere Staaten Amerikas zutreffen und daher so etwas wie „amerikanische Gemeinsamkeiten“ konstituieren. Dazu aber noch später. In Folge vergleiche ich die einzigen beiden amerikanischen Staaten, die ich persönlich kenne. An anderer Stelle habe ich bereits über die bewusste kulturelle Abwehrhaltung Argentiniens gegenüber den USA berichtet. Trotzdem teilen die beiden Nationen einige Gemeinsamkeiten. Welche aus europäischen Augen gesehen „amerikanischen“ Charakteristika finden sich also auch in Argentinien:


Die Distanzen: Eine dreistündige Autofahrt von Wien nach Salzburg ist für unsereins eine Reise. Anders in den USA und Argentinien, hier sind achtstündige Autofahrten um am Wochenende die Oma zu besuchen keine Besonderheit. Wenn ich erzähle, dass die nächstgelegene Hauptstadt von Wien nur 50 km. entfernt liegt, sind die Menschen einigermaßen fassungslos. Überhaupt ist von Wien aus gesehen vieles für amerikanische Verhältnisse extrem nahe:

Bratislava: 50 km
Budapest: 200 km
Prag: 250 km
München: 350 km
Venedig: 450 km
Berlin: 500 km
Mailand: 600 km
Paris: 1.000 km
Kiew: 1050 km

1.000 km entspricht der Strecke Buenos Aires – Mendoza. Damit hat man nicht einmal noch das Land von Ost nach West durchquert. Von den USA ganz zu schweigen, 1.000 km von New York erreiche ich nicht einmal Chicago. Keine Sorge, die Distanzen sind das einzige Element meiner Aufzählung, das von Google earth unterminiert wurde, die weiteren Beispiele kommen ohne geographische Details aus.




Der Platz: Direkt mit den Distanzen geht der Umstand einher, dass unfassbar viel Platz besteht, der trotz exzessiv großzügiger Nutzung bei weitem nicht verwendet werden kann. Was die typischen Postkartenansichten von Buenos Aires verschleiern ist die Tatsache, dass der Großteil von Capital Federal (Hauptstadt ohne Vorstädte) aus ein- bis zweigeschossigen Häusern besteht. An der Ostseite und bis hinein in die geometrische Stadtmitte gibt es viele mehrstöckige Bauten und Hochhäuser. Der gesamte Rest sieht aus wie eine Kleinstadt die kein Ende nimmt. Wenn in der Hauptstadt schon so mit Platz geurasst wird, kann man sich vorstellen, wie es in kleineren Städten und in Dörfern aussieht. Dort ist alles sehr großzügig angelegt, im Dorf steht nicht Haus neben Haus sondern Garten neben Garten. Es ist erstaunlich, dass das Hochhaus vor über 100 Jahren in (Nord)amerika seine Erfolgsgeschichte begann. Eigentlich wäre diese Bauweise im dicht besiedelten Europa viel zweckmäßiger.

Abgesehen vom Osten und der Mitte sieht Buenos Aires über Quadratkilometer so aus. Wie ein Derfel.


Die Freiheit: Die Distanzen und der Platz bedeuten natürlich ein Freiheitsgefühl und auch eine real existierende Freiheit, die es in Europa de facto nicht gibt. Die hohe Bevölkerungsdichte bei uns erfordert auch in ländlichen Gebieten ein komplexes Regelwerk, dass das Zusammenleben von vielen Menschen auf wenig Raum ordnet. In Österreich gibt es z.B. nur ein paar Hektar bewusst erhaltenen Urwald. 99% der Flächen sind Kulturlandschaft, also vom Menschen kontrolliert und verwendet. Bei uns ist jedem Quadratmeter Land ein behördlich kontrollierter Nutzen zugeordnet. Wo man Gehen, Reiten oder Mountainbike fahren darf ist exakt reguliert. Wie die Dachneigung aussehen muss um das Ortsbild nicht zu verschandeln ist ebenso vorgeschrieben wie die exakte Mülltrennung (zumindest in NÖ). Was die Landwirte anbauen wird von der EU per Satellit kontrolliert. Anders in Argentinien (und in den nonurbanen USA): So wie man sich die Route 66 vorstellt, so sieht auch der Großteil Argentiniens aus. Es ist die einsame Freiheit, die man in US-Roadmovies erahnt, ein Gefühl, das sich wahrscheinlich am besten auf Trucks oder Motorrädern erleben lässt. Dort wo fast nichts ist, gibt es auch fast keine Regeln. Weit weg von staatlichen Autoritäten sind Verkehrsregel, Bauordnung oder Waffengesetz überflüssig. Ob ich dort draußen reite, schieße, segelfliege, paragleite, mit 180 km/h rase, eine Blechhütte aufstelle, meinen Giftmüll vergrabe, einen Joint rauche oder nackt über meinen Acker laufe, ist einfach egal. Die Kehrseite dieser Freiheit ist natürlich der Umstand, dass das Faustrecht in solchen Gegenden eine größere Rolle spielt als in urbanen Gebieten. Ich kann diese Mentalität nur versuchen zu erahnen, aber die Cowboy-Redneck-Republikaner-Waffenlobby-Identität dürfte eng mit dieser Auffassung von Freiheit zusammenhängen.


Der Gaucho (argentinischer Cowboy) als Symbol für Freiheit und Wildheit weitab der Zentren der Zivilisation.


Die Rinder: Argentinien führt im Rindfleischkonsum mit Abstand vor Australien und den USA. Ich weiß nicht ob es mit der unendlichen Weidefläche zu tun hat, dass Rinder und vor allem das Rindfleisch in den USA und in Argentinien eine wesentlich größere Rolle spielen als bei uns. Jedenfalls ist der Fleischkonsum in beiden Staaten höher als in Europa und Rind das mit Abstand wichtigste Fleisch. Der Rindfleischkonsum betrug in Argentinien in den 1970er-Jahren unfassbare 90 kg pro Kopf (250 Gramm täglich!), heute ist er auf 70 kg gesunken. In Argentinien ist „Carne“ (Fleisch) gleichbedeutend mit Rindfleisch, Schweinefleisch spielt eine total untergeordnete Rolle.

Die Schachbrettstädte: Was Wiener Neustadt schon im Mittelalter vorexerzierte, haben die Städte Amerikas in der jüngeren Neuzeit exakt durchgezogen. Die Städte Argentiniens – allen voran Buenos Aires – sind schachbrettartig angelegt. Das ist ein triftiger Grund nicht in Amerika zu leben. Es gibt keine Plätze, keine Gasserln, kaum Diagonalstraßen und somit wenig Dreieckshäuser im spitzen Winkel zweier Straßen. Überdies ist der Autoverkehr unerträglich dominant, als wäre das Verkehrskonzept ausschließlich aufs Auto ausgerichtet. Jede vierte Straße ist eine fünf- der mehrspurige Riesen-Avenida Natürlich gibt es keine Straßenbahn sondern nur dröhnende Autobusse. Sämtliche Dörfer und Städte Argentiniens sind schachbrettförmig angeordnet. Schachbrettstädte mögen – so wie New York oder Buenos Aires – großartig und beeindruckend sein. Ihnen fehlt aber das lieblich-verspielte. Wer sich in Städten vom Typus Florenz, Salzburg oder Brügge so richtig wohl fühlt, wird es in Amerika schwer haben mit dem Stadtbild warm zu werden.

Die Ausnahme von der Regel: Die Lieblingsstraße in meinem Viertel heißt Calle Oruro. Ich mag sie weil sie klein ist, gepflastert, weil keine (5000 Dezibil) Autobusse durchfahren, aber vor allem weil es eine Diagonalstraße ist.


Das ist mein Stammcafé. Obwohl die „Media Lunas“ (Kipferl) immer alt schmecken komme ich hier her. Vor allem weil es am Eingang der Calle Oruro liegt und in einem von mir geliebten Dreiecksgebäude untergebracht ist. Links in der Ecke der Kiosk, wo ich immer mein Argentinisches Tageblatt kaufe



Der Individualverkehr: Genauso wie die Stadt Buenos Aires eine Autostadt ist, kann man ganz Argentinien als Autoland bezeichnen. Auch wenn es noch nicht überall Autobahnen gibt, die Überlandstraßen sind perfekt asphaltiert und es gibt keine Schlaglöcher. Die gewaltigen Trucks sehen aus wie in den USA und die Spritpreise sind – auch wegen eigener Off shore Erdölförderung – sehr niedrig. Überdies ist das Eisenbahnnetz ähnlich wie in den USA nur mehr rudimentär vorhanden. Hat man kein Auto, reist man im Mikro (Überlandbus).

Die Wertigkeit alter Bausubstanz: Altbauten (alt bedeutet in Argentinien Gebäude aus der Jahrhundertwende 1900) haben keinen besonders hohen Stellenwert in Buenos Aires. In Wien lebt man hingegen am liebsten in einem sanierten Altbau, modernere Hochhausanlagen befinden sich meist in Randlagen und haben einen geringeren sozialen Statuts. So etwa Gemeindebauten, vor allem jene die nach 1945 erbaut wurden, in jenen Jahrzehnten als Funktionalität das einzig relevante Kriterium war und so hässlich gebaut wurde wie nie zuvor. In Buenos Aires sind die modernen Hochhäuser zentraler gelegen und optisch ansprechender als jene in europäischen Vorstädten. Sie gelten als sehr schick. Die zwei oder sogar nur eingeschossigen Altbauten sind oft heruntergekommen und nicht sonderlich beliebt. Der bautechnisch alte Süden der Stadt ist tendenziell arm bis prekär, während der bautechnisch modernere Norden wohlhabend bis elegant ist. Noch immer werden alte ein bis zweigeschossige Häuser abgerissen um ein modernes Hochhaus zu errichten. Natürlich ist es unfassbar viel profitabler auf der gleichen Grundfläche ein Hochhaus anstatt eines 2-Familienhauses stehen zu haben. Die Margen öffnen der Korruption Tür und Tor. Das Denkmalamt mag die mächtigste Behörde Roms sein, in Argentinien hat es wenig zu melden. Auch in den USA hat sich die Liebe zur „alten“ Bausubstanz seit je her in Grenzen gehalten. Amerika ist im Bezug auf seine architektonische Geschichte sehr pragmatisch.

Hier ein paar eingeschossige Altbauen in meiner Straße (Urquiza), wie gewöhnlich ziemlich heruntergekommen.


Die bewachten Wohngegenden: Wie in den USA gibt es in Argentinien Wohngegenden die mit Stacheldraht umzäunt sind, die von bewaffneten Sicherheitsleuten bewacht werden und deren Zufahrt nur durch eine mit Schranken gesicherte Straße möglich ist. Einen Nachmittag habe ich in einem solchen Reichenghetto verbracht. Der Charme dieses "Country" bewegte sich zwischen Disney-Kitsch und meinen Erinnerungen an den Eisernen Vorhang in Ungarn. In unmittelbarerer Nähe zu diesem Country befand sich eine gewaltige „Villa“, also ein slumähnliches Elendsviertel. Die unfassbare soziale Schieflage rächt sich an den Wohlhabenden indem in den besten Wohngegenden die Kriminalität besonders hoch ist. Obwohl Buenos Aires voll von Kiwera ist, hat die Stadtregierung dieser Tage eine zusätzliche Stadtpolizei ins Leben gerufen. Die Rechten werden immer glauben, dass Kriminalität am besten mit einem noch gewaltigeren Sicherheitsapparat bekämpft werden kann. Dieser Irrglaube kostet – wie zahlreiche Raubmorde zeigen – auch immer wieder Mitgliedern ihrer exklusiven Gemeinschaft das Leben.


Ein Haus in einem Country. Vorne Swimmingpool, hinten Stacheldraht.


Das bombige Essen: Eine Parallele zwischen den USA und Argentinien drückt sich in der Esskultur aus. Über den Rindfleischkonsum wurde bereits gesprochen, wesentlich verblüffender sind jedoch die Ähnlichkeiten in der Zubereitung von Essen. Beide Küchen haben ein Faible für das Undezente und Unraffinierte. Riesige Fleischstücke, aber keine Marinade, massenhaft Käse auf der Pizza, jedoch kaum Gewürze bei der Essenszubereitung, stark gesalzene Speisen aber kein Pfeffer am Tisch, inflationäre Verwendung von Zucker der etwa Torten de facto ungenießbar macht, bei gleichzeitiger völliger Absenz von Esprit. Dass der Mangel an Feingeschmack durch bombige Rezepte ersetzt wird, habe ich auch in den USA so empfunden.

Achtung, der Schein trügt. Nicht hinein beißen! Die Massen an Zuckerschaum sind selbst für große Freunde des Süßen zu geil.


Von einigen der genannten Charakteristika weiß ich aus Erzählungen, dass sie in anderen amerikanischen Staaten ebenso anzutreffen sind. Vor allem die Distanzen und der Platz. Auch die abgeschotteten Reichenviertel in unmittelbarer Nähe zum Elend sind in etlichen amerikanischen Staaten Realität, wobei ich intuitiv annehme dass etwa Kanada oder Kuba aus der Reihe fallen. Was die Küche betrifft muss man noch vorsichtiger sein. Von mehreren Seiten habe ich gehört, dass in Kolumbien, aber vor allem in Peru mit wesentlich mehr Raffinesse und Liebe zum Detail gekocht wird. Ein Abendessen in einem peruanischen Gasthaus lässt mich annahmen, dass diese Einschätzung von einem beträchtlichen Wahrheitsgehalt ist.